Was ist denn eigentlich der Unterschied, fragte ich mich, zwischen dem zweiten großen Gebot und dem neuen Gebot, das Jesus uns gab? Ich muß zugeben, daß ich die beiden entschieden durcheinandergebracht hatte. Ich wußte, daß Jesus, als er sein zweites großes Gebot: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ Mark. 12:31; in seiner Antwort auf die Frage des Schriftgelehrten darbot, in Wirklichkeit 3. Mose 19:18 zitierte — eine Stelle, in der genau diese Worte erscheinen und mit der der Fragesteller natürlich vertraut gewesen sein mußte.
Warum sagte er dann aber in seinem letzten Gespräch mit seinen Jüngern kurz vor Gethsemane: „Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habet“ Joh. 13:34;? Wenn er damit nur meinte, daß wir uns untereinander lieben sollten, ist dies dann nicht genau das, was er schon als das zweite große Gebot bezeichnet hatte? Warum also nannte er es ein neues Gebot?
Ich wußte, daß es irgendeinen Unterschied zwischen den beiden Geboten geben mußte. Worin konnte er bestehen? Nun, wenn wir etwas wissen müssen, dann gibt es eine zuverlässige Stelle, wo wir es erfahren können. Ich betete eine Zeitlang still für mich und wartete dann darauf, daß das göttliche Gemüt mir die Antwort entfalten würde. Das Wort „wie“ fiel mir besonders auf. Ich schlug es in Strong's Exhaustive Concordance (Strongs umfassender Konkordanz) nach und stellte fest, daß das griechische Wort kathos, das in diesem Vers mit „wie“ übersetzt ist, auch genauer mit „gleichwie“, „so wie“ übersetzt werden kann. Nehmen wir diese erweiterte Bedeutung, dann könnten wir dieses Gebot so übersetzen, daß es von uns fordert, uns untereinander genauso zu lieben, wie Christus Jesus seine Nachfolger liebte.
Und geradeso haben einige Forscher, die die alten Manuskripte sorgfältig studierten, diese Stelle übersetzt! R. A. Knox drückt es in seiner Übersetzung des Neuen Testaments so aus: „Ich gebe euch ein neues Gebot, daß ihr euch untereinander lieben sollt; daß eure Liebe zueinander sein soll wie die Liebe, die ich euch entgegengebracht habe.“
Und wie liebte Jesus seine Nachfolger? Im Johannesevangelium (15:9) sagt er: „Gleichwie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch.“ („Meine Liebe zu euch ist die gleiche wie die Liebe des Vaters zu mir“ nach: The New Testament, A New Translation [Das Neue Testament — Eine neue Übersetzung] von William Barclay.)
Dieses ist nun wirklich ein neues Gebot und nicht nur eine Neuformulierung des alten. Es ist von ungeheurer geistiger Bedeutung. Von uns wird gefordert, daß wir uns untereinander so lieben, wie Jesus uns liebte, und er liebte uns so, wie Gott ihn liebte. Unsere Liebe zueinander muß also der Liebe gleich sein, die Gott für uns hat. Sie muß die göttliche Liebe widerspiegeln.
Aber dürfen wir wirklich erwarten, Gottes Liebe widerspiegeln zu können? Tatsächlich ist das die einzige wirkliche Liebe. Alle andere Liebe ist ein tastendes Suchen nach dieser Wirklichkeit, eine schwache Andeutung der göttlichen Liebe. Es gibt nur einen Gott. Gott ist Gemüt. Es gibt nur ein wirkliches Gemüt. Es gibt nicht viele Gemüter, die begrenzt und unvollkommen sind. Gott ist Leben. Es gibt nur ein wirkliches Leben, nicht viele Arten von Leben, tierisches, pflanzliches, chemisches, biologisches Leben — diese sind, insofern als sie verkünden, daß Leben in der Materie sei, Fälschungen des Lebens. Gott ist Liebe. Es gibt nur eine wirkliche Liebe, die Liebe, die Gott selbst ist.
Menschliche Zuneigung, die Liebe zu einem Freund, die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, eines Mannes zu einer Frau und einer Frau zu einem Mann ist etwas sehr Kostbares und Wunderbares. Die Christliche WissenschaftChristian Science; sprich: kr’istjən s’aiəns. schließt solche Liebe nicht aus: sie pflegt und schätzt ihre Verheißung und hebt sie auf eine weit höhere Ebene, indem sie sie verchristlicht und vergeistigt. Menschliche Liebe bringt nicht immer Segen mit sich, und sie hat niemals in sich und von sich aus die Kraft zu heilen. Doch die göttliche Liebe segnet immer, und sie heilt immer. Laßt uns also unsere menschliche Liebe für die göttliche aufgeben, und laßt uns so lieben, wie Jesus es uns gebot.
Dieses neue Gebot ist die Zusammenfassung der Lehre des Meisters. Das Gesetz sagte, liebt Gott und liebt den Menschen. Jesus sagte, ja, liebt — aber bringt Gottes Liebe zum Ausdruck. Dies ist letztlich der geistige Sinn alles dessen, was wir erleben — daß wir lernen, die göttliche Liebe zum Ausdruck zu bringen.
Die Christliche Wissenschaft kommt als die Wissenschaft des Christus und zeigt uns, wie wir einander so lieben können, wie Gott uns liebt. Sie wirft neues Licht auf das, was die Heilige Schrift über Gott lehrt, und erklärt, mit den Worten Mary Baker Eddys, der Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft: „Gott ist unkörperliches, göttliches, allerhabenes, unendliches Gemüt, Geist, Seele, Prinzip, Leben, Wahrheit und Liebe.“ Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 465; Jede dieser sieben besonderen Bezeichnungen für Gott schließt alle anderen ein; jede einzelne kann durch jede andere definiert werden. Was die göttliche Liebe ist, können wir besser verstehen, wenn wir sie durch diese anderen Synonyme für Gott definieren.
Gottes Liebe zum Menschen ausdrücken heißt folglich, ihn verständnisvoll, intelligent, klug, geistig, zuverlässig, unentwegt und realistisch zu lieben. Um den Menschen auf eine gottähnliche Art und Weise zu lieben, müssen wir den Menschen im Lichte dessen kennen, was Gott weiß. Wir müssen sein wahres, wirkliches, tatsächliches, geistiges, ewiges Selbst sehen, ihn so sehen, wie Gott ihn geschaffen hat. Dann können wir nicht umhin, Gottes Liebe zu ihm widerzuspiegeln.
Wie sehr doch dies unsere menschliche Erfahrung umwandeln kann! Denken Sie einmal darüber nach, was es bedeutet, Gottes Liebe wirklich füreinander zum Ausdruck zu bringen. Jeden Menschen so zu lieben, wie Jesus ihn liebte und wie Gott Jesus liebte.
Als ich meinen Gedanken in dieser Richtung nachging, stieß ich auf eine Stelle in Mrs. Eddys Message to The Mother Church for 1902 (Botschaft an Die Mutterkirche für 1902), wo sie eine neue und inspirierende Anschauung von diesem Gebot des Meisters vermittelt. Sie sagt (S. 7): „Es ist offensichtlich, daß er die Aufmerksamkeit seiner Jünger besonders auf sein neues Gebot lenkte. Und weshalb? Weil es die Erklärung des Apostels: ‚Gott ist Liebe‘ betont — es erläutert das Christentum, veranschaulicht Gott und den Menschen als Sein Gleichnis und gebietet den Menschen, zu lieben, wie Jesus liebte.“
Wenn wir lieben, wie Jesus liebte, dann werden wir fähig sein, die Werke zu tun, die Jesus tat. Die Liebe Gottes widerzuspiegeln bedeutet, die unendliche Heilkraft der göttlichen Liebe, des Prinzips, der Wahrheit und des Geistes zu verkörpern. Dadurch werden die größeren Werke möglich, die, wie Jesus verhieß, von denen getan werden würden, die ihm folgen, seinen Geboten gehorchen würden (s. Joh. 14:12).
Mrs. Eddy faßt dies alles in ihrer aufschlußreichen Erklärung im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit, zusammen: „Jesus half den Menschen mit Gott zu versöhnen, indem er dem Menschen einen wahreren Begriff von Liebe, dem göttlichen Prinzip der Lehren Jesu, gab, und dieser wahrere Begriff von Liebe erlöst den Menschen von dem Gesetz der Materie, der Sünde und des Todes durch das Gesetz des Geistes, das Gesetz der göttlichen Liebe.“ S. 19;
Eine junge Mutter, eine gute Bekannte von mir, hatte Gelegenheit, dieses Gesetz der göttlichen Liebe einer Prüfung zu unterziehen. Die verschiedenen Mitglieder ihrer Familie hatten der Reihe nach Anfälle von Grippe gehabt. Alle mit Ausnahme ihres dreijährigen Sohnes hatten sich schnell davon erholt, indem sie allein auf die Christliche Wissenschaft vertrauten. Der Zustand ihres Sohnes aber verschlimmerte sich plötzlich. Er konnte keine Nahrung zu sich nehmen, und er begann mühsam und schwer zu atmen. Die Eltern waren beide unerschütterlich in ihrer Überzeugung, daß Gott ihren Sohn heilen konnte und würde und daß die Christliche Wissenschaft als die Wissenschaft des Christus die beste Betreuung war, die er haben konnte. Sie baten einen Ausüber der Christlichen Wissenschaft, dem Kind Behandlung zu geben, und beschlossen, ihren Sohn so zu lieben, wie Jesus geliebt hatte, und danach zu streben, einen göttlichen Begriff von der Liebe zu ihm zu erlangen.
Sie bemühten sich bewußt und hingebungsvoll, in ihrer Liebe zu dem Kind weise, geistig, furchtlos, einsichtsvoll, göttlich zärtlich, aber stark und intelligent zu sein. Der Zustand des Kindes besserte sich sofort; es war innerhalb von Stunden wieder munter und aß normal. Am nächsten Morgen stand es vollkommen gesund auf. Die göttliche Liebe herrschte allerhaben.
Jesu letztes krönendes Gebet für seine Nachfolger endet mit den Worten: „.. . damit die Liebe, mit der du mich liebst, sei in ihnen und ich in ihnen.“ Joh. 17:26. Wenn unsere Nächstenliebe die göttliche Liebe widerspiegelt, wird die wahre Idee Gottes, der Liebe — der Christus —, in uns zum Ausdruck gebracht. Dann arbeiten wir, lieben wir und heilen wir mit der Macht des Christus.