Die im Gefüge der menschlichen Gesellschaft, wie man es nennen kann, sich vollziehenden bedeutenden Änderungen sind so durchgreifend, daß man vom Anbrechen einer neuen Zeit sprechen kann. Der Durchschnittszuschauer hält dies vielleicht für die Folge der Entwicklung oder eines dem menschlichen Wissen verborgenen sogenannten Schicksals. Da der Christliche Wissenschafter das Wesen Gottes einigermaßen verstehen gelernt hat, erkennt er in diesen Veränderungen das Wirken der göttlichen Kraft im Denken der Menschen. Durch die ganze Geschichte hindurch war ein gewisses Maß von Erkenntnis — und folglich von Offenbarwerdung — der Kraft Gottes in den Weltangelegenheiten, und seit Mary Baker Eddy die Christliche Wissenschaft entdeckt hat, hat das rechte Gottesverständnis beispiellos zugenommen. Die Christlichen Wissenschafter finden, daß dieses geistige Verständnis von praktischem Wert ist, daß es beim Heilen von Krankheit, beim Überwinden von Sünde und allen anderen Begrenzungen unvergleichlich mächtig ist. Das so geistig erleuchtete menschliche Denken ist in den letzten fünfzig Jahren weiter vorwärts gekommen als in irgend einem früheren Zeitabschnitt von gleicher Dauer. Man braucht sich also nicht zu wundern, daß ein solcher Wandel in der Welt des Denkens in einer sich immer rascher ändernden Außenwelt zutage tritt.
In unruhigen Zeiten hören die Menschen meist aufmerksamer als gewöhnlich auf die Worte derer, die den Anspruch erheben, klar zu sehen; und wenn diese Seher etwas von der zugrunde liegenden Daseinswirklichkeit verstehen, können ihre Darlegungen von wirklichen Wert sein. Die Bibel enthält viele Berichte über Völker in Aufruhr; sie ist auch reich an göttlich eingegebenen Weissagungen, deren Wert in dem Maße geschätzt wird, wie solche Aussprüche das rechte Verständnis der Gottheit erkennen lassen. In diesem Lichte sind Christi Jesu Worte von größerer Bedeutung als die Worte jeder andern geistig ausgerüsteten Person in der Bibel. Er erklärte: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden”. Zweifellos sprach er von der materiellen Daseinsauffassung. Bei jener Gelegenheit wandte sich der Meister an seine Jünger, woraus hervorgeht, daß sein Überwinden der Welt ein Beweis war, den auch andere, die seine Lehre verstehen, erbringen können.
Jesus nahm das Wirken der göttlichen Kraft in der menschlichen Erfahrung durch Gottes mächtige Vaterschaft wahr, und in unserer Zeit erhöhte Mary Baker Eddy die Bedeutung des Christentums dadurch, daß sie Gott als zärtliche Mutter enthüllte. So wurde ihr die göttliche Tatsache geoffenbart, daß Gott, der Vater-Mutter, nicht die geringste Spur von Bösem, Unvollkommenheit oder Begrenzung hegt oder zuläßt, eine Tatsache, die die Christliche Wissenschaft von Grund aus von allen anderen Religionen und Weltanschauungen trennt. Es war daher unvermeidlich, daß die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft dazu geführt wurde, Gott als das göttliche Prinzip alles tatsächlichen Seins zu erkennen und die unendlichen Möglichkeiten der praktischen Anwendung des immer wirkenden, immer feststehenden, immer zugänglichen, unveränderlichen, unparteiischen, allerhabenen Gesetzes des Guten in menschlichen Angelegenheiten zu sehen. Dieses Gesetz bewirkt nur Segnungen; es befaßt sich nie mit Strafen, Verdammen oder Zerstören.
Alle, die diese wissenschaftliche Wahrnehmung der göttlichen Wirklichkeit erlangen, beginnen die daraus folgende Unwirklichkeit der Unvollkommenheit, des Bösen, der Sünde, der Krankheit und des Todes — ja, alles dessen, was nicht mit den geistigen Kennzeichen des vollkommenen Prinzips übereinstimmt — zu erfassen. Und sie erkennen die Dinge Gottes, die richtigen Ideen, die Wirklichkeiten ihrer eigenen Wesensart klarer. Ein solches göttlich durchdrungenes Bewußtsein erfährt immer weniger Leiden, Verwirrung und Unvollkommenheit.
Die Christlichen Wissenschafter in der ganzen Welt beten täglich: „Dein Reich komme” mit der im Lehrbuch gegebenen geistigen Auslegung: „Dein Reich ist gekommen; du bist immergegenwärtig” (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, S. 16). Gottes Reich ist das Bewußtsein des unendlich Guten. Die Geistiggesinnten, die wirklich das Verlangen haben, daß ihre Gebete Gottes Bestimmung gemäß in Erfüllung gehen, bedauern nicht, daß alte Erscheinungsformen der Dinge vergehen und neue Gedanken, neue Ereignisse, neue Zustände zum Vorschein kommen. Sie haben durch ihr Festhalten an den göttlich wirklichen Tatsachen des Daseins das Recht, „getrost zu sein”. Sie machen sich zur Hauptaufgabe, durch beharrliches Trachten, das von Jesus von Nazareth vorgelebte Christentum zu leben, die weltliche Auffassung der Dinge zu überwinden. Nichts Wirkliches kann ihnen genommen werden; nur neue Schätze und Freuden unvergänglicherer und dauernderer Art können ihnen in völligerer Erkenntnis des göttlichen Seins zufallen.
Manchmal hört man einwenden, daß es nicht leicht sei, sein Denken umzustellen, wenn altehrwürdige Sitten und Gebräuche abgeschafft und durch ungewohnte neuzeitliche, von dem sogenannten jüngeren Geschlecht begeistert befürwortete Anschauungen ersetzt werden. Man mißtraut gern diesen jungen Leuten und erklärt, daß es ihnen an Erfahrung und gereiftem Wissen fehle. Während dies der Fall sein kann, ist es trotzdem möglich, daß ein solcher Mangel durch Eigenschaften wie Unmittelbarkeit, Ursprünglichkeit, Unabhängigkeit, die den anderen fehlen können, ausgeglichen wird. Das, was die neuzeitliche Haltung unserer Zeit genannt wird, ohne unvoreingenommene Untersuchung tadeln, ist zwecklos. Tadel, der nicht aus Liebe und Verständnis hervorgeht, ist nie wünschenswert, umsoweniger, wenn er einen in voreingenommenen Ansichten bestärkt. Ein gründlicher Kenner der menschlichen Natur hat behauptet, der Hauptunterschied zwischen der sogenannten Jugend und dem Alter bestehe darin, daß die Jugend gewöhnlich der Zukunft entsprechend, das Alter der Vergangenheit entsprechend denke.
Die Jugend von heute trifft Zustände an, die in vieler Hinsicht erschreckend sind, und die sie hauptsächlich den Fehlern eines früheren Geschlechts zuschreibt. Kein Wunder, daß sie etwas Neues und Besseres als das, was ihrer Ansicht nach zu den gegenwärtigen unbefriedigenden und beunruhigenden Zuständen geführt hat, für nötig hält. Junge Leute untersuchen die Christliche Wissenschaft sehr ernsthaft und aufrichtig. Sie treten vom Standpunkt ihrer eigenen neuzeitlichen Bedürfnisse aus an sie heran. Daher ist sehr zu beachten, daß die allgemeine Haltung gegenüber der Jugend von heute von weitreichendem Einfluß ist. Machen junge Leute in unserer Bewegung die Beobachtung, daß man einem offenen Blick für neue Entfaltungen des Guten abgeneigt ist, so wenden sie sich leicht in ähnlicher Weise ab, wie viele sich früher von anderen Kirchen abgewandt haben. Begegnen aber diese jungen Sucher bei Christlichen Wissenschaftern einer wahrhaft aus dem Geist geborenen Frische, einem liebevollen Verlangen, das Gute von neuen Gesichtspunkten aus zu betrachten, so kommen sie zur Kirche Christi, Wissenschafter, stärken die Bewegung, und finden anderseits darin Schutz vor den Verwirrungen und Verdrehungen des fleischlichen Gemüts.
Diese liebevolle Bereitwilligkeit, rücksichtsvoll zu sein, ist wahrhaft christlich und wissenschaftlich, wie Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit oft und auf verschiedene Arten erklärt. Sie schreibt (S. 452): „Wenn du aus dem Alten herauswächst, solltest du dich nicht fürchten, das Neue anzuziehen”. Dies stimmt mit dem christlichen Gebot des Meisters, einander zu lieben, und mit dem geistigen Schauen des Johannes überein, der durch die Erkenntnis, daß göttliche Ideen das geistige oder ewige Wesen der Dinge sind, die materielle oder alte Auffassung der Dinge überwand. Dadurch sah er „einen neuen Himmel und eine neue Erde”.
Für einen Christlichen Wissenschafter ist die Neuheit der Dinge nicht eine Frage der Zeit sondern des geistigen Blicks. Da Vergangenheit und Zukunft sterbliche Maße sind, lebt er weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft sondern in dem ununterbrochenen, immer gegenwärtigen göttlichen Jetzt. Die Unendlichkeit Gottes, des Alles in allem, schließt die Möglichkeit aus, daß dieses Jetzt ein Stillstand ist. Es ist immer tätig, neu und wird stufenweise offenbar. Obgleich Gott „der Vater des Lichts ist, bei welchem ist keine Veränderung noch Wechsel des Lichts und der Finsternis”, gibt es in dem einen göttlichen Gemüt keinen Stillstand. Ein solcher Zustand widerspräche dem Grundzug der Unendlichkeit des göttlichen Gemüts. Das Gemüt drückt sich in unaufhörlicher Tätigkeit, in unendlicher Entfaltung, in beständiger Selbsterneuerung, in unerschöpflicher Selbsterfrischung aus!
Hat man das Verlangen, die Christliche Wissenschaft im Denken und Handeln zu leben — und nur das berechtigt einen zu dem „seid getrost” des Meisters — so muß man vom Standpunkt dieses unendlichen, sich stets erneuernden Daseins aus denken. Dadurch sieht man, daß das, was wir Vergangenheit und Zukunft nennen, nur Einflüsterungen sind, die die Schönheit und Heiligkeit dieses ununterbrochenen, unendlichen, göttlichen Jetzt zu begrenzen und umzukehren suchen. Solche Umkehrungen sind nur falsche, sterbliche Denkweisen, die die herrlichen, unvergänglichen göttlichen Ideen, aus denen allein die Erde, der Himmel und der Mensch wirklich bestehen, mit Raumund Zeitbegriffen zu umschreiben suchen. Machen wir für unser Leben den Standpunkt „vollkommener Gott und vollkommener Mensch” nicht nur zur Beweisgrundlage sondern auch zur „Basis des Gedankens” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 259)— denn ohne die Grundlage der Vollkommenheit des Denkens kann kein Beweis befriedigend erbracht werden — so wird sich dies im Erlangen immer höherer Erkenntnisse zeigen. Eine solche Haltung ist nicht nur ein Hinweis auf eine mächtig in der Änderung begriffene Welt, sondern dieser Wandel zum Guten wird dadurch auch wirksam gefördert.
In Zeiten sogenannten materiellen Wohlstands haben sich die Menschen betören lassen, manchen Sachverhalt zu glauben, der jetzt allmählich als täuschend und falsch erkannt wird. Es wird immer mehr zugegeben, daß weitreichende Veränderungen erforderlich sind, um die Welt mehr mit christlichen Richtlinien in Übereinstimmung zu bringen. Das Wirtschaftswesen beruht in der Regel noch auf der Voraussetzung, daß die Materie Substanz sei; es beruht eher auf vernichtendem Wettbewerb als auf aufbauendem Zusammenarbeiten. Familienbeziehungen gehen im allgemeinen noch aus der Voraussetzung hervor, daß der Mensch ein Schöpfer sei, der auf Grund dieser Voraussetzung Achtung und Gehorsam fordert. Die Rechtsordnungen sind noch so mangelhaft, daß sie außerstande sind, Kriege zwischen den Völkern zu verhindern und kostspielige Rüstungen abzuschaffen. An Stelle von alledem müssen Zustände treten, die mit den Grundwahrheiten des Christentums besser übereinstimmen. Da Gott der Geist ist, ist nicht die Materie sondern der Geist wirkliche Substanz. Für Wettbewerb liegt keine wirkliche Notwendigkeit vor, weil der Geist unendlich, daher für alle überreichlich vorhanden ist. Da Gott der Vater-Mutter der Schöpfung ist, ist die Einheit Gottes und des Menschen als Prinzip und Idee die Grundlage aller wahren Verwandtschaft. Jesus erklärte, daß eher diejenigen, die den Willen Gottes tun, als diejenigen, die nach menschlicher Annahme seine Familie bildeten, seine wirklichen Verwandten seien. Da Gott die Liebe ist, ist das immer gegenwärtige Wirken oder Gesetz Gottes das Gesetz der Liebe, das nie verdammt sondern immer segnet. Zur Aufrechterhaltung dieses göttlichen Gesetzes bedarf es keiner materiellen Gewalt; es besteht unmittelbar kraft des unendlichen sich selbst erhaltenden Daseins Gottes.
Die Christliche Wissenschaft hat dadurch, daß sie Gott als das vollkommene göttliche Prinzip ohne die geringste Spur oder Billigung von Übel oder Unvollkommenheit offenbart, der Menschheit in der christlich-wissenschaftlichen Behandlung und im Ergründen ihrer Lehren bestimmte Mittel gegeben, durch die diese göttlichen Tatsachen in die menschliche Erfahrung gelangen können. Zu diesem Zweck muß der Christliche Wissenschafter das Gebiet seiner geistigen Erkenntnis erweitern. Das Heilen nur einzelner Fälle von Krankheit oder Sünde genügt nicht. Da das Wohlergehen des einzelnen so eng mit dem der Gemeinde zusammenhängt und das Gedeihen der Gemeinde mit dem der ganzen Welt, so sind die Probleme der Welt von größter Wichtigkeit für den einzelnen. Daher die wachsende Notwendigkeit, daß jeder sein Bewußtsein von der falschen Vorstellung heile, die sich als eine Welt in Not bekundet. Wer seine Heilarbeit auf die allumfassende Wahrheit gründet, wird schneller und wirksamer von den Ansprüchen geheilt, die seine Erlösung zu verhindern oder aufzuschieben trachten. Die Gelegenheit, geheilt zu werden, ist das unaufhörliche Jetzt. Unsere verehrte Führerin hat die ganze Frage in ihrer Auslegung der bekannten Worte des Apostels Paulus anschaulich zusammengefaßt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 39): „‚Jetzt ... ist die angenehme Zeit, jetzt ist der Tag des Heils‘, und [er] meinte damit nicht, daß sich die Menschen jetzt auf das Heil oder die Sicherheit einer zukünftigen Welt vorbereiten müßten, sondern daß jetzt die Zeit sei, dieses Heil im Geist und im Leben zu erfahren”.
