Er, der besser als irgend jemand anders verstand und dartat, daß Gott die Liebe ist, ließ sich doch nicht abhalten, den Irrtum, den er im Leben rings um sich her bekundet sah, zu schelten. Am vernichtendsten tadelte Jesus den zuweilen in der menschlichen Art schlummernden Pharisäergedanken, der geneigt ist, eher den Buchstaben als den Geist des Gesetzes zu beachten; schöne Worte höher zu bewerten als gute Werke; „Mücken zu seihen und Kamele zu verschlucken”.
Heute wie zu Jesu Zeit ist diese Denkart bezeichnend für Leute, die, wie Matthäus berichtet, „gern obenan über Tisch sitzen”, das heißt, die eifersüchtig bestrebt sind, sich besondere Vorrechte zu wahren, oder sie unbarmherzig zu erlangen suchen; Personen, die das geschriebene Gesetz halten, die aber „das Schwerste im Gesetz, nämlich das Gericht, die Barmherzigkeit und den Glauben”, unterlassen; die „die Becher und Schüsseln auswendig reinlich halten, inwendig aber ist's voll Raubes und Fraßes”.
Die Christlichen Wissenschafter befolgen die Lehre des Meisters und suchen sie im Handeln und der Wahrheit getreu anzuwenden. Diese Lehre ist im Lehrbuch der Christian Science, „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” von unserer Führerin, Mary Baker Eddy, klar dargelegt und immer zugänglich. Auch sie wies die Denkart zurecht, die der Meister zurechtwies. Sie erkannte, daß schließliche Erlösung und Friede für die Menschheit nur durch die Aufklärung und den Beweis des einzelnen kommen können. Um die Irrtümer der Welt zu berichtigen und ihre Ungerechtigkeiten auszugleichen, müssen wir nicht bei andern, sondern bei uns selber anfangen. Wir müssen unser eigenes Denken prüfen und jenen tückischen und täuschenden Irrtum, der die Wurzel aller Irrtümer ist, den Glauben, daß es eine Macht oder Intelligenz außer der göttlichen Macht, dem allumfassenden, allgegenwärtigen Gemüt, Gott, gebe, zu seiner schnelleren Zerstörung an die Oberfläche bringen.
Aber in diesem im übrigen freudigen Suchen nach einem klareren Erschauen des Wirklichen lauert eine Gefahr. Es ist eine Grube, in die schon viele gefallen sind, und vor der der Meister und unsere Führerin durch Vorschrift und Beispiel oft gewarnt haben. In unserem Eifer vergessen wir leicht, daß unsere gegenwärtige Umgebung und die Umstände eine gewisse Rücksichtnahme auf übliche Sitten und Bräuche erfordern. Während wir die unbedingte Wahrheit—des Menschen Vollkommenheit und sein Zusammenbestehen mit Gott— behaupten, müssen wir doch eingedenk bleiben, daß wir noch nicht jene Verwirklichung des Unbedingten erreicht haben, die ein völliges Aufgeben des für unsere menschlichen Bedürfnisse Nötigen rechtfertigen würde. Die Beweise der Wahrheit, die Jesus erbrachte, halfen immer einem vorhandenen menschlichen Bedürfnis ab. „Die Göttlichkeit des Christus wurde in der Menschlichkeit Jesu offenbar”, schreibt Mrs. Eddy auf Seite 25 in unserem Lehrbuch.
Für den Verfasser war es eine lehrreiche Erfahrung, zu sehen, wie nach langer Verzögerung ein schweres körperliches Gebrechen geheilt wurde, als die Leidende schließlich willens war, gewisse menschliche Schritte zu tun, die sie vorher gemieden hatte, weil sie solche Schritte für unvereinbar mit ihrem Verständnis der Wissenschaft gehalten hatte. Sie hatte geglaubt, daß sie aus ihren reichen Mitteln nicht zur Unterstützung einer Freundin beitragen sollte, die eine schwere Zeit durchzumachen schien. Als sie eines Tages in der Bibel forschte, las sie die Geschichte vom barmherzigen Samariter, wobei ihr eine neue Erkenntnis aufging, für die sie tief dankbar war.
Sie sah, daß Jesus in seiner Antwort auf die Frage des Schriftgelehrten: „Wer ist denn mein Nächster?”, zeigte, daß der Samariter es nicht dabei bewenden ließ, andern Anweisungen betreffs der Pflege des Verwundeten zu geben, oder bloß tröstende Wahrheiten zu äußern. Er übernahm selber die Sorge für den Fall. Nach dem Bericht des Lukas verband der Samariter nicht nur die Wunden des Überfallenen, sondern führte ihn auch in eine Herberge und pflegte ihn. Und als er am nächsten Tage fand, daß er weiterreisen mußte, bezahlte er den Wirt im Voraus für die weitere Pflege des Nächsten, den er gerettet hatte.
In einer Zeit, wo so viel Leiden zu herrschen scheint, das so vieler persönlicher und organisierter Hilfe bedarf, ist es anspornend, von neuem über diese herrliche Veranschaulichung, wie man seinen Nächsten wie sich selber liebt, nachzudenken. Mrs. Eddy gebraucht Jesu Gleichnis an vielen Stellen in ihren Schriften. Auf Seite 440 im Lehrbuch finden wir zum Beispiel die eindringliche Frage: „Welch größere Rechtfertigung kann einer Tat zuteil werden, als daßsie zum Wohl des Nächsten geschieht?”
Viele von uns halten uns schon so lang an Sprichwörter der weltlich Weisen, daß wir sie zuweilen als göttliche Gebote betrachtet haben. Das Sparen in der Zeit; daß jeder sich selbst der Nächste sei; die Ermahnung Shakespeares, weder zu leihen noch zu borgen, sind oft weise, beherzigenswerte Grundsätze. Sie gebieten jenem Geben Einhalt, das nur zu fortwährender Abhängigkeit führen kann. Aber wahre Weisheit ist eine Eigenschaft das Gemüts. Wenn wir aus einem liebevollen Beweggrund recht bitten, werden wir bei unserem Geben von dem göttlichen Prinzip, der Liebe, recht geleitet. Der wahre Christ macht sicher weniger Fehler, wenn er Notleidenden hilft, als wenn er die Hilfe verweigert oder unterläßt.
Was Jakobus in seinem berühmten Brief über christliche Werktätigkeit sagt, gehört zum Weisesten und Freundlichsten, was je geschrieben wurde. „So aber ein Bruder oder eine Schwester bloß wäre und Mangel hätte der täglichen Nahrung”, sagt er, „und jemand unter euch spräche zu ihnen: Gott berate euch, wärmet euch und sättiget euch! ihr gäbet ihnen aber nicht, was des Leibes Notdurft ist: was hülfe ihnen das?”
Wir leben gegenwärtig wieder in einer Zeit, die „die Menschen auf die Probe stellt”; aber die Christlichen Wissenschafter finden, daß diese Zeit dazu angetan ist, ihren Glauben durch ihre Werke zu beweisen. Sie können sich Jesus zum Vorbild nehmen. Sie vergessen nicht, daß Stephanus und Philippus nicht nur in der Lehre, sondern auch darin bewandert waren, „zu Tische zu dienen”. Die Christlichen Wissenschafter haben nicht nur die Anleitungen ihrer Führerin als Ansporn, sondern sie wissen auch, daß Mrs. Eddy in ihrer ganzen irdischen Laufbahn auf unzählige Arten sowohl für die zeitlichen als auch für die geistigen Bedürfnisse ihrer Mitmenschen Sorge trug. Dank ihrer Voraussicht ernten heute noch viele den Segen dieser Vorkehrungen und werden ihn weiterhin ernten. „Menschliche Herzenswärme”, schreibt sie in Wissenschaft und Gesundheit (S. 57), „wird nicht vergebens ausgeströmt, selbst wenn sie keine Erwiderung findet. Die Liebe bereichert die menschliche Natur, erweitert, reinigt und erhebt sie.”