Anna horchte einen Augenblick an der Tür ihres Bruders Johannes. Ja, er weinte. Die Eltern waren noch nie so lang fortgeblieben, und der kleine Johannes vermißte sie sehr. Da sie erst nach einiger Zeit heimkommen sollten, hätte Anna ihren kleinen Bruder gern getröstet und ihm geholfen, sein Elend und seine Verlassenheit zu überwinden. Demütig bat sie Gott, die göttliche Liebe, ihr zu zeigen, wie sie es tun könnte. Sie war eine treue Schülerin der christlich-wissenschaftlichen Sonntagsschule und wußte, wohin sie sich wenden konnte, wenn sie Hilfe brauchte.
Auf Seite 9 des christlich-wissenschaftlichen Lehrbuchs „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” schreibt unsere liebe Führerin Mary Baker Eddy: „Das folgerechte Gebet ist das Verlangen, recht zu tun”, und auf Seite 1: „Verlangen ist Gebet; und kein Verlust kann uns daraus erwachsen, daß wir unsere Wünsche Gott anheimstellen, damit sie gemodelt und geläutert werden möchten, ehe sie in Worten und Taten Gestalt annehmen”. Anna kannte diese Erklärungen, und sie erwartete hoffnungsvoll, daß die Liebe ihren rechten Wunsch segnen und ihr zeigen würde, was sie tun sollte.
Behutsam öffnete sie die Tür und ging an das Bett, wo sie ihre Arme zärtlich um den kleinen Bruder legte.
„Was fehlt dir, Johannes, was betrübt dich?”
„Ich will den Vater und die Mutter haben”, schluchzte Johannes. „Es ist finster hier, und ich hatte einen bösen Traum”.
„Lieber Johannes”, sagte Anna, „du weißt doch, daß die Eltern verreisen mußten; aber du weißt auch, daß unser Vater-Mutter Gott immer gegenwärtig ist und jetzt für dich sorgt, wie Er immer für jedes Seiner lieben Kinder, Seine eigenen geistigen Ideen, sorgt. Denk doch, Johannes, die Liebe umgibt dich ganz; sie ist immer bei dir, wenn die Eltern fort sind. Die Liebe ist hier, sie liebt dich und behütet dich”.
Johannes schluchzte nicht mehr und hörte ruhig zu. Anna lächelte ihn an.
„Und nun der Traum; was sollen wir damit tun?”
„Ich glaube”, sagte Johannes nachdenklich, „wir müssen die Wahrheit darüber wissen”. Er war einige Minuten lang mit seinen Gedanken beschäftigt. Dann lächelte er seine große Schwester an.
„In der Sonntagsschule sprachen wir einmal darüber, daß Gott das einzige Gemüt ist, und daß es im Gemüt keine bösen Gedanken geben kann, weil es gut ist. Daher kann ich keine schlechten erschreckenden Gedanken haben, wenn ich nur daran denke, daß Gott mein Gemüt ist, nicht wahr, Anna?”
„Ja”, bestätigte Anna, „nur gute und freudige Gedanken. Im Gemüt gibt es nichts Böses, nichts, was schaden oder zerstören oder uns ängstigen kann. Wo Gott ist, ist kein Raum für das Böse.
„Erinnerst du dich, daß es in der Bibel heißt: ‚In ihm [Gott] leben, weben und sind wir‘? Wenn wir hieran denken, wie sicher und geborgen und freudig wir sein können! Aber wir müssen achtgeben, daß wir keine Gedanken aufkommen lassen, die uns vergessen lassen würden, daß die Liebe uns ganz umgibt. Du siehst, Johannes, du ließest zuerst Annahmen der Verlassenheit und der Furcht ein, und dann mußtest du arbeiten, sie los zu werden. Du mußtest das Licht der Wahrheit auf sie scheinen lassen. Dann waren sie verschwunden”.
„Sie sind verschwunden, Anna. Ich habe keine Angst mehr und bin nicht verlassen”. Er blickte zu seiner Schwester auf und dankte ihr für die Hilfe. Dann schlüpfte er unter seine warme Decke und sank bald in tiefen Schlaf.
Anna ging auf den Zehenspitzen zur Tür und machte sie leise zu. Auch sie war sehr froh. Es war etwas so Erfreuliches, die Wahrheit anzuwenden und den Irrtum vor ihr verschwinden zu sehen. Aus dankbarem Herzen flüsterte sie: „Ich danke Dir, lieber Vater-Mutter Gott”.
Anna wußte, daß ihr aufrichtiges Verlangen, die Liebe widerzuspiegeln, es ihr ermöglicht hatte, ihren Bruder zu trösten und ihm zu helfen. Ihr Herz war voller Dankbarkeit für einen weiteren Beweis der Wahrheit der Worte Mrs. Eddys (Wissenschaft und Gesundheit, S. 494): „Die göttliche Liebe hat immer jede menschliche Notdurft gestillt und wird sie immer stillen”.
