Mary Baker Eddys Lebensgeschichte ist einzigartig. Als eine Wanderung vom Sinn zur Seele zeigt sie allen Christlichen Wissenschaftern den Weg. Niemand hat den Kelch zu trinken, den sie trank; aber viele mögen durch eine Kenntnis der Erfahrungen, die sie machte, Ermutigung und Anregung finden und dadurch lernen, wie sie ihren Schwierigkeiten entgegentreten und sie überwinden können. Christliche Wissenschafter mögen sogar ähnliche Erfahrungen machen. Sie können zum Beispiel auf den Widerstand anderer Personen stoßen, von falschen Verfahren bedroht werden, der Verfolgung oder dem Gegenteil, weitgehender Beliebtheit, ausgesetzt sein. Sie mögen wegen ihrer Armut verachtet, um ihren Reichtum gebracht oder um ihres Glaubens willen verlacht werden.
Die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft begegnete und meisterte diese und ähnliche Anfechtungen; sie zeigte sich der Lage immer gewachsen und ging stärker aus der Feuerprobe hervor. Mrs. Eddys selbstverfaßte Lebensbeschreibung „Rückblick und Einblick” gibt in ihren eigenen Worten einen kurzen Bericht über ihren menschlichen Lebenslauf. In diesem Buch tritt die materielle Aufzeichnung in den Hintergrund, und im Vordergrund stehen geistige Ideen, Schlüsse und Ermahnungen, wodurch es für jeden Christlichen Wissenschafter sehr wertvoll wird.
Wahrscheinlich hat noch nie eine Lebensbeschreibung von eigner Hand so wenig Persönliches enthalten. Mrs. Eddys Zweck war nicht, die menschliche Persönlichkeit hervorzuheben, sondern über die Schritte, die sie zur Entdeckung der Christlichen Wissenschaft führten, gerechten Aufschluß zu geben und sie geschichtlich zu verzeichnen. Die sterbliche Geschichte ist ein Traum, der bald erzählt ist; die geistige Geschichte dagegen hat weder Anfang noch Ende. Sie maß dem geistigen Bericht mehr Gewicht bei als ihrer materiellen Geschichte, ein Umstand, den man beim Lesen der Beschreibung ihres eigenen Lebens in Rechnung nehmen sollte.
Die grundlegende Lehre der Christlichen Wissenschaft ist in „der wissenschaftlichen Erklärung des Seins” auf Seite 468 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” zu finden. Die ersten Zeilen dieser Erklärung lauten: „Es ist kein Leben, keine Wahrheit, keine Intelligenz und keine Substanz in der Materie. Alles ist unendliches Gemüt und seine unendliche Offenbarwerdung, denn Gott ist Alles-in-allem.” Ehe Mrs. Eddy diese Erklärung des Seins aufstellte, machte sie Erfahrungen, die sie zwangen, die Voraussetzung und Schlußfolgerung dieser Erklärung anzunehmen. Ihre menschliche Erfahrung lehrte sie den Glauben verwerfen, daß in materiellen Dingen dauernder Friede sei. Sie führte sie zu der Erkenntnis, daß das materielle Dasein ein falscher Sinn des Seins ist. Sie trieb sie vorwärts, an die Substanz des Geistes zu glauben, und die Allheit Gottes, des Guten, und die Unwirklichkeit der Materie zu beweisen. Sie bewies, daß materieller Verlust geistiger Gewinn ist, und sie lernte den menschlichen Willen aufgeben und sich unbedingt auf Gottes Führung und Herrschaft, wie sie in der Christlichen Wissenschaft verstanden werden, verlassen.
Die Offenbarung der heilenden Kraft Gottes wurde ihr bekanntlich im Februar des Jahres 1866 zuteil, und durch die damit verbundene geistige Erleuchtung konnte sie in den unmittelbar darauffolgenden Jahren die Bibel geistig auslegen.
Als keine Hoffnung mehr bestand, Mrs. Eddy am Leben zu erhalten, schlug sie ihre Bibel auf und las, was sie vor sich sah: das 9. Kapitel des Evangeliums des Matthäus, das den Bericht enthält, wie Jesus den Gichtbrüchigen heilte. Beim Lesen wurde ihr die biblische Erzählung klar, und durch eine Erkenntnis der Gegenwart und Macht Gottes wurde ihre Gesundheit augenblicklich wiederhergestellt. Diese damals so wenig beachtete Begebenheit sollte zu einer Umwälzung in der Welt führen. Als Jesus den Gichtbrüchigen heilte, äußerte er bekanntlich die denkwürdigen Worte: „Welches ist leichter: zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Stehe auf und wandle?” Dadurch deutete er an, daß das Heilen von Krankheit und das Überwinden von Sünde sinnverwandt sind.
Geschichtsschreiber berichten, daß die Christen drei Jahrhunderte lang nach Christi Jesu Auferstehung durch geistige Mittel die Kranken heilten und sogar Tote auferweckten. Es ist auch klar, daß in den folgenden Jahrhunderten die Glaubenssätze und Lehren, die in der Kirche eingeführt wurden, die ursprüngliche Reinheit der Lehre des Meisters verdunkelten und dadurch Religion und Heilung voneinander trennten. Der Arzt wurde der Heiler des Körpers, der Priester der Heiler der Seele. Der ungenähte Rock war entzwei gerissen, und der Stein war wieder vor das Grab gewälzt. Was für ein trauriges Ereignis für die Menschheit! Aber im Februar des Jahres 1866 wurde diese traurige Begebenheit wieder gut gemacht: das Heilen des Urchristentums wurde wieder entdeckt und wieder zugänglich gemacht. Damit war die so lang entbehrte Wahrheit, daß wahre Gottesgelehrtheit und Heilkunde eins sind, und daß der Christus der einzige Arzt ist, zurückgegeben.
Offenbarung, Vernunft und fortschreitender Beweis führten Mrs. Eddy zum Verständnis der Christlichen Wissenschaft. Ihr Leben ist ein Beispiel unerschütterlichen Gehorsams gegen Gott und beständiger Hingabe an ihr Ideal.
Das Ziel der Christlichen Wissenschaft wird nicht ohne die vorausgehenden Schritte erreicht. Wir müssen über die kleineren Anhöhen gehen, um die Gipfel zu ersteigen. Gerade wie der Bergsteiger, der eine Kette herrlicher Gipfel vor sich hat, sein Ziel nur erreichen kann, wenn er zuerst durch das Tal wandert und die vorgelagerten Berge und weniger hohen Gipfel ersteigt, erreichte Mrs. Eddy die Höhen der göttlichen Wissenschaft dadurch, daß sie zuerst geduldig und gewissenhaft den Weg des höchsten Menschentums ging. Sie lehrte ihre Nachfolger gewissenhaft sein in den sittlichen Eigenschaften, in Selbstlosigkeit, Demut, Ehrlichkeit, Erbarmen, Freundlichkeit, Höflichkeit usw.— Charakterhöhen, die unsere Führerin täglich und stündlich erstieg.
Der Bergsteiger muß sich durch viel Übung auf seine Aufgabe vorbereiten. Der Metaphysiker muß ebenfalls beständig anwenden, was er gelernt hat, um seiner Aufgabe gewachsen zu sein. Dadurch, d. h. durch Betätigung, war Mrs. Eddy für ihre gewaltige Aufgabe, die Christliche Wissenschaft zu entdecken und zu gründen, vorbereitet. Sie wendete das an, was sie lehrte, bewies also selber die Richtigkeit alles dessen, was sie entdeckt hatte. Sie hat auf Seite 486 in Wissenschaft und Gesundheit geschrieben: „Die Vorschule der Erde muß aufs Äußerste ausgenutzt werden.” Eine Vorschule oder Vorbereitungsschule hat den Zweck, den Schüler auf eine höhere Schule vorzubereiten. Die höhere Schule ist nur ein weiterer Schritt, der zu einer Laufbahn führt. Mrs. Eddy hat uns gelehrt, wie wir durch Besserung und Umwandlung des menschlichen Charakters die köstlichen Schätze der Christlichen Wissenschaft unverzüglich annehmen und uns zu eigen machen können. Ein Kind verläßt den Unterricht in der Grundschule, weil es zuviel weiß, um dort zu bleiben, und deshalb zu höheren Aufgaben vorrücken muß.
Jesus ließ „die Vorschule der Erde” genau auf diese Weise zurück. Er betrachtete nicht den Tod als die Tür zur Freiheit, sondern er bestand darauf, daß Herrschaft zu Freiheit führt. Mrs. Eddy folgte in des Meisters Fußtapfen, und sie zeigt uns überall in ihren veröffentlichten Schriften den Weg. Sie öffnete eine Tür, die kein materieller Sinn schließen kann. Sie enthüllte, daß das Leben kein Alter, keinen Tod kennt, daß es geistig ist. Sie lehrte und bewies die immerwährende Vollkommenheit des Menschen.
Können wir etwas Besseres tun als das Leben unserer großen Führerin andächtig erforschen? Die Lehren, die wir durch ein solches Forschen lernen, sind für unsern Fortschritt in der Christlichen Wissenschaft von unberechenbarem Wert. Wenn wir ihr Lebenswerk höher schätzen lernen, betrachten wir sie nicht mehr bloß als eine menschliche Persönlichkeit, der wir viel verdanken; durch einen tiefen Einblick in die Wahrheit und die Liebe erkennen wir vielmehr klarer sowohl ihren Platz in der Geschichte und in den Prophezeiungen der Bibel, als auch die Bedeutung ihrer wahren Wesensart als der Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft. Auf Seite 120 in „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany” hat sie geschrieben: „Wer mich in der Person oder anderswo als in meinen Schriften sucht, verliert mich, anstatt mich zu finden. Ich hoffe und vertraue, daß wir, Sie und ich, uns in der Wahrheit begegnen und uns dort erkennen werden, und zwar so erkennen, wie wir von Gott erkannt werden.”