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Wer war Kaspar Hauser?

Aus der April 1979-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Niemand weiß es genau. Seine Geschichte hat der westdeutsche Filmregisseur Werner Herzog in einem Film über Kaspar Hauser wiedergegeben, in dem er seinen Helden als jemanden schildert, dem das Leben wie eine halbbeendete Geschichte erscheint, an deren Sinn und Zweck er sich nie recht erinnern kann.

Die aus verschiedenen Berichten zusammengestellten Tatsachen sind folgende: Mit wunden Füßen und völlig benommen tauchte Kaspar Hauser im Jahre 1828 auf mysteriöse Weise in Nürnberg auf. Er trug einen Brief von seinem angeblichen Vormund bei sich, der besagte, er sei in Abgeschlossenheit aufgewachsen und könne daher nicht sprechen, wolle aber Soldat werden. Unter der Obhut eines Erziehers, G. T. Daumer, lernte er bald, zu lesen, zu sprechen und zu schreiben und seine eigene Geschichte zu erzählen.

Soweit er zurückdenken könne, berichtete er, sei er in einer dunklen Zelle eingesperrt gewesen und habe nur Wasser und Schwarzbrot erhalten. Dann änderte sich eines Tages diese Lebensweise; sein Wächter brachte ihm das Laufen bei und lehrte ihn, seinen Namen auszusprechen und zu sagen, daß er Soldat werden wolle. Nachdem sie einige Tage zu Fuß unterwegs gewesen waren, erreichten sie die Umgebung von Nürnberg, wo sein Wächter ihn verließ und Kaspar Hauser nun seinen Weg in die Stadt selbst finden und normalen Kontakt mit Menschen aufnehmen mußte.

Als er fünf Jahre später unter mysteriösen Umständen starb, wußte man noch immer nicht, woher er stammte und weshalb er so grausam, von aller Welt ausgeschlossen, großgezogen wurde. Es scheint daher unwahrscheinlich, daß das Rätsel um Kaspar Hauser je gelöst werden wird.

Warum sollten dann Christliche Wissenschafter Interesse für ihn zeigen?

Herzog benutzte Kaspar Hausers Geschichte, um zu veranschaulichen, wie launenhaft und verwirrend die sozialen Umgangsformen für den Außenseiter sind. Im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit, benutzt Mrs. Eddy Kaspar Hausers mitleiderregende Lebensgeschichte, um einen anderen, tiefer gehenden Punkt hervorzuheben: „Die authentische Lebensgeschichte von Kaspar Hauser ist ein nützlicher Hinweis auf die Hinfälligkeit und Unzulänglichkeit des sterblichen Gemüts. Sie beweist über jeden Zweifel hinaus, daß die Erziehung dieses sogenannte Gemüt ausmacht und daß sich das sterbliche Gemüt seinerseits durch den falschen Sinn, den es mitteilt, am Körper offenbart.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 194;

Wenn es nicht möglich wäre, geistig zu erwachen, würde Kaspar Hausers traurige Geschichte bis zu einem gewissen Grade jedes menschliche Leben symbolisieren. Das Menschenkind, das ohne seine Zustimmung in menschliche Verhältnisse hineingeboren wird, über die es keine Gewalt hat, scheint ein Gefangener von Vererbung und Umwelt zu sein. Die heutige Zivilisation sieht das menschliche Tier als eines der Zufallsprodukte der Evolution an, das, so gut es kann, in einem ihm fremden Universum herumtappt, das es ohne sein Einverständnis wieder verlassen wird. Analytiker betonen, wie zerbrechlich ein Bildungsprozeß im formellen wie im informellen Sinn ist; wie leicht er fehlschlagen oder verdreht werden kann und wie abhängig die verschiedenen Wissensgebiete und Werte voneinander sind.

Wie reagiert das wissenschaftliche Christentum auf dieses sterbliche Dilemma? Anstatt damit übereinzustimmen und uns dann zu raten, geduldig auszuharren, bis wir nach dem Tod die Unsterblichkeit erreichen, ermutigt uns die Christliche Wissenschaft, das menschliche Leben als einen Wachtraum zu betrachten, in dem schon jetzt die wahren Tatsachen in verschiedenen Stufen der Klarheit wahrgenommen werden können, manchmal abscheulich und sogar schreckenerregend verdreht, manchmal klar erkannt als die herrliche Wirklichkeit geistigen Seins.

Der von Gott erschaffene geistige Mensch hat nie geschlafen, sondern besteht immer als die Verkörperung von Gesundheit, Reinheit, Lebenskraft, Liebe und Freude, denn er ist die Widerspiegelung des einen Schöpfers, Gottes. Soweit Wahrnehmungen und Gedanken vom materiellen Sinn ausgehen, sind sie unwahr, da die Materie etwas Erdichtetes ist, von einem nicht existierenden Gemüt ersonnen.

Wahrheit verlangt jedoch nicht, daß das menschliche Leben ausgelöscht wird. Vieles auf der menschlichen Daseinsebene ist oder kann konstruktiv sein. Nur unsere falschen Annahmen strafen und begrenzen uns, aber durch göttlichen Impuls lernen wir, sie fallenzulassen und an unserer von Gott stammenden Identität und Bestimmung festzuhalten, die uns durch Gemüt offenbart werden. Wir beginnen schon jetzt, ein zeitloses Leben zu leben, indem wir unser gegenwärtiges unsterbliches Leben demonstrieren und die unendlichen Fähigkeiten unserer uns von Gott verliehenen Talente zur Entfaltung bringen. Dieses Erwachen zu geistigen Dingen ist ein Prozeß der Wiedergeburt und Umerziehung — eine Art Heimkommen. Das Himmelreich — die volle, bewußte Widerspiegelung der göttlichen Harmonie und Herrschaft im Menschen — ist bereits in einem jeden von uns begründet und kann so natürlich gefunden werden, wie wir den Sonnenschein wahrnehmen, wenn wir aus einem schrecklichen Traum erwachen. Dieses tiefe, innere Erkennen unserer Ähnlichkeit und Identität mit dem Göttlichen hat Paulus so gut beschrieben, wenn er sagt: „Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi.“ Röm. 8:16, 17;

Die Christliche Wissenschaft läßt den Menschen keineswegs vor einer unüberbrückbaren Kluft stehen, die er überqueren muß, um das Wirkliche und Ewige zu erreichen, sondern sie zeigt, daß das geistig Wirkliche eine gegenwärtige Dimension des Daseins ist, die durch den geistigen Sinn entdeckt wird, wenn wir das materielle, sterbliche Selbst aufgeben. Und in den aufwärts führenden Stadien vor dem vollen Erwachen, wird der menschliche Sinn erlöst und erneuert.

Christliches Heilen stellt das Leben, das durch materielle Annahmen gestört wurde, wieder her und gibt ihm neue Kraft, selbst wenn die Erziehung ein Leben lang in der falschen Richtung erfolgte oder wenn schädliche geistige oder physische Störungen in den scheinbar formenden Jahren auftraten. Dies geschieht deshalb, weil es in Wirklichkeit nur den einen grundlegenden Irrtum gibt — den Irrtum, daß die Materie oder das sterbliche Gemüt existiere und eine Umwelt und Personen hervorbringen könne, in denen das Böse und die Sterblichkeit herrschen. Aber unter welcher Maske dieser eine grundlegende Irrtum auch erscheinen mag und wieviel Anerkennung und Verstärkung er von medizinischen, theologischen und wissenschaftlichen Gedankenrichtungen auch erhält, wir brauchen uns nicht vor ihm zu fürchten oder ihn als wirklich zu akzeptieren.

Die Erfahrung eines mir bekannten Christlichen Wissenschafters beweist die Macht des Christus, die trostlosen, begrenzenden Denk-und Reaktionsweisen zunichte zu machen, die der materielle Sinn uns auferlegt. Dieser Wissenschafter war auf ziemlich altmodische Art erzogen worden, und obgleich er die Wertvorstellungen seiner Eltern respektierte, machte es ihm doch sehr zu schaffen, daß seine Mutter so dominierend war, wenn sie auch die besten Absichten hegte. Es mangelte auf beiden Seiten an Verständnis, aber seiner Meinung nach lag die Schuld völlig bei seiner Mutter.

Dann kam es zwischen ihnen zu einer Auseinandersetzung in einer Angelegenheit, die ein anderes Familienmitglied betraf. Als mein Bekannter eines Abends von einer besonders inspirierenden Versammlung Christlicher Wissenschafter nach Hause kam, war er ungewöhnlich niedergedrückt und sehnte ein Ende der Spannung und Trübseligkeit herbei. Die ermüdenden Klagen seiner Mutter über die betreffende Angelegenheit erinnerten ihn plötzlich an das Gedicht von Tennyson, das Mrs. Eddy im Hinblick auf Kaspar Hausers mißliche Lage zitierte:

Ein weinend Kind, in Finsternis allein,
ein weinend Kind, begehrend hellen Schein
und dessen Sprache nur ein Schmerzensschrei.

„Sein Fall beweist“, sagt Mrs. Eddy weiter, „daß der materielle Sinn nur eine durch die Erziehung allein gebildete Annahme ist.“ Und auf der nächsten Seite lesen wir: „Alles, was unseren kultivierten Sinnen Freude macht, bereitete ihm Schmerz durch ebendiese Sinne, die in einer entgegengesetzten Richtung erzogen worden waren.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 194, 195;

Durch die Erziehung allein gebildet! Diese Worte erleuchteten das Denken des jungen Mannes. Er erkannte, daß sowohl er als auch seine Mutter offensichtlich das Opfer einer anerzogenen Annahme waren, eines Dramas, das die materiellen Sinne vorgaukelten, in dem der eine den Tyrannen und der andere den empfindlichen Schwächling spielte. Tatsache war aber, daß der materielle Sinn niemals zu dem wirklichen Wesen eines der beiden gehört hatte. Der junge Mann erkannte, daß das trügerische, rätselhafte, persönliche Element niemals der wirkliche Mensch, sondern nur ein Teil der materiellen Fälschung war, die sich als Mensch ausgab.

Als ihn das materielle Bild nicht mehr beeindruckte, begann es in Vergessenheit zu geraten. Innerhalb weniger Jahre verband ihn und seine Mutter eine enge, unkomplizierte Freundschaft. Die ehemaligen Mißverständnisse waren beseitigt.

Die Christliche Wissenschaft läßt uns niemals auf einer Stufe zurück, wo Vollkommenheit ein unerreichbares Ziel ist. In dieser Wissenschaft wenden wir uns einer intelligenten, zutiefst geistigen Erklärung des Lebens und der Lehren Christi Jesu zu, dessen Leben das wahre Vorbild für menschliches Handeln ist, und zwar für alle Altersgruppen, alle Völker, alle Berufe. Da Jesus fest davon überzeugt war, daß er der Sprößling des einen göttlichen Vaters war — da er beständig an dieser Tatsache festhielt trotz aller das Gegenteil behauptenden menschlichen Umstände und Opposition —, konnte er die unzerstörbare Identität des Menschen demonstrieren. „Der mich gesandt hat, ist mit mir“, sagte er. „Der Vater läßt mich nicht allein; denn ich tue allezeit, was ihm gefällt.“ Joh. 8:29;

Christlich-wissenschaftlich betrachtet, ist in der Familie kein Raum für männlichen Chauvinismus, hinterhältige Beherrschung, elterliche Tyrannei, kindisches Verhalten oder Rivalität unter Geschwistern, und dies wird alles allmählich verschwinden, wenn materielle, tierische, falsch anerzogene Annahmen ausgemerzt werden und das Menschliche dem Humanen und Göttlichen weicht. Anstatt uns verloren und einsam zu fühlen und wie bestürzte Kinder zu weinen, finden wir göttlichen Trost in dem Wissen, daß wir nicht von der zärtlichen Fürsorge Gottes getrennt werden können, der unser aller Vater und Mutter ist. Wir stellen fest, daß jede Phase unserer zwischenmenschlichen Beziehungen harmonischer wird, bis die Zeit kommt, wo wir, wie Paulus sagt, „alle hinankommen zur Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zur Reife des Mannesalters, zum vollen Maß der Fülle Christi“ Eph. 4:13;.

Wie mit der menschlichen Familie so ist es auch mit allen anderen Aspekten der menschlichen Bildung und Erziehung. Das Verständnis, das die Christliche Wissenschaft dem einzelnen vermittelt, gibt ihm das geistige Rüstzeug, das er braucht, um alles Schädliche zu entlarven und abzulegen und auf all das zu bauen, was gottähnlich ist. Unsere Wahrnehmung und unser Empfinden vertiefen sich, wenn wir mit dem Gottähnlichen beginnen, und wir werden ermutigt, über die Sinneseindrücke hinaus zum Denken zu schauen und dann vom Denken zurück auf die Ursache, damit wir die wahre Ursache von ihrer Fälschung unterscheiden können, wie Jesus uns anwies, als er sagte: „Ein jeglicher Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ Matth. 7:19, 20;

Intuition, Urteilskraft, Voraussicht, Takt, Rücksicht, scharfsinnige Charakterbeurteilung sind alles Eigenschaften des Verstandes. Und wir können erwarten, sie in uns und anderen zu entdecken, wenn wir anfangen, aus den erbärmlichen Gefängnissen der materiellen Sinne auszubrechen.

Die Erleuchtung, die die Christliche Wissenschaft uns bringt, ermöglicht es uns, mit mehr Intelligenz durch das Labyrinth des Wissens zu steuern, das die Bildung uns erschließt. Eine Folge der zunehmenden gegenseitigen Verständigung in allen Teilen der Welt ist, daß die Welt uns wie ein riesiger, kultureller Supermarkt erscheinen kann. Was für einen Sinn sehen wir in all dem?

Ein guter Ausgangspunkt für die Orientierung auf kulturellem Gebiet sind folgende Worte Mrs. Eddys: „Der Mensch ist die Widerspiegelung Gottes und bedarf keiner Pflege; er ist vielmehr immerdar schön und vollendet.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 527. Wenn wir dies erkennen, finden wir Ausgeglichenheit, und wenn wir ausgeglichen sind, können wir unseren Weg mit sicherem Schritt fortsetzen und uns den Teil des gesamten menschlichen Erbes aneignen, der uns intellektuell anspricht und nährt. Wenn wir daran denken, daß die wahre Anziehung geistig ist, fühlen wir uns ganz natürlich von den Ansichten angezogen, die aus einer mehr geistigen Höhe kommen. Und gleichzeitig werden wir weniger durch widersprechende, materialistisch begründete Schulen des Denkens und Formen des Wissens verwirrt. Keine von diesen kann den Felsen Christi, der Wahrheit, zerstören oder uns von ihm vertreiben.

Sobald wir bewußt dazu imstande sind, jeden Aspekt unseres Lernens der weisen Führung unseres liebevollen Vaters anzuvertrauen, werden wir nicht wie verwirrte Findlinge zurückgelassen werden, die unergründliche Rätsel zu lösen haben. Wir werden feststellen, daß das Leben unseren Horizont ständig erweitert.

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