Wer freut sich nicht über selbst den kleinsten Beweis des Sieges und der Herrschaft über irgend eine Form der Disharmonie, der Schwäche oder Beschränkung? Herrschaft war gemäß dem ersten Schöpfungsbericht der Bibel eins der ursprünglichen Besitztümer des Menschen; doch obwohl die Sterblichen durch die Nutzbarmachung der verschiedenen materiellen Kräfte und den Gebrauch erstaunlicher moderner Erfindungen gelernt haben, Herrschaft über viele materielle Seiten der Existenz zu erlangen — haben sie nicht noch viel zu lernen, um die gottgegebene Herrschaft demonstrieren zu können, die ein jedes intelligente Wesen über sündiges und krankhaftes Denken und über Furcht, Herzweh und Disharmonie ausüben sollte?
Wie oft hört man von Menschen, die Opfer einer zu unbezwingbarer Heftigkeit neigenden Veranlagung sind, oder die ihre Begierden nicht beherrschen können! Andre sind bange zu essen; wieder andre beklagen sich, daß sie eine Neigung zu sinnlichem Denken nicht überwinden können, und so fort. Doch was sagt der Psalmist von dem Menschen, der das Ebenbild seines Schöpfers ist? Wir lesen: „Du hast ihn wenig niedriger gemacht denn Gott, und mit Ehre und Schmuck hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk; alles hast du unter seine Füße getan“ (Ps. 8:6, 7). Nun kommt die Wissenschaft des Christentums und zeigt der Menschheit, wie diese Herrschaft nutzbar gemacht und praktisch angewendet werden kann.
In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 231) schreibt Mary Baker Eddy: „Dich der Sünde für überlegen zu halten, weil Gott dich ihr überlegen gemacht hat, und weil Er den Menschen regiert, das ist wahre Weisheit. Sünde fürchten, heißt die Macht der Liebe und die göttliche Wissenschaft des Seins hinsichtlich der Beziehung des Menschen zu Gott mißverstehen — heißt Seine Regierung anzweifeln und Seiner allmächtigen Fürsorge mißtrauen. Dich der Krankheit und dem Tode für überlegen zu halten, ist ebenso weise und steht in Übereinstimmung mit der göttlichen Wissenschaft.“ Der Mensch, als der Ausdruck Gottes, des göttlichen Gemüts und Prinzips, spiegelt notwendigerweise die Herrschaft des Gemüts über alles, das ihm unähnlich ist, wider. Daher ist der einzige Wille, auf den er Anspruch erheben, und den er kennen kann, der göttliche und nicht der menschliche Wille.
Im Glossarium von „Wissenschaft und Gesundheit“ (S. 597) definiert Mrs. Eddy den „Willen“ folgendermaßen: Zuerst gibt sie die materielle Bedeutung als „die treibende Kraft des Irrtums; sterbliche Annahme; tierische Kraft“. Dann kommt die geistige Bedeutung als „die Macht und Weisheit Gottes“. Manchmal hört man, wie ein Christlicher Wissenschafter erklärt, daß er das ganze Gewicht seines metaphysischen Strebens daraufhin richtet, energisch den Willen zu verneinen. Doch sollte hierbei große Vorsicht geübt werden. Man sollte sich vergewissern, daß es die menschliche Willenskraft und nicht der göttliche Wille ist, was verneint wird.
Mediziner geben ganz offen zu, daß, was sie den „Willen zum Leben“ nennen, unbedingt notwendig ist, um bei gewissen Patienten eine Lebensrettung zu bewirken. Es würde gewiß nicht irrig sein oder einen Gebrauch menschlicher Willenskraft bedeuten, wenn jemand mit den Worten der Bibel erklärte: „Ich werde nicht sterben, sondern leben und des Herrn Werke verkündigen“ (Ps. 118:17). Bedeutete das nicht vielmehr, den göttlichen Willen widerzuspiegeln? Das Heilen der Christlichen Wissenschaft wird nicht durch menschliche Willenskraft, sondern durch die Widerspiegelung der Gotteskraft bewirkt.
Angenommen, ein Sklave falscher Begierden behauptet, er sei nicht imstande, Versuchungen zu widerstehen, da seine Willenskraft völlig erschlafft sei. Dann ist es an der Zeit, ihn über die Gotteskraft aufzuklären, die der Mensch, das Ebenbild des unendlichen Guten, stets widerspiegelt, und ihm klarzumachen, daß er, wenn er mit tiefer Überzeugung den Einflüsterungen einer sinnlichen Begierde mit einem kräftigen „Ich will nicht! Hebe dich von mir, Satan!“ entgegentritt, nicht etwa menschliche Willenskraft gebraucht, sondern sich vielmehr dem göttlichen Willen zuwendet, und dem menschlichen schwachen Willen göttliche Kraft einflößt.
Der große Shakespeare fragt:
Hast du die Herrschaft? durch den, der sie dir gab,
Aus reinem Herzen beherrsch’ den rebellischen Willen.
Die Herrschaft über den „rebellischen Willen“ des Menschengeschlechts wird in dem Maße erlangt, wie die Sterblichen in der Wissenschaft die Unwirklichkeit und Machtlosigkeit dessen, was dem Geist, der Liebe und dem Prinzip entgegensteht, erkennen lernen; und wenn etwas als unwirklich bezeichnet wird, so bedeutet das, daß es weder Existenz noch Gesetzmäßigkeit hat und daher auch keine Gegenwart oder Wirksamkeit haben kann.
Angenommen, jemand, der im Geschäftsleben steht, ist tagein, tagaus einem Vorgesetzten unterworfen, dessen auf menschlichem Willen beruhende Herrschsucht fast sprichwörtlich geworden ist, ja der als ein Mensch von eisernem Willen bekannt ist. Seine Untergebenen leben in beständiger Furcht vor ihm und seinen willkürlichen Entscheidungen. Doch laßt uns einmal annehmen, daß einer unter ihnen ein Christlicher Wissenschafter ist, der sein Verständnis der Wahrheit wirklich anwendet, und der, wenn sich ihm ein Ausbruch des „rebellischen Willens“ seitens jenes Vorgesetzten darbietet, still doch zuversichtlich die Gegenwart des einen Willens, den es gibt, behauptet — des Willens der göttlichen Liebe, des göttlichen Prinzips — und die Nichtigkeit des Anspruchs, daß dieser herrliche Wille gefälscht werden kann. So wird sicherlich immer wieder die Herrschaft der Wahrheit über den Irrtum bewiesen werden. Wie zu den Zeiten Jesu wird der Christus sagen: „Schweig und verstumme!“ und die Stürme der materiellen Sinne werden sich legen.
Hier ist noch ein andres Problem in Betracht zu ziehen, nämlich Menschen, die ganz offen zugeben, daß sie einen starken Willen haben, die jedoch etwas nicht bezwingen können, ihren eigenen Jähzorn, der sich bei der geringsten Gelegenheit in Wutanfällen äußert. Sie mögen euch erzählen, daß sie die verschiedensten Methoden gebraucht haben, im Bestreben, ihre Zunge zu zähmen, bis zehn oder sogar bis zwanzig gezählt haben, ehe sie wagten, ihren Mund aufzutun, doch nur um zu finden, daß der Wutausbruch schließlich noch schlimmer wurde. Was bleibt ihnen zu tun übrig?
Vor allem muß der Wissenschafter ihnen helfen einzusehen, daß sie dieses Problem nicht mit menschlichem Willen lösen können. Wenn der menschliche Wille die „treibende Kraft des Irrtums“ ist, so müssen sie gelehrt werden, daß— wie „Wissenschaft und Gesundheit“ (S. 490) erklärt —„die Christliche Wissenschaft ... Wahrheit und Liebe als die Triebkräfte des Menschen“ enthüllt. Täglich, ja manchmal stündlich, müssen sie um christliche Liebe und Demut beten. Sie müssen darnach streben, jenes Verständnis wahrer Herrschaft zu erlangen, das der gegenwärtige Besitz des Menschen Gottes ist. Wenn sie einsehen lernen, daß die Liebe der Liebe und die Wahrheit der Wahrheit allein wirklich sind, so geben sie die Annahme auf, daß Jähzorn, Heftigkeit oder Selbstsucht jemals zu den Kindern Gottes gehören.
Der Mensch kann keine unschönen Charakterzüge ererben, keine Anlage zur Reizbarkeit, kein gesteigertes Geltungsbedürfnis. Daher hört der Wissenschafter auf, sich selbst zu verdammen und weist nur den „rebellischen Willen“ zurück. Schließlich wird er die Freude haben, die Wahrheit jener großen Erklärung in den Sprüchen Salomos (16:32) beweisen zu können: „Ein Geduldiger ist besser denn ein Starker, und der seines Mutes Herr ist, denn der Städte gewinnt.“