Vielen Leuten brachte ihre erste Heilung in der Christlichen Wissenschaft eine wahre Lichtflut. Sie wurden aus einem finstern Tal auf den Berg geführt, wo alles neu geworden war. Die himmlische Freude, die ein sicheres Zeichen der göttlichen Gegenwart ist, stellte alle ihre früheren Glücksträume in den Schatten.
Daß eine solche Seligkeit kein bloßer Traum war, bewiesen folgende Tatsachen: erstens, die Wiederherstellung der Gesundheit erwies sich als dauernd; zweitens, es fand gleichzeitig eine Änderung des Charakters statt: es verschwanden Fehler, gegen die vielleicht lang und erfolglos gekämpft worden war. Selbst zu Zweifelsucht geneigte Leute können nicht leugnen, daß etwas stattgefunden hat, wenn ein Glied der Familie, das lange leidend war, ohne Anwendung materieller Mittel plötzlich geheilt wird und gleichzeitig eine bemerkenswerte Besserung im Charakter zeigt — wenn ein häßlicher Zug der Geduld und christlicher Nächstenliebe Raum gibt.
Wer so geheilt worden ist, weiß ohne den geringsten Zweifel, daß der Segen nicht seinem persönlichen Verdienst zu verdanken ist. Er weiß, daß nur Gott zustande bringen konnte, was menschlich ein Wunder genannt zu werden Pflegt; und wenn seine Dankbarkeit aufrichtig ist, zeigt sein tägliches Leben eine entschiedene Änderung. Anstatt daß er zuerst kommt, kommt Gott zuerst; anstatt zu sagen: „ich muß das haben”, sagt er: „Dein Wille geschehe” und ist überzeugt, daß der göttliche Wille weit besser als sogenannte menschliche Weisheit ist.
Bedeutet dies, daß der Weg immer leicht ist? Weder die Bibel noch die Schriften Mary Baker Eddys, der Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, versprechen dem Jünger einen sammetweichen Pfad. Jesus sagt, der Weg des Lebens sei schmal; er heißt uns wachsam sein. Mrs. Eddy schreibt in ihrem Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 324): „Der Weg ist gerade und schmal, der zu dem Verständnis führt, daß Gott das einzige Leben ist. Er ist ein Kampf mit dem Fleisch, in welchem wir Sünde, Krankheit und Tod besiegen müssen, entweder hier oder hiernach — sicherlich, ehe wir das Ziel des Geistes oder das Leben in Gott erreichen können”. Wie der Meister und wie Paulus, der ein tapferer Streiter Christi war, sprach unsere Führerin aus Erfahrung. Nach ihrer Heilung von einem Unfall, den Freunde und der Arzt für tödlich hielten, gab sie alles auf, um Christus nachzufolgen. Und diese Hingebung befähigte sie, der Welt die Christliche Wissenschaft zu geben. Natürlich übertraf die Freude, die es ihr bereitete, für andere unter Gottes Leitung zu arbeiten, bei weitem die von Menschen verliehenen Belohnungen. Aber nur göttliche Unterstützung konnte sie befähigen, Hindernisse zu überwinden, offene und versteckte Angrisse zu meistern und viele Jahre hindurch an einer Aufgabe zu arbeiten, die menschliche Kraft zu übersteigen schien. Was war das Geheimnis der Siege, die Mrs. Eddy gewann? Dasselbe Geheimnis, das Christus Jesus kannte: unbedingtes Vertrauen auf Gott, das Gute, zusammen mit dem Verständnis der unendlichen göttlichen Liebe, die alle Haßangriffe machtlos machte.
Gottes Wege sind unverändert geblieben. Nur das Gute kann den Glauben an das Böse besiegen; aber für einen vollständigen Sieg genügt ein persönlicher Sinn des Guten nicht, das Verständnis des Christus, der geistigen Idee Gottes, ist nötig.
Schon ehe die Christliche Wissenschaft sie körperlich heilte, war einem jungen Mädchen bewiesen worden, daß die Widerspiegelung der Liebe Sünde zerstört. Dieses Mädchen hatte lang versucht, einen Charakterfehler zu überwinden, der sich immer wieder zeigte und ihre Bemühungen vereitelte. Eines Tages verfiel sie einem Angehörigen gegenüber, der ihr sehr teuer war, wieder in denselben Fehler. Dieser Verwandte machte jedoch nicht die geringste Gegenvorstellung. Vollkommen ruhig, ohne dem Irrtum nachzugeben, hüllte er das Kind in stumme Liebe ein, die den Sündenanspruch durchdrang. Der sterbliche Sinn hätte Zurechtweisungen wohl leicht ertragen können; aber diese Widerspiegelung der göttlichen Liebe war mehr, als daß sie ohne tiefe Reue hätte ertragen werden können. In der Feuerprobe unaussprechlicher Seelenqual verging der Irrtum und verschwand auf immer.
Jede wirklich wissenschaftliche Regel muß bei der Lösung großer so gut wie kleiner Probleme anwendbar sein. Wenn ein scheinbar hartnäckiger Irrtum durch einen von Liebe durchdrungenen Gedanken vernichtet wird, werden dann dieselben Wirkungen nicht auch in wichtigeren Dingen — wenn sich nationale und sogar internationale Stürme erheben — folgen? Das liebevolle, furchtlose, gottinspirierte Denken, das sich dem Irrtum nicht beugt, sondern dessen vollständige Nichtsheit und durch den Nebel hindurch die liebenswürdige und geliebte göttliche Idee sieht — dies ist die Waffe, gegen die das Böse machtlos ist. Sollen wir dann nicht durch Wachen und Beten den Fehler vermeiden, das Böse persönlich zu machen und ihm so den Anschein der Macht zu geben? Böses mit Bösem zu überwinden suchen, ist ein Verfahren, das seit Jahrhunderten geübt wird, und sein Mißlingen sollte uns die Lösung anderswo suchen lassen. In der Chemie, in der Logik, in der Mathematik versuchen die Menschen nicht, einen Fehler durch Begehung eines andern Fehlers zu verhüten. Der Naturforscher, der Astronom, der Gelehrte, die in Berechnungen oder Schlußfolgerungen einen Irrtum entdecken, ärgern sich nicht darüber, versuchen auch nicht, ihn zu rechtfertigen, indem sie eine Ursache dafür suchen. Sobald sie den Fehler entdeckt haben, suchen sie ihn zu verbessern, und sie ruhen nicht, bis der rechte Schluß erreicht ist.
Dem täglichen Leben entnommene Veranschaulichungen können hilfreich sein; um aber das vollkommene Beispiel zu haben, müssen wir uns an Christus Jesus wenden, der in dieser wie in jeder andern Hinsicht unser Wegweiser ist. Wie verhielt sich Jesus, wenn sich ihm während seines Wirkens allerlei Irrtümer, große und kleine, darboten? Ohne eine Spur von Schwäche oder Furcht bekundete er Geduld, unermüdliche Liebe, ein Erbarmen, das sogar einen heilen konnte, der mit einem Schwert bewaffnet kam, ihn gefangen zu nehmen. Vor der Entdeckung der Christlichen Wissenschaft durch Mrs. Eddy mag eine solche Haltung oft menschlich unerreichbar, ja übernatürlich geschienen haben; und man ist nicht überrascht, daß viele gelehrte Erläuterer der Laufbahn des Meisters in das eine oder das andere der heiden Extreme verfallen sind: einen blinden Glauben — Anbetung ohne Verständnis — oder einen an Zweifelsucht grenzenden enttäuschenden Vernunftglauben.
Die Christliche Wissenschaft hebt die Laufbahn des Meisters in wunderbarer Weise hervor. Sie beleuchtet sie sozusagen von innen. Wenn das Denken empfänglich ist, gewinnt man durch Ergründung des Kapitels „Versöhnung und Abendmahl” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 18–55) die Überzeugung, daß die Verfasserin „Christi Sinn” in seinem innersten Wesen erfaßt hat. Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß in zahllosen Fällen das Lesen und Erwägen dieses Kapitels die Menschen mit Gott versöhnt hat. Der ernste Sucher gewinnt einen Lichtblick des wahren Sinnes der Vergebung, nämlich der Zerstörung der Sünde. Indem er die Allheit Gottes einigermaßen erkennt, wird er frei von dem Glauben an die Wirklichkeit der Fehler, die ihn beunruhigten — entweder seiner eigenen oder der anderer Leute — und er wird erlöst „durch die Verdienste Christi — durch das Wahrnehmen und Annehmen der Wahrheit” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 202).
Ein Christlicher Wissenschafter, der durch das Lesen von Wissenschaft und Gesundheit in einigen Tagen von einer langwierigen Krankheit und einigen häßlichen Charakterzügen geheilt worden war, begegnete einige Jahre später heftigem Widerstand von seiten derer, die er sehr liebte. Dank anhaltender geistiger Arbeit wurde er durch das, was die Bibel „ein Ungewitter wider eine Wand” nennt, nicht überwältigt, und als er am Tage nach einer Begebenheit, die der persönliche Sinn für schmerzlich gehalten hätte, die Lektionspredigt im Christlich-Wissenschaftlichen Vierteljahrsheft las, kam ihm wie eine Botschaft vom Himmel der Gedanke: „Wie sehr sie doch der Liebe bedürfen! Sonst hätten sie nicht so gehandelt”. Sofort beseelte ihn ein tiefes Gefühl des Friedens und des Glücks, und mit der nächsten Post kam ein sehr liebevoller Brief von einer der Personen, die sich offenbar vom Irrtum hatten handhaben lassen. So wurde ein mehrerjähriges Alpdrücken in einem Augenblick zerstört. Es waren keine peinlichen Erörterungen nötig, und die Erinnerung daran war wie ausgelöscht.
Wie wahr doch die Worte des Meisters sind: „Denn so ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben”! Solange wir aus dem, was anderer Leute Fehler zu sein scheinen, eine Wirklichkeit machen, können wir die Unwirklichkeit unserer eigenen Irrtümer nicht verstehen und leiden entweder bewußt oder unbewußt darunter. Beginnen wir aber zu sehen, daß die Züge in anderen, an denen wir so sehr Anstoß nehmen, Gott unbekannt, daher unwirklich sind, so wird unsere eigene Last leichter; denn wir gewinnen einen klareren Sinn der Vollkommenheit und der Barmherzigkeit des Vaters. Ein Strahl der göttlichen Liebe ist mächtiger als alle menschlichen Einwendungen, so beredt sie auch klingen mögen. Er befreit die Gefangenen, zerbricht jedes Joch, und die Bedrückten werden frei.
Der Christliche Wissenschafter weiß, daß Mrs. Eddys Entdeckung folgerichtig ist, daß alle Teile unauflöslich miteinander verknüpft sind, und daß der Beweis einer einzigen Regel zeigt, daß alle anderen Erklärungen im Lehrbuch ebenso beweisbar sind. Daher wird er durch die in seiner eigenen Erfahrung bisher erlangten bescheidenen Ergebnisse nicht entmutigt, sondern folgt von ganzem Herzen dem Beispiel des Apostels Paulus, der sagte: „Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, das da vorne ist, und jage — nach dem vorgesteckten Ziel — nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu”.
