Hatten Sie jemals das Gefühl, daß die Bibel für Sie als Christlichen Wissenschafter nur von zweitrangiger Bedeutung war, daß Sie weit mehr an der „Wissenschaft“ als am „Christentum“ der Christlichen Wissenschaft interessiert waren?
Als junger Mann empfand ich genau das. Obwohl Lesungen aus der Bibel, zusammen mit denen aus Wissenschaft und Gesundheit von Mary Baker Eddy im Mittelpunkt der Gottesdienste der Christlichen Wissenschaft stehen, betrachtete ich tatsächlich die Bibel nur als eine Art Hintergrund oder Vorbereitung auf die „wirklich wichtige“ Botschaft aus Wissenschaft und Gesundheit. Es war ja schließlich die Logik der Christlichen Wissenschaft, die mich zu einem engagierten Mitglied der Kirche Christi, Wissenschafter, gemacht hatte, und es schien mir, als spreche die Bibel nicht die klare Sprache der Logik. Sie berichtete in einem schöngeistigen Stil von Symbolen und Gleichnissen, die ich nicht ganz in Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Wahrheit bringen konnte.
Aber ich irrte mich in jeder Hinsicht und mußte das durch bittere Erfahrungen lernen!
Als Student befand ich mich während meines zweiten Studienjahres an einer nicht kirchlich gebundenen Hochschule. Ich mußte aber in einem Studentenheim des nahegelegenen Bibelkollegs der Fundamentalistenkirche wohnen. Etwas bestürzt merkte ich bald den nicht allzu verborgenen Widerstand gegen meine Religion, der an diesem Kolleg herrschte. Dazu kam noch, daß die Studenten keinerlei Interesse an logischen Erklärungen der Christlichen Wissenschaft zeigten. Sie wollten einzig und allein eine Antwort auf die Frage haben: Ist die Christliche Wissenschaft biblisch?
Offensichtlich waren sie der vorgefaßten Meinung, daß sie das nicht sei. Aber ihre Fragen über die Christliche Wissenschaft veranlaßten mich, selbst tiefer in der Heiligen Schrift zu forschen. Es wurde mir klar, daß die Heilige Schrift für die Christliche Wissenschaft absolut wesentlich ist, und die tiefe Bedeutung der Bibel entfaltet sich mir seitdem immer klarer. Ich begann, viel mehr über den Geist meiner Religion zu lernen, als das mit der einseitigen Konzentration auf ihre Logik möglich gewesen war.
Die Diskussionen mit meinen fundamentalistischen Bekannten waren nicht immer einfach. Oftmals nahmen sie das, was mir in der Bibel im wesentlichen als symbolisch erschien, buchstäblich; aber merkwürdigerweise konnten sie Stellen aus der Bibel, die ich ganz buchstäblich auslegte, nur in übertragenem Sinne verstehen oder als nicht mehr anwendbar betrachten — selbst dann, wenn es in der Bibel auch nicht das kleinste Anzeichen dafür gab, daß man gerade diese Stelle außer acht lassen könne. Das betraf ganz besonders alle Befehle Jesu, die sich auf die Heilarbeit beziehen, die seine Nachfolger — auch die in der heutigen Zeit — tun könnten und tun sollten. Siehe Mark. 16:17, 18; Joh. 14:12.
So wurde mir klar, daß das sogenannte buchstäbliche Lesen der Bibel tatsächlich eine Auslegung war, die einen Maßstab lieferte, um die relative Wichtigkeit biblischer Stellen zu bestimmen und sie miteinander in einen bestimmen Plan zusammenzufügen. Als ich das verstand, konnte ich das Argument durchschauen, das fälschlicherweise darauf besteht, die buchstäbliche Auslegung sei überhaupt keine Auslegung, und irrtümlicherweise behauptet, die Christliche Wissenschaft sei bestenfalls nur eine Auslegung und daher nicht gültig.
Ich schätzte die Aufrichtigkeit meiner fundamentalistischen Hausgenossen, aber es wurde augenfällig, daß wir die Bibel in mancherlei Hinsicht von gegensätzlichen Standpunkten aus betrachteten. Sie interpretierten viele Stellen aus einer mehr oder minder materiellen, physischen Sicht. In diesem System schien die Vorstellung von Gott als Geist beinahe keinen Raum einzunehmen.
Ich versuchte, wenn auch nur in geringem Maße, die Fülle und Vielfalt der Bibel zu verstehen; dabei ging ich von der Unendlichkeit, Allmacht und Allgegenwart des Geistes und von der Unwandelbarkeit Gottes aus — einem Standpunkt, der ausdrücklich oder indirekt in zahlreichen Bibelstellen vertreten wird. Siehe Ps. 62:12; 139:7–12; 147:5; Mal. 3:6; Jak. 1:17. Aus dieser Perspektive heraus sah ich, daß Gott keine Verfügungen erlassen haben konnte, die in einer späteren Zeit geändert werden müssen; im Gegenteil, die Menschheit hat durch göttliche Inspiration den ursprünglichen göttlichen Willen immer klarer erkannt. Also war die Bibel nicht nur eine Aufzeichnung darüber, wie Gott mit der Menschheit redete, sondern auch darüber, wie die Menschheit sich allmählich mit der geoffenbarten Wahrheit auseinandersetzte.
Manchmal hatte diese Entwicklung zur Folge, daß die Propheten empfahlen, gewisse Praktiken fallenzulassen, die vormals als von Gott verfügt galten (und daher in der Heiligen Schrift aufgezeichnet worden waren), weil sie nicht länger notwendig oder wünschenswert erschienen und von Anfang an niemals Gottes Wille gewesen waren. Jeremia sagt von den ritualistischen Bräuchen, die zur Zeit des Auszugs der Hebräer aus Ägypten auf scheinbar göttlichen Befehl eingesetzt worden waren: „So spricht der Herr Zebaoth, der Gott Israels: Tut eure Brandopfer zu euren Schlachtopfern und freßt Fleisch! Ich aber habe euren Vätern an dem Tage, als ich sie aus Ägyptenland führte, nichts gesagt noch geboten von Brandopfern und Schlachtopfern; sondern dies habe ich ihnen geboten: Gehorcht meinem Wort, so will ich euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein.“ Jer. 7:21–23.
Ebenso bezeichneten Jesus und Paulus zuweilen überlieferte Formen der Anbetung und gewisse religiöse Bräuche als fragwürdig. Siehe Matth. 15:1–20; Joh. 4:19–24; Röm. 2:25–29. Solche Änderungen treten immer dann ein, wenn ein geistigeres Verständnis von Gott den Schwerpunkt des Denkens von äußerlichen Gewohnheiten zum geistig Wesentlichen hinwendet. Ganz ähnlich lenkt die Christliche Wissenschaft das Denken von den nur äußerlichen Symbolen auf das geistig Wesentliche, wie bei den bedeutungsvollen christlichen Auffassungen über Taufe, Abendmahl, Gebet, Versöhnung. Indem sie Gott und Christus in rein geistigen Begriffen definiert (obgleich diese für das menschliche Denken in verständlicher Weise ausgedrückt sind), betont sie das geistige Wesen Jesu, den Christus-Geist, der den menschlichen Jesus regierte. Dieser Standpunkt befreit das Denken von den auferlegten Annahmen der traditionellen Theologie und der Vermenschlichung der Gottheit, die uns davon abhalten möchten, die geistige Bedeutung der Bibel zu erkennen. Paulus schreibt, daß Gott „uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ 2. Kor. 3:6.
Die Bibel geistig auszulegen stärkt unsere christliche Jüngerschaft, denn das wendet unser Denken vom Wiederholen altgewohnter Zeremonien ab und bringt uns dazu, dem großen Beispiel unseres Meisters Christus Jesus im täglichen Leben aktiv zu folgen. Es zeigt uns, daß die Gnadengaben, die im Leben der heiligen Männer und Frauen in der Bibel so augenscheinlich waren, daher rührten, daß sie das göttliche Gesetz verstanden und im Einklang mit ihm lebten und deshalb dieses Gesetz anwenden konnten. Kurz, die Ausübung des Christentums zeigt sich als eine Wissenschaft und nicht als die launenhafte Verleihung eines menschengleichen Superwesens.
Aber gerade weil die geistige Bedeutung der Heiligen Schrift verlangt, daß man gewisse feststehende Gewohnheiten und Annahmen für ein tieferes Christentum aufgibt, stößt sie oftmals auf heftigen Widerstand. Wissenschaft und Gesundheit erklärt: „Die geistige, wissenschaftliche Bedeutung der Heiligen Schrift wird größeren mentalen Widerspruch erfahren, als es seit Beginn der christlichen Ära je gegeben hat.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 534.
Vielleicht zeigt sich dieser Widerstand genauso in der Abneigung einiger Christlicher Wissenschafter, sich ernsthaft mit der biblischen und christlichen Bedeutung ihrer Religion zu befassen, wie in dem offensichtlicheren Widerstand von außen.
Das Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, liefert uns die Grundlage, auf der die Bibel geistig, intelligent und praktisch verstanden werden kann. Durch die im Lehrbuch enthaltenen Wahrheiten kann die Unendlichkeit des Geistes, Gottes, und die endgültige Machtlosigkeit des Bösen und der Materie angesichts dieser Unendlichkeit Gottes demonstriert werden. Das Lehrbuch ist weder ein Ersatz für die Bibel noch eine zweite Bibel. Aber dadurch, daß es den metaphysischen Rahmen zum geistigen Verständnis der Heiligen Schrift bietet, nimmt es einen einmaligen Platz in der Christlichen Wissenschaft ein. Und da es Hunderte von wortwörtlichen Zitaten und viele Anklänge an biblische Stellen enthält, ist seine biblische Grundlage offensichtlich.
Natürlich müssen wir lernen, diesen „Schlüssel“ zu verstehen. Wir müssen ihn ernsthaft studieren. Aber wir müssen auch beginnen, ihn zu benutzen, um die Schätze der Bibel zu erschließen. Sonst hat er seine Mission in unserem Leben nicht erfüllt, und der Beweis seiner göttlichen Vollmacht wird in unserer Erfahrung arg fehlen.
Die Christlichen Wissenschafter sollten darauf achten, daß sie nicht ihr eigenes Denken und Handeln unbewußt durch schablonenhafte Vorstellungen von unserer Religion, wie sie in manchen Teilen der öffentlichen Meinung vertreten sind, prägen lassen. Die irrige Ansicht vieler überzeugter Christen, daß die Christliche Wissenschaft nicht nur unchristlich, sondern die Verkörperung des Antichristen sei, darf uns nicht unmerklich dazu verführen, die Bibel zu vernachlässigen. Eine solche Haltung würde unsere Kirche verweltlichen und sie ihrer Lebendigkeit und heilenden Kraft berauben.
Wenn wir verstehen, daß die von den Christlichen Wissenschaftern vollbrachte Heilarbeit durch den Namen und das Wesen Christi Jesu das Höchstmaß an Gehorsam gegen die Lehren des Meisters und die Erfüllung christlicher Nachfolge bedeutet, kann das viel dazu beitragen, unsere Ausübung des Heilens zu stärken. Dieses Verständnis kann alle Zweifel an der Zuverlässigkeit des christlich-wissenschaftlichen Heilens unter unseren eigenen Mitgliedern zerstören und das Mißtrauen der Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften zerstreuen. Es kann auch helfen, die falsche Auffassung zunichte zu machen, die Christliche Wissenschaft sei lediglich positives Denken oder eigennütziges Manipulieren des menschlichen Gemüts.
Jesu Heilarbeit war ein wesentlicher Bestandteil seiner Mission, „daß er die Werke des Teufels zerstöre“ 1. Joh. 3:8., und der Christliche Wissenschafter muß sich klar bewußt sein, daß er die Mission Jesu, der ganzen Welt Erlösung zu bringen, durch seine Heilarbeit fortsetzt. Die Verheißung Jesu „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht“ wird von dem warnenden Hinweis begleitet: „denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Joh. 15:5.
Wir dürfen uns niemals einreden lassen, die Heilige Schrift sei für die Christliche Wissenschaft nicht von entscheidender Bedeutung, oder von dem Gedanken einschläfern lassen, die Bibel sollte nicht nötig sein. Wenn wir die große Gabe, die „geistige, wissenschaftliche Bedeutung der Heiligen Schrift“, wertschätzen, indem wir sie in die Tat umsetzen, werden wir den Geist wahren Christentums in uns aufnehmen und so viel mehr für das Heil der Welt vollbringen.
