In den achtziger Jahren erfüllen wir zweifellos mit großer Geschwindigkeit eine Prophezeiung der sechziger Jahre: die Welt wird zu einem weltumspannenden „Dorf“.
Kriegerische, politische und wirtschaftliche Ereignisse haben Tausende von Menschen über ihre nationalen Grenzen getrieben. Ein Strom von Kubanern, Vietnamesen, Kambodschanern und Guatemalteken, denen Kapverdier, Mexikaner, Puertoricaner und vorher schon Ungarn, Polen und russische Juden vorausgegangen waren, hat sich wie ein in allen Regenbogenfarben schillernder Wasserfall über die Vereinigten Staaten ergossen. In andere Länder strömen vielleicht Inder, Tamilen, Türken, Pakistanis oder Araber.
Kann ich meinen Nächsten wirklich lieben, wenn es immer deutlicher wird, daß ich so viele habe? Die meisten von uns lieben noch nicht einmal ihre Geschwister und Verwandten so konsequent, wie sie es sollten — geschweige denn Nachbarn und Angehörige anderer Rassen und Kulturen, die ihnen fremd erscheinen.
Die Befürchtung, daß Liebe versiegen oder sich erschöpfen könnte, geht auf die alte Vorstellung zurück, daß moralisches Handeln etwas ist, was man tun sollte, aber nicht tun mag! Dieser Ansicht nach haben wir die Pflicht zu lieben, doch wir bringen das kaum fertig.
Glücklicherweise kann uns ein neuer, geistigerer Begriff von den Dingen in sehr viel reicherem Maße enthüllen, wie wir unseren Nächsten lieben können.
Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen WissenschaftChristian Science (kr´istjən s´aiens), beschreibt in einem Artikel mit dem Titel „Die Wiedergeburt“ das zweite große Gebot Jesu in seiner tiefsten geistigen Bedeutung. Sie schreibt: „... du sollst dich nur als Gottes geistiges Kind sehen und den wahren Mann und das wahre Weib, das all-harmonische, männlich und weiblich‘, als geistigen Ursprungs, als Gottes Widerspiegelung erkennen — somit als Kinder eines gemeinsamen Elterngemüts, worin und wodurch Vater, Mutter und Kind göttliches Prinzip und göttliche Idee sind, ja das göttliche ‚Uns‘, eins im Guten und gut in Einem. Mit dieser Erkenntnis könnte der Mensch sich niemals vom Guten, von Gott trennen, und er würde unweigerlich in der Liebe zu seinem Mitmenschen beharren.“ Vermischte Schriften, S. 18; siehe Matth. 22:35–40.
Sind es nicht Furcht und eine falsche Vorstellung von unserem Selbst, die uns die Notwendigkeit zu lieben wie eine Last erscheinen lassen? Vielleicht gehen wir davon aus, daß wir endlich und unsere Fähigkeiten, Liebe auszudrücken, begrenzt sind. Aber im Lichte Christi, der wahren geistigen Idee, wird uns langsam klar, was wir wirklich sind. Wir sind nicht „bloß die Sterblichen“, die wir so oft zu sein scheinen — genausowenig wie unser Nächster. Wir sind „geistigen Ursprungs“. Der Mensch Gottes spiegelt göttlichen Geist wider. Wenn wir das freudig bedenken — nicht nur intellektuell einige Worte aufnehmen, sondern fühlen, wie der Christus uns zur Erkenntnis unseres wahren Wesens erhebt —, dann beginnen wir, alles in einem ganz anderen Licht zu sehen.
Dann meinen wir nicht mehr, daß Nächstenliebe etwas ist, was uns über unsere Fähigkeiten hinaus beansprucht, sondern dann verstehen wir, daß Liebe sich entfaltet, wenn wir tatsächlich in unsere wahren und natürlichen Fähigkeiten hineinwachsen. Das ist keine Belastung, es ist eine Befreiung. Wir meinen, zum Leben erweckt zu sein, den Weg zur Erfüllung der Größe gefunden zu haben, die das Leben haben sollte.
Doch wie sieht es aus, wenn unser Nächster scheinbar keine Liebe verdient — wenn er zornig ist, wenn seine religiösen Werte von unseren abweichen, wenn seine Bräuche uns nicht vertraut und zuwider sind? Was, wenn er mehr ein Gegner als ein Nächster zu sein scheint?
Derselbe Christus, der uns zeigt, daß wir lieben können, zeigt uns auch, warum der Mensch immer Liebe verdient. Wenn wir zu dieser neuen geistigen Daseinsauffassung gelangen, dann kann uns einfach nichts von der göttlichen Liebe trennen, die die Wirklichkeit aller Dinge ist, die Gottes Schöpfung umfaßt und Seinen Menschen erleuchtet.
Das ist die Liebe, die Christus Jesus befähigte, die Söhne und Töchter Gottes dort zu sehen, wo der sterbliche Sinn behauptete, daß er nur zu einer verachteten Samariterin, einem Dieb oder einer Ehebrecherin sprach. Die gleichen bemerkenswerten Dinge tut diese Liebe für uns. Dadurch, daß wir unseren Nächsten lieben, finden wir unseren Nächsten. Wir finden die wahre Familie der Menschen.
Forderte uns nicht Jesus auf zu lieben, weil er wußte, daß Liebe unser wahres Wesen und unseren wahren Charakter als Kinder Gottes ausmacht? In der Tat, sagte Jesus genau das, aber wir lesen häufig darüber hinweg: „Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel“ Matth. 5:44, 45. (Schrägschrift hinzugefügt).
Da Jesus uns sagte, daß Gott unser Vater ist und daß wir von dieser Grundlage aus beten sollen, müssen wir tatsächlich schon jetzt Seine Kinder sein. Müssen wir dann nicht unbedingt das sein, was wir sind, so leben, wie wir sind, und uns von der Illusion falscher Annahmen, Sünden und Befürchtungen trennen? Wenn wir tief und selbstlos lieben, empfinden wir, daß wir uns schließlich selbst gefunden haben. Und das haben wir tatsächlich, denn Liebe ist nicht etwa eine zweitrangige Eigenschaft des Menschen, sondern sie ist für ihn, der die Widerspiegelung der göttlichen Liebe ist, von grundlegender Bedeutung.
Wenn wir dieser Richtung weiterarbeiten, erkennen wir mehr und mehr, daß Liebe nicht die persönliche Eigenschaft ist, die sie zunächst zu sein scheint, sondern das tatsächliche Wesen des Lebens, das Gott, Liebe, ist. So ist unsere wirkliche Liebe niemals begrenzt, und wir sollten nicht den Fehler machen und annehmen, daß sie begrenzt sei. Geistige Liebe ist wie eine Quelle, die immer strömt — immer sprudelt und niemals versiegt. Es gibt genug für jeden.
Solche Liebe breitet sich immerdar aus. Es spielt keine Rolle, wie viele „Nächste“ dazukommen. Unsere Liebe umfaßt sie alle ganz selbstverständlich. Und wir entdecken immer mehr Gottes Familie der Menschen.
Wie ihr nun angenommen habt
den Herrn Christus Jesus,
so wandelt in ihm
und seid verwurzelt und gegründet in ihm
und fest im Glauben,
wie ihr gelehrt seid,
und seid reichlich dankbar.
Kolosser 2:6, 7