Manchen Menschen scheint es leichter zu fallen, Liebe zum Ausdruck zu bringen, als anderen. Zu lieben bereitet ihnen Freude, es ist keine Pflicht für sie. Aber wie steht es mit dem gewissenhaften Menschen, der weiß, daß er seine Mitmenschen lieben sollte, dem es aber schwerfällt?
Kann die scheinbar fehlende Fähigkeit, spontan zu lieben, erworben werden? Was ist das für eine Fähigkeit? Im allgemeinen betrachtet man es als die Fähigkeit, auf Menschen und Situationen mit echter Wärme und freier Äußerung der Gefühle zu reagieren. Doch der tieferen Bedeutung nach ist sie eine bereitwillige Anerkennung, daß alle von einer noch größeren Liebe umgeben sind, nämlich von der göttlichen Liebe, die Gott ist.
Eine Frau, die ein besseres Verständnis der Christlichen Wissenschaft erlangen wollte, fragte einmal jemanden, was Liebe wirklich sei. Nach einigem Nachdenken erwiderte der Gefragte: „Das kann ich Ihnen nicht erklären. Liebe ist eine Offenbarung.“ Enttäuscht ging sie in einen nahegelegenen Park und setze sich auf eine Bank. Sie verstand seine Antwort nicht, doch sie respektierte seine Geistigkeit sehr. Sie wußte, daß seine Worte eine tiefere Bedeutung haben mußten.
„Liebe ist eine Offenbarung. Eine Offenbarung wovon? Was offenbart Liebe?" dachte sie. „Ich kann nicht lieben, sonst hätte ich diese Frage nicht gestellt.“ Und dann kam ihr sehr deutlich der Gedanke: Die göttliche Liebe, Seele, tut sich in allem Lieblichen kund.
Als sie dies erkannte, war ihr, als erstrahlte um sie her alles in neuer Schönheit — das Gras, die Blumen, die Kinder im Park. Weder der Sonnenschein noch die Blumen hatten sich verändert. Aber die Offenbarung hatte sich in ihrem eigenen Denken entfaltet. Sie begann Mrs. Eddys Worte zu verstehen: „Liebe, duftend von Selbstlosigkeit, badet alles in Schönheit und Licht.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 516;
Was war wirklich geschehen? Nur das Denken hatte sich gewandelt. Anstatt zu versuchen, Liebe mit dem menschlichen Gemüt zu verstehen, hatte sie sie mit Hilfe des geistigen Sinnes erfaßt. Da sie akzeptiert hatte, daß die göttliche Liebe ihre eigene Lieblichkeit durch Liebe offenbart, konnte sie die Liebe jetzt selbst erleben. Sie brauchte sie nicht zu erschaffen.
Können wir uns aber das Verständnis von der Liebe aneignen, wenn es nicht auf diese Weise zu uns kommt? Liebe zum Ausdruck zu bringen, ohne irgendwelche Zuneigung zu empfinden, scheint manchmal sehr schwierig zu sein. Wir können uns wünschen zu lieben, und wir können versuchen zu lieben. Doch wie wir es versuchen, darauf kommt es an. Wir können uns um die Erkenntnis bemühen, daß das menschliche Gemüt selbst nicht der Ursprung der Liebe ist. Verstehen wir auch nur ein wenig davon, daß Gott Liebe ist, die unbegrenzt zum Ausdruck kommt und aktiv ist, tut sich der Weg auf, Liebe im menschlichen Leben zu empfinden. Das menschliche Gemüt entdeckt dann eine neue Fähigkeit, wahre Zuneigung zu zeigen, weil es nicht erst Liebe zu schaffen braucht. Diese Erkenntnis bringt große Erleichterung und setzt Gefühle frei, die bis dahin vielleicht erstarrt schienen. Paulus schrieb an die Thessalonicher: „Von der brüderlichen Liebe aber ist nicht not euch zu schreiben; denn ihr seid selbst von Gott gelehrt, euch untereinander zu lieben.“ 1. Thess. 4:9;
Können wir lieben, wenn uns Bosheit und Haß entgegengebracht werden? Auch in solchen Fällen muß die Liebe vielleicht im Sinne der Lehre und des Beispiels Christi Jesu bewußt gehegt und gepflegt werden. Seine Kraft zu lieben, war unübertroffen. Sie gründete sich immer auf Gott, seinen Vater, die göttliche Liebe in Tätigkeit. Bevor Jesus verraten wurde, versicherte er seinem Vater: „Ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und will ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich liebst, sei in ihnen und ich in ihnen.“ Joh. 17:26;
Die Fähigkeit zu lieben wird also nicht vom Menschen entwickelt. Er besitzt sie, weil er Gott, der selbst Liebe ist, zum Ausdruck bringt. Der Mensch kann nur mit der Liebe lieben, mit der die göttliche Liebe ihn — Gottes Ausdruck und Kind — zuerst geliebt hat. Wenn wir dies verstehen, sehen wir, daß uns als Gottes Kindern diese widergespiegelte Fähigkeit unmöglich fehlen oder verlorengehen kann. Scheint sie uns aber durch Umwelteinflüsse oder Vererbung abhanden gekommen zu sein, können wir sie wiederfinden, wenn wir unseren Blick über die Umstände erheben und auf den Ursprung der Liebe richten. Erkennen wir, daß die Fähigkeit zu lieben eine Kund-werdung des wirklich Wahren ist, schauen wir auf Gott. Dann stellen wir fest, daß die Liebe, die wir auf dieser Basis erleben, so groß wie das Meer und so individuell wie ein Sandkörnchen ist. Haben wir anscheinend unsere Fähigkeit zu lieben verloren, wird sie wieder aufblühen. Und glauben wir, diese Fähigkeit nie besessen zu haben, wird ihr Schein unser Leben zu erleuchten beginnen.
Wir dürfen jedoch nicht glauben, daß zu lieben eine persönliche Fähigkeit sei. Tun wir das, mögen wir manchmal liebevoll und manchmal äußert lieblos sein. Unerschütterliche Liebe demonstriert die Fähigkeit der göttlichen Liebe, in ihrer ganzen Schöpfung immer am Wirken zu sein. Mrs. Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, schreibt: „Die göttliche Liebe ist unendlich. Daher ist alles, was wirklich existiert, in und von Gott und offenbart Seine Liebe.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 340.
Seine Liebe, die wir widerspiegeln, nicht nur unsere. Sind wir uns dessen bewußt, wird uns kein menschlicher Stolz über unsere Fähigkeit zu lieben erfüllen. Vielmehr werden wir die Liebe beständig auf ihren wahren Ursprung zurückführen und sie so in unserem Leben erfahren.
