Das Wohlergehen eines jeden von uns beruht auf unserer bewußten wissenschaftlichen Vergegenwärtigung, daß wir die Widerspiegelung der göttlichen Liebe sind. Um jedoch wahrhaft wirkungsvoll zu sein, muß diese Vergegenwärtigung in gleicher Weise auch unseren Nächsten als ein Kind Gottes einschließen, und wir müssen ihn als ein solches lieben. Geradeso wie wir keine bösen Suggestionen für uns selbst akzeptieren, sollten wir auch, wenn wir unseren Nächsten lieben, vermeiden, ihm das Böse anzuheften.
Und wer ist unser Nächster? Nach menschlicher Auffassung sind es diejenigen, die zufällig in unserer Nähe leben. Aber solch ein begrenzter Begriff von dieser Beziehung ist angesichts der Lehren Christi Jesu und des Beispiels, das er durch sein Leben gab, praktisch bedeutungslos, denn der menschliche Sinn beurteilt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entweder nach den Banden des Blutes oder nach rein physischer Nähe. Infolgedessen fehlt demjenigen, der diese Auffassung hat, das erhebende Gefühl seiner Beziehung zur ganzen Menschheit, und so neigt er dazu, Sympathie, menschliche Hilfsbereitschaft und sogar eine gewisse Art Liebe denjenigen zu erzeigen, die auf die eine oder andere Weise seinen persönlichen Interessen dienen.
In Beantwortung der Frage des Schriftgelehrten: „Wer ist denn mein Nächster?“ Luk. 10:29; erzählte Christus Jesus das Gleichnis von dem Menschen, der unter die Räuber fiel. In dieser Geschichte war der, der ihm zu Hilfe kam, nicht der physische Nachbar oder gar ein Mitglied der Familie oder der Sippe des verwundeten Mannes, sondern ein gänzlich Fremder, ein Angehöriger einer verachteten Mischrasse, ein Samariter, der weit entfernt von Jerusalem, der Heimat des Verwundeten, wohnte. Auf diese Weise erweiterte der Meister den Begriff seiner Zuhörer von ihrem Nächsten, indem er ihnen die wahre Bedeutung dieses Wortes zeigte, die sich nicht auf physisches Nahesein oder auf Blutsverwandtschaft, sondern auf Liebe gründet.
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß es nur ein unendliches schöpferisches Prinzip, Liebe, gibt, den Vater und die Mutter des Menschen, der Gottes Ausdruck ist. Daher gibt es nur eine Familie der Ideen Gottes; sie ist eine unendliche Familie. Sie ist das Urbild der menschlichen, weltweiten Brüderschaft. Wenn wir die geistige Grundlage der weltumfassenden menschlichen Brüderschaft wirklich verstehen und lieben, werden wir keinen anderen Wunsch haben, als die damit verbundenen Verpflichtungen zu erfüllen.
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß wir in dem Maße Gottes erhaltende, leitende Macht erleben, wie wir Ihn als den gemeinsamen Vater von uns allen erkennen und Ihn widerspiegeln. Unser Ausdruck Seiner Liebe muß jedoch das Verständnis von der göttlichen Sohnschaft unseres Nächsten — nah und fern — mit einschließen, und wir müssen sie freudig akzeptieren, sonst können wir nicht ohne weiteres an der wunderbaren Güte des Christus teilhaben, die immer da ist, uns zu segnen. Wenn wir sicher sein möchten, daß Gott das Beste für uns will, müssen wir erkennen, daß die Wirklichkeit und stete Wirksamkeit dieses Wohlwollens unseren Nächsten mit einschließt. Dann werden wir in Übereinstimmung mit diesem Wohlwollen fühlen und handeln. Wenn wir wünschen, daß unser Nächster unseren Unzulänglichkeiten oder Fehlern gegenüber geduldig sei, müssen wir ihm gegenüber die Nachsicht aufbringen, die wir von ihm erhoffen.
Das Gute, das wir anderen tun, segnet auch uns; und umgekehrt, was wir anderen antun, tun wir uns selbst an. Wenn wir zu unserem eigenen Schutz lebhafte, wiederholte Beschreibungen von physischen und mentalen Disharmonien, die uns geplagt haben, vermeiden, dann müssen wir es auch unterlassen, uns in Gedanken oder im Gespräch mit dem Irrtum zu beschäftigen, der unseren Nächsten betrifft, denn solch ein unnötiges Äußern irgendeiner Illusion des Bösen zeigt nur den Grad an, inwieweit wir selbst mit dieser Illusion übereinstimmen. Wenn wir einen schlechten Bericht über jemand anderes wiederholen, könnte es auch sein, daß wir seinen Weg dadurch erschweren. Wenn wir somit dazu beitragen, daß er leiden muß, werden wir an diesem Leiden teilhaben, denn wir werden es über uns selbst gebracht haben.
Es besteht ein gewaltiger Unterschied zwischen bloßem Geschwätz und dem wissenschaftlichen Aufdecken des Irrtums, das zu seiner Heilung notwendig ist. Wie einfach und klar legt doch der Prediger diese menschliche Schwäche bloß: „Sei nicht schnell mit deinem Munde und laß dein Herz nicht eilen, etwas zu reden vor Gott; denn Gott ist im Himmel und du auf Erden; darum laß deiner Worte wenig sein. Denn wo viel Mühe ist, da kommen Träume, und wo viel Worte sind, da hört man den Toren.“ Pred. 5:1, 2;
Diese deutliche Mahnung steht in genauer Übereinstimmung mit der Richtschnur, die unsere Führerin Mrs. Eddy im Handbuch Der Mutterkirche niedergelegt hat, um die Selbstdisziplin der göttlichen Liebe in unserer inneren Einstellung unserem Nächsten gegenüber und in unserem Umgang mit ihm aufrechtzuerhalten: „Weder Feindseligkeit noch rein persönliche Zuneigung sollte der Antrieb zu den Beweggründen oder Handlungen der Mitglieder Der Mutterkirche sein. In der Wissenschaft regiert allein die göttliche Liebe den Menschen; und ein Christlicher Wissenschafter spiegelt die holde Anmut der Liebe wider in der Zurechtweisung der Sünde, in wahrer Brüderlichkeit, Barmherzigkeit und Versöhnlichkeit. Die Mitglieder dieser Kirche sollen täglich wachen und beten, um von allem Übel erlöst zu werden, vom irrigen Prophezeien, Richten, Verurteilen, Ratgeben, Beeinflussen oder Beeinflußtwerden.“ Handbuch, Art. VIII Abschn. 1; Dies erfordert himmlische Disziplin.
Der erste Beweis, den wir davon geben können, daß wir wirklich Gott als unseren gemeinsamen Vater ansehen und uns unserem Nächsten — Seinem Kind — überall nahe fühlen, besteht darin, daß wir imstande sind, mit ihm ganz natürlich in Harmonie zu leben und zu arbeiten. Das ist keine bloße menschliche Gewandtheit, die uns in die Lage versetzt, uns bei ihm beliebt zu machen und so eine vorübergehende Arbeitsgrundlage zu schaffen. Es ist die Fähigkeit, die aus der Liebe zu jedermann in unserer weltweiten Nachbarschaft geboren ist, eine Fähigkeit, die den Weg zur Hilfsbereitschaft findet, weil sie Liebe ist. Wenn wir Antipathien und Mißtrauen gegen unseren Nächsten in uns aufkommen lassen, indem wir das Unrecht hätscheln, das er uns vermeintlich angetan hat, während wir das Unrecht entschuldigen, das wir anderen gegenüber begangen haben, dann wird das Zusammenleben mit uns und mit unserem Nächsten erschwert.
Die Bibel sagt: „Wie fein und lieblich ist's, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen!“ Ps. 133:1; Und das trifft ebenso auf die Familie und das Geschäft zu wie auf die Völkerfamilie, denn das Wohlergehen — oder die Not — irgendeines Landes beeinflußt in einem gewissen Grade das Wohlergehen aller. Und ganz gewiß trifft das auf unsere gesamte Erfahrung als Kirchenmitglied zu. Unser Erfolg als Kirchenarbeiter hängt zum großen Teil von unserer Liebe zu unserem Nächsten in der ganzen Welt ab. Manche Mitglieder mögen zwar imstande sein, mehr von dieser Liebe zu demonstrieren als andere; aber wir alle müssen sie pflegen, und die göttliche Liebe wird uns unterweisen.
Christus Jesus faßte alles, was man über die christliche Einstellung zu seinem Nächsten sagen kann, eindrucksvoll zusammen: „Mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden ... Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“ Matth. 7:2, 12;
Unsere Führerin spricht an einer Stelle über die beiden Hauptforderungen der Christlichen Wissenschaft und nennt als erste davon die absolute Anerkennung von nur einem Gott, Geist. Dann schreibt sie: „Und die andere Forderung ist ihr gleich: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘ Man sollte es von Grund aus verstehen, daß alle Menschen ein Gemüt, einen Gott und Vater, ein Leben, eine Wahrheit und eine Liebe haben. Die Menschheit wird in dem Maße vollkommen werden, wie diese Tatsache sichtbar wird, der Krieg wird aufhören, und die wahre Brüderschaft der Menschen wird begründet werden.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 467.
