Es ist wahrscheinlich, daß die Israeliten der alttestamentlichen Zeiten nicht allgemein an die individuelle Unsterblichkeit glaubten. Selbst im Neuen Testament sind Wortstreite über diesen Gegenstand zwischen Pharisäern und Sadduzäern erwähnt (vgl. Apg. 23, 6. 7). Jedoch die Hebräer glaubten wahrscheinlich seit der Zeit Abrahams an die Unsterblichkeit oder die unbegrenzte Fortdauer ihres Geschlechts oder Volks. Im 1. Buch Mose ist berichtet, daß der Herr, als er Abraham erschien, sagte: „Und ich will aufrichten meinen Bund zwischen mir und dir und deinem Samen nach dir, bei ihren Nachkommen, daß es ein ewiger Bund sei, also daß ich dein Gott sei und deines Samens nach dir, und will dir und deinem Samen nach dir geben das Land, darin du ein Fremdling bist, das ganze Land Kanaan, zu ewiger Besitzung, und will ihr Gott sein”.
Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, legt in ihren Schriften Nachdruck auf die ewige Fortdauer der Individualität. Sie schreibt z.B. auf Seite 259 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift”: „Der Mensch geht nicht in der Gottheit auf, er kann seine Individualität nicht verlieren; denn er spiegelt ewiges Leben wider. Auch ist er keine abgesonderte Einzelidee; denn er stellt das unendliche Gemüt, die Summe aller Substanz, dar”. Diese Stelle widerlegt zur Genüge alle Behauptungen, daß die Lehren der Christlichen Wissenschaft auch nur im geringsten denen der orientalischen Philosophien ähnlich seien, die das schließliche Aufgehen des einzelnen Menschen in der Gottheit und den entsprechenden Verlust seiner Wesenseinheit lehren. Nach der Christlichen Wissenschaft ist nichts gewisser, als daß des Menschen Eigenart ewig fortdauern wird.
Der Einzelmensch ist das, was die göttliche Art einzeln ausdrückt. Mit andern Worten, er ist ein Einzelausdruck des Seins, des Bewußtseins, des Lebens, des Gemüts. Er ist der individualisierte unendliche, universale Ausdruck des Gemüts. Und Mrs. Eddy schreibt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 477): „Identität ist die Widerspiegelung des Geistes, die Widerspiegelung in mannigfaltigen Formen des lebendigen Prinzips, Liebe. Seele ist die Substanz, das Leben und die Intelligenz des Menschen, welche individualisiert ist, jedoch nicht in der Materie”.
Es ist klar, daß der Einzelmensch als die individualisierte Idee Gottes individuell vollkommen, individuell vollständig ist, und daß er die Merkmale seines Schöpfers oder seines göttlichen Prinzips widerspiegelt. Somit drückt er die Eigenschaften Unsterblichkeit und Unzerstörbarbeit aus und kann daher nie vernichtet, absorbiert, vertilgt oder ausgerottet werden.
Der Ausdruck Gattung bezieht sich auf Geschlecht, Art oder Familie, und Mrs. Eddy schreibt auf Seite 515 in Wissenschaft und Gesundheit: „Mensch ist der Familienname für alle Ideen—die Söhne und Töchter Gottes”. So kann gesagt werden, daß alle Einzelmenschen sozusagen zu der „Menschenfamilie” gehören, und daß alle Einzelmenschen zusammengenommen die universale Menschenbrüderschaft bilden, die die unendliche Vaterschaft und Mutterschaft Gottes ausdrückt.
Einer kann nicht mit einem andern verschmolzen werden oder den Platz eines andern einnehmen, noch kann einer in irgend etwas von einem andern abhängen oder einem andern etwas entziehen. Alle hängen, was Dasein, Stetigkeit, Versorgung, Gesundheit, Glück und Unsterblichkeit anbelangt, von dem göttlichen Prinzip ab. Das göttliche Prinzip allein ist die Quelle ihres Seins und erhält ihre Individualität oder Wesenseinheit ewig klar und unverletzbar.
Die individuellen Ideen Gottes, des Geistes, des Gemüts, drücken einen göttlichen Sinn der Gleichstellung, aber keinen menschlichen Sinn der Abhängigkeit voneinander aus. Das Verständnis der Individualität oder Wesenseinheit hat jedoch nicht Trennung, Sichfernhalten oder Absonderung zur Folge, sondern stellt im Gegenteil in der menschlichen Erfahrung einen stets wachsenden Sinn gerechter Zusammenarbeit her. Es vereinigt die Menschen und ermutigt keine selbstsüchtige Unabhängigkeit, die nicht willens ist, die Bedürfnisse anderer zu berücksichtigen. Eher ermutigt es eine liebevolle Rücksichtnahme auf das Wohl anderer, ohne einen falschen, furchtsamen Sinn der Verantwortlichkeit hervorzurufen.
Die Erkenntnis der Unzerstörbarkeit des einzelnen Menschen und seines ewigen Einsseins mit dem göttlichen Gemüt zerstört ferner die Furcht vor der Trennung von dem Leben, Gott, und stärkt unsern bewußten Glauben an die Unsterblichkeit. Wie wir im Evangelium des Johannes lesen, sagte Christus Jesus: „Vater, die Stunde ist da, daß du deinen Sohn verklärest, auf daß dich dein Sohn auch verkläre; gleichwie du ihm Macht hast gegeben über alles Fleisch, auf daß er das ewige Leben gebe allen, die du ihm gegeben hast. Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen”.
Durch die inspirierten Schriften unserer geliebten Führerin und ihre geistige Auslegung der Worte und der Werke des Meisters lernen die Christlichen Wissenschafter verstehen und einigermaßen beweisen, daß Gott erkennen „ewiges Leben ist”. Sie sehen, wenn sie im Verständnis der Christlichen Wissenschaft fortschreiten, daß erkennen gleichbedeutend ist mit sein, oder etwas anders ausgedrückt: Erkenntnis ist Sein. Und diese Erkenntnis oder dieses Sein ist eine individuelle Erfahrung. Man kann Gott nicht für einen andern erkennen, aus dem einfachen Grunde, weil man nicht für einen andern denken kann. Einer kann einem andern zeigen, wie er denken soll; aber er kann nicht für ihn denken. Daher muß das Ausarbeiten der Erlösung des einzelnen mit Hilfe der Christlichen Wissenschaft früher oder später eine individuelle Erfahrung werden.
Das Himmelreich oder die Regierung des göttlichen Prinzips ist im individuellen Bewußtsein. Es wird durch individuelles rechtes Denken aufgerichtet. Es kann nicht für andere erlangt noch von der großen Masse gefunden werden. Es kann nur dann allgemein in Erfahrung gebracht werden, wenn es zuerst individuell verwirklicht wird. Die Aufrichtung des Himmelreichs auf Erden kann nur durch den vielleicht langsamen, aber trotzdem sicheren Vorgang individueller geistiger Erleuchtung geschehen.
Der Mensch drückt also einzeln und insgesamt die göttliche Einheit oder das Einssein mit Gott, dem ewigen Leben aus, das die Unsterblichkeit bildet. Er ist sich ewig seines Gleichseins und seines. Einsseins mit dem göttlichen Prinzip bewußt. Aus diesem Grunde kann er nie von der Furcht der Trennung von dem einen Leben ergriffen und daher nicht veranlaßt werden zu glauben, daß ihn eine Erfahrung, Tod genannt, oder irgend etwas anderes auch nur einen Augenblick seiner bewußten geistigen Individualität oder Wesenseinheit berauben könne.
