Bartimäus hielt sich für blind. Er hielt sich auch für arm—so arm, daß er täglich am Wege saß und bettelte. Auch seine Bekannten hielten ihn für blind und arm. Wahrscheinlich war Bartimäus schon jahrelang auf demselben Platze an der Straße gesessen, und aus diesem Grunde glaubte er, es sei sein rechtmäßiger Platz. Warum sollte er eine Änderung vornehmen? Was konnte er sonst tun? Vielleicht war er, soweit er zurückdenken konnte, als blinder Bettler dort gesessen und jetzt konnte er unter den Umständen anscheinend nichts anderes tun. Außerdem war es viel leichter, jeden Tag den gewohnten Gang zu gehen—einfach dazusitzen und sich gemeinsam mit denen, die ähnlich dachten wie er, mit seiner Blindheit und Armut abzufinden.
Und doch wünschte er zweifellos nicht blind zu sein. Er hatte von einem Manne mit Namen Jesus von Nazareth gehört, von dem es hieß, er könne Blindgeborene heilen. Aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, würde es ihm wohl kaum nützen: Blindheit schien dem Bartimäus sehr wirklich. Er war sicher, daß es nicht anders sein konnte. Für ihn waren Blindheit und Armut selbstverständlich, und konnte es einen größeren Beweis geben als sein eigenes Empfinden? Und doch wünschte er sehen zu können: könnte er doch nur mit diesem Manne Jesus sprechen!
Und dann war eines Tages ein Getümmel auf der Straße. Ein Stimmengewirr ließ erkennen, daß sich etwas Außergewöhnliches ereignete, und Bartimäus hörte sagen, daß gerade dieser Jesus von Nazareth vorüberkäme. Urplötzlich wurde die Hoffnung in ihm lebendig, und er rief: „Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich mein!” Aber die Leute in seiner Umgebung, die an seine Blindheit glaubten, hießen ihn schweigen. Sie erinnerten ihn vielleicht daran, daß er nur ein blinder Bettler sei, und daß Jesus zu sehr in Anspruch genommen sei, zu ihm zu kommen. Aber dies trieb Bartimäus nur zu noch größerer Anstrengung an, und er rief noch viel lauter, so daß „Jesus stille stand und ihn rufen ließ”. Dann hörte Bartimäus, wie Freunde zu ihm sagten, er solle getrost sein, denn Jesus habe ihn gerufen; und Bartimäus warf sein Kleid von sich, stand auf und ging zu Jesus. Obgleich er blind war, fand er, als er den Ruf vernahm, seinen Weg dorthin, wo er glaubte, daß ihm geholfen werden könne.
Bartimäus wußte wahrscheinlich wenig von der göttlichen Kraft, die die Blinden heilt; er hielt nicht inne, um die Lage zu zergliedern oder um eine Erklärung zu bitten. Er wußte nur, daß er lange in Finsternis gesessen war, und daß sich hier etwas bot, was Hilfe versprach. Ein großes Sehnen, sehend zu sein, erfüllte sein Denken, und als Jesus ihn fragte, was er für ihn tun solle, rief Bartimäus aus tiefstem Herzen: „Rabbuni, daß ich sehend werde”. Und alsbald ward er sehend und folgte Jesus nach auf dem Wege, frei von dem alten Hindernis.
Was geschah, als Bartimäus sehend wurde? Blindheit und Armut verschwinden nicht einfach durch etwas, was zufällig „geschieht”. Bartimäus wurde durch ein bestimmtes Gesetz geheilt, ein Gesetz, das die Kraft hat, diese beiden Zustände zu überwinden. Was für ein Gesetz ist das? Die Antwort lautet: das Gesetz der Liebe! Aber, wendet jemand ein, ich weiß nicht, wie ich dieses Gesetz finden oder anwenden kann. Wenn dem so ist, sitzen wir dann nicht auch wie Bartimäus in Finsternis am Wege sterblicher Begrenzung, hüllen uns fest in unsere Lumpen falscher, menschlicher Annahmen und betteln um menschliche Hilfe zur Linderung der Folgen unseres blinden Mißverständnisses und unserer blinden Unwissenheit? Ja, wir haben uns für arm und krank gehalten, wir haben darüber geredet, und unsere ebenso denkenden Bekannten haben uns auch für arm und krank gehalten. Wir denken schon so lange so, daß wir es für ganz natürlich halten. Es scheint unter den Umständen das einzige, was wir tun oder sein können, und so sitzen und betteln wir blindlings weiter. Wir wissen nicht, wie wir es ändern können.
Aber das ist nicht die Wahrheit. Es ist so wenig die Wahrheit über uns, wie es die Wahrheit über Bartimäus war. Zweifellos hat jedes Menschenherz den Wunsch, den Weg aus der Finsternis der Sünde, der Krankheit und des Mangels heraus zu finden. Dieser Wunsch wird zur Hoffnung, wenn eines Tages ein Freund zu uns sagt, wir sollen getrost sein, da der immer gegenwärtige Christus uns zur Wahrheit kommen heiße. Ein großes Verlangen nach geistigem Verständnis durchflutet unser Denken, und aus der Tiefe bitterer Erfahrung rufen wir: „Erbarme dich mein!”
Das altgewohnte falsche Denken kann uns nicht mehr zurückhalten, noch kann es uns überzeugen, daß der Christus uns wegen unserer bisherigen Unkenntnis der Wahrheit zurückweisen werde. Indem wir unser fadenscheiniges Gewand—falschen Schutz und Halt—wegwerfen, erheben wir uns und treten, obwohl wir nur schwach erkennen, daß „bei Gott alle Dinge möglich sind”, in die Gegenwart des Christus. Man braucht nicht zu warten, bis man alles über die Christliche Wissenschaft gelernt hat, noch ist es im Augenblick nötig, daß man sich ihre ganze Lehre erklären lasse. Das große Sehnen nach Befreiung von Schmerz und Leid und Krankheit erfüllt unser Denken, und wenn unsere erwachte Hoffnung in Christus fragt, was wir haben möchten, dann steigt aus der Tiefe menschlicher Not die ernste Bitte auf: „Rabbuni, daß ich sehend werde”. Und der Christus, die Wahrheit, sagt uns so ruhig und so einfach, daß es durchaus möglich sei, daß wir sehend, uns der geistigen Erkenntnis bewußt werden, die Gott nur als Kraft, Substanz und Intelligenz, als die ewige Quelle alles Guten sieht.
Bei alledem ist nichts anderes „geschehen”, als daß unser Denken sich geändert hat. Aus dem Glauben ist Verständnis geworden; die sterbliche, materielle Auffassung von Verarmtsein, Betteln, Tadeln, von Sünde, Krankheit und Unbefriedigtsein hat sich einigermaßen zur Erkenntnis der Wahrheit unseres Seins und unserer Gottessohnschaft gewandelt, zum Wissen, daß wir durch Widerspiegelung alles besitzen, was Gott ist, zum Wissen, daß der Mensch geistig, das Ebenbild der Allmacht, ist.
Unsere geliebte Führerin Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, hat es möglich gemacht, daß jeder sich von der sterblichen Ähnlichkeit mit dem blinden Bartimäus befreien kann. Auf Seite 368 des christlich-wissenschaftlichen Lehrbuchs „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” schreibt sie: „Wenn wir dahin kommen, daß wir mehr Glauben an die Wahrheit des Seins haben als an den Irrtum, mehr Glauben an Geist als an die Materie, mehr Glauben an Leben als an Sterben, mehr Glauben an Gott als an den Menschen, dann können uns keine materiellen Voraussetzungen daran hindern, die Kranken zu heilen und den Irrtum zu zerstören”.
