Einer Kirche beizutreten ist in gewisser Hinsicht, wie durch Heirat Mitglied einer Familie zu werden. Wir lieben die Familie, wir möchten zu ihr gehören; aber in den Jahren enger Gemeinschaft kann die Beständigkeit unserer tiefen Liebe auf die Probe gestellt werden. Gleicherweise mögen wir, wenn wir uns einer Kirche anschließen, anfangs von der Geistigkeit, der Liebe und dem moralischen Mut einiger Mitglieder beeindruckt sein. Vielleicht besitzen sie Eigenschaften, die wir selbst gern mehr zum Ausdruck bringen würden; und daher vereinen wir uns mit ihnen in der Erwartung, christliche Brüderschaft zu finden. Aber im Laufe der Jahre mag es notwendig sein, uns vor dem Kritisieren zu hüten; vielleicht leidet jemand an einem physischen Problem, das nicht heilen will, oder ein anderer, den wir für so heilig hielten, hat Charakterschwächen.
Wir brauchen eine christlich-wissenschaftliche Anschauung vom Menschen, um andere immer im Geiste des Beispiels zu lieben, das Jesus uns gab. Ein guter Metaphysiker erkennt den wahren, geistigen Menschen, Gottes vollkommene Idee, die keine Fehler hat, von ganzem Herzen an und liebt ihn. Er gibt sich jedoch keinen Illusionen über menschliche Wesen hin — denn sie alle müssen das göttliche Ideal erst noch vollständig beweisen.
Wir sollten nicht bestürzt sein, wenn jemand, der sich danach sehnt, ein aufrechter Christ zu sein, gelegentlich daran gehindert wird, Gottes Güte zu demonstrieren. Wer wirklich danach strebt, in christlicher Gnade zu wachsen, wird seine Schwächen schließlich überwinden. Wir müssen mit anderen genauso geduldig sein wie mit uns selbst. Für den einen mag Reizbarkeit das Problem sein; für den anderen sinnliches Verlangen; und ein dritter wird möglicherweise von einem prinzipienlosen Ehrgeiz getrieben, in der Welt voranzukommen. Solche negativen Eigenschaften sind oft Formen einer unpersönlichen, in der Welt verbreiteten Annahme, die behauptet, uns alle mehr oder weniger zu beeinflussen. Alle, die Christus Jesus nachfolgen — ob erst kurze Zeit oder schon lange —, begegnen Herausforderungen, wenn sie darum ringen, sich über die Annahme eines von den materiellen Sinnen bestimmten Lebens zu erheben. Erkennen wir dies, dann haben wir den ersten Schritt getan, die Kritik an anderen zu überwinden. Und es wird uns lehren, barmherzig zu sein.
Die Neigung, andere zu verurteilen und zu kritisieren, beruht auf der Annahme, es gebe ein angebliches Gegenteil von Gott, sterbliches Gemüt genannt. In Wirklichkeit existiert kein sterbliches Gemüt, das eine falsche Vorstellung vom Menschen hat und nach seinen Fehlern sucht. Gott ist das einzige Gemüt, das besteht, und Er ist göttliche Liebe, vollkommenes Prinzip, das weder Haß, Kritik noch persönlichen Sinn in sich birgt. Was ein sterbliches Gemüt zu sein und Menschen zu regieren scheint, ist lediglich die unberichtigte falsche Annahme, etwas Gott Entgegengesetztes könne bestehen und regieren. Jeder von uns ist tatsächlich Gottes Kind, Sein Ebenbild; und das göttliche Gemüt, Gott, allein ist das wahre Gemüt des Menschen.
Das ganze Wesen des sterblichen Gemüts ist darauf eingestellt, zu kritisieren und vernichtend zu beurteilen, niederzureißen — ja sogar zu zerstören. Wir können uns jedoch von der scheinbaren Handlungsweise des sterblichen Gemüts lossagen. Wir müssen verstehen und beweisen, wer wir als Kinder Gottes, des göttlichen Gemüts, wirklich sind. Dann können wir andere so sehen, wie Gott sie geschaffen hat, und Christi Jesu Worte befolgen: „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.“ Matth. 7:1.
Als Kinder Gottes bringen wir nichts zum Ausdruck, was im Gegensatz zu Gottes sanfter Barmherzigkeit steht. In der Bibel wird Gottes Barmherzigkeit, Seine beständige Liebe, immer wieder betont. Oft haben wir selbst die erlösende Liebe Gottes sehr nötig, die uns niemals vorenthalten wird; wir spüren ihre Gegenwart, wenn wir unsere Sünden ehrlich bereuen und sie nicht mehr begehen. Gott verheißt in der Bibel: „Ich, ich tilge deine Übertretungen um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht.“ Jes. 43:25. In der absoluten Wahrheit ist der von Gott erschaffene Mensch makellos, weil er Gottes ganze Güte widerspiegelt. Gott, die göttliche Liebe, weiß nichts von menschlichen Fehlern und menschlichem Versagen. Gott ist Alles, Er ist das göttliche Prinzip des Guten, und Er erhält unsere wahre Identität aufrecht. Aber der menschliche Sinn versteht unter Gottes Barmherzigkeit, daß alle Sterblichen ständig die Gelegenheit haben, sich von ihren Fehlern abzuwenden und zu entdecken und zu beweisen, daß ihr wirkliches Selbst makellos ist. Gottes Liebe wird uns in so reichem Maße zuteil; sollte unsere Liebe anderen gegenüber deshalb nicht genauso barmherzig sein?
Wir müssen erkennen, daß es eine bevorzugte Taktik des Krichenfeindes — des sterblichen Gemüts — ist, zu versuchen, uns auf das Niveau der vernichtenden Kritik herabzuziehen. Wenn diese Dunkelheit unsere Sicht vom wahren Selbst trübt, verlieren wir die Zuversicht. Und die Entmutigung würde sagen: „Was hat das schon für einen Zweck?“ Sie möchte die Arbeit für die Kirche zu einer bedrükkenden Last machen, uns einreden, die Kirche erfülle ihre Aufgabe gegenüber der Menschheit nicht; und auf diese Weise stiftet sie unter den Mitgliedern eine allgemeine Unzufriedenheit und ein Gefühl geistiger Misere. Gegen dieses entzweiende Übel gibt es jedoch ein Heilmittel: den Geist wahrer christlicher Wertschätzung füreinander.
Alle, die auch nur das geringste Verständnis von Jesu Botschaft haben, können andere aufrichten helfen. Das mag durch ein Lächeln geschehen, eine gute Tat, eine heilende Wahrheitsbotschaft oder irgendeinen anderen Beweis der selbstlosen Liebe. Jeder hat diese Fähigkeit. Ein Kirchenmitglied bringt zweifellos ein gewisses Verständnis vom Christus zum Ausdruck, sonst hätte es der Kirche ja gar nicht erst beitreten können. Das Gute, das wir in einem anderen sehen, ist ein Zeichen seiner wahren Identität, die ans Licht kommt, und gewährt einen kleinen Einblick in all das, was er vollbringen kann. Diese Augenscheinlichkeit des geistigen Selbst ist es, was wir wertschätzen müssen. Wenn wir lesen, was Mrs. Eddy über die Kritiker der Christlichen Wissenschaft schrieb, mag es uns an unsere Pflicht erinnern, über offensichtliche Mängel hinauszublicken: „Die Kritiker sollten bedenken, daß der sogenannte sterbliche Mensch nicht die Wirklichkeit des Menschen ist. Dann würden sie die Zeichen von dem Kommen Christi erschauen.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 347. Bemühen wir uns, in jedem von uns die Anzeichen für das Kommen Christi zu erschauen, und schätzen wir sie? Oder kritisieren wir einander für die Fehler, die wir alle überwinden möchten?
Die christliche Liebe in den Kirchen soll die Liebe Christi zum Ausdruck bringen, die Gotteskraft, die allein jene erreichen kann, die der Heilung bedürfen. Bisweilen mögen wir dazu neigen, die Mitglieder unserer Kirche zu kritisieren, deren Aussagen über die Christliche Wissenschaft uns ungenau oder ungenügend durchdacht erscheinen. Mrs. Eddy bestand eindeutig darauf, daß die Christliche Wissenschaft richtig dargelegt und ausgeübt werden sollte. Dennoch war sie mit den Lernenden geduldig. Mit aufrichtiger Nachsicht schreibt sie: „Wenn Christliche Wissenschafter sich gelegentlich in der Auslegung der offenbarten Wahrheit irren, dann wäre von zwei Übeln das kleinere, das Wort nicht unausgesprochen und ungelehrt zu lassen.“ Vermischte Schriften, S. 302. Wenn wir einem Kirchenmitglied dieselbe Liebe entgegenbringen können, mag sie ihm die Tür zu einem höheren Verständnis vom göttlichen Prinzip öffnen, sowohl im Denken wie im Verhalten.
Und was tun wir, wenn es sich zeigt, daß ein Mitglied nicht das Leben eines wahren Christen führt? Wollen wir in solchen Fällen wirklich helfen, dann müssen wir zunächst lernen, uns nicht schokkieren zu lassen. Wie ich mich erinnere, las ich einmal in einer Tageszeitung den folgenden Ausspruch: „Für die meisten Menschen ist Tugend nur ein Mangel an Versuchungen.“ Wenn wir nicht selbst von Krankheit, Sünde oder Egoismus versucht wurden — und den Kampf um den Beweis unserer geistigen und mentalen Reinheit gewannen —, haben wir kein Recht, das Ringen eines anderen zu kritisieren. Und fochten wir einen dunklen mentalen Kampf, aus dem wir vom Licht der Liebe Gottes umgeben als Sieger hervorgingen, werden wir kein Verlangen spüren, andere zu kritisieren. Unsere eigene Heilung sollte uns noch mehr dazu anspornen, jede Spur des Guten zu würdigen, das ein anderer zum Ausdruck bringt. Diese Güte ist der Beweis seines wahren Selbst. Und wir können darum beten, daß die göttliche Liebe unserem Bruder die Gnade verleihen möge, über die Fehler hinwegzusehen, die wir selbst noch zu überwinden haben.
Die einzige Kritik, die wir uns gestatten dürfen, ist das Erkennen des Bösen, das berichtigt werden muß. Aber selbst diese legitime Kritik hält das Böse nicht für eine Wirklichkeit, eine Person, ein Gemüt oder ein Ereignis. Da Gott Alles ist, ist das Böse buchstäblich nichts. Wir tragen dazu bei, es als nichts zu sehen, wenn wir ablehnen, darüber zu reden oder im stillen zu spekulieren. Gott ist tatsächlich gerade dort gegenwärtig, wo der Irrtum oder das Übel sich zu zeigen scheint. Wenn wir den Menschen als den genauen Beweis der Gegenwart Gottes erkennen, bringen wir die Liebe zum Ausdruck, die denjenigen moralisch und physisch stärkt, der der Heilung bedarf. Diese Atmosphäre der Liebe ist es, die die Menschen spüren sollten, wenn sie eine Kirche der Christlichen Wissenschaft betreten. Dann kann die heilende Botschaft des Christus sie ungehindert erreichen.
Wahre Christliche Wissenschaft ist Gottes Liebe, die der Menschheit offenbart wird. Sie ist das Wirken des Christus, die demonstrierte Macht der göttlichen Liebe, die das individuelle un„d kollektive menschliche Denken durchdringt. Die Menschen sehen die Christliche Wissenschaft nicht mit ihren materiellen Augen; sie fühlen sie durch den geistigen Sinn. Sie werden durch das Wirken der göttlichen Liebe, die einzelne Christliche Wissenschafter tief in ihrem Herzen empfinden, zu der Botschaft der Wahrheit hingezogen. Jesus lehrte seine Jünger, daß seine Botschaft verstanden würde, wenn seine Nachfolger einander liebten. Er sagte: „Daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt.“ Joh. 13:35.
Von der schlichtesten liebevollen Geste bis zur Demonstration einer umfassenden Wahrheit, tragen alle Nuancen der Liebe zur Demonstration der Wahrheit bei und helfen zu veranschaulichen, was die Christliche Wissenschaft ist und was sie für die Menschheit tut. Die Wertschätzung füreinander, die auf geistigem Erkennen beruht, ist das vom Christus inspirierte Gegenteil einer vernichtenden Kritik. Eine solche heilende Mentalität, innerhalb oder außerhalb der Kirche, demonstriert wahre Christliche Wissenschaft. Wenn die Kirchenmitglieder ihre christlich-wissenschaftliche Wertschätzung füreinander praktisch zum Ausdruck bringen, zeigen sie der Menschheit die unwiderstehliche Anziehungskraft echter Christlichkeit.