Gott ist das unendliche Gute. Von Ihm geht alle Individualität aus. Ja, Er ist unendliche Individualität. „Gott ist Alles-in-allem. Daher ist Er nur in Seiner eigenen Selbstheit, in Seiner eigenen Natur und Wesensart, und Er ist vollkommenes Sein oder Bewußtsein “ Die Einheit des Guten, S. 3., schreibt Mrs. Eddy. Was ist der Mensch in dieser allerhabenen Individualität, in dieser Einheit und Allheit?
Der von Gott geschaffene Mensch besteht zugleich mit Gott, spiegelt Ihn wider und kennt das Leben als Gott. Paulus sagte: „In ihm leben, weben und sind wir. “ Apg. 17:28. Das Leben ist überall gegenwärtig, und wir können uns diesem Leben nie entziehen, nicht einmal durch die Illusion des Todes, weil der Mensch, der in Einklang mit Gott lebt, unsterblich ist. Wenn wir uns bemühen, diesen Einklang zum Ausdruck zu bringen, können wir nicht umhin, die göttliche Individualität auszudrücken.
Wie Einklang im täglichen Leben empfunden werden kann, veranschaulichte einmal ein weltbekannter Künstler in einem Fernsehinterview. Als er gefragt wurde, mit welchem Komponisten er sich besonders im Einklang befinde, antwortete er dem Sinne nach: Mein Erleben der Musik beginnt mit dem Erwachen am Morgen. Wenn ich die Augen öffne, dringt die Welt um mich in mein Bewußtsein ein, und zur gleichen Zeit höre ich Musik in mir. Es ist, als ob ich mich ständig von Musik umgeben fühle und im Einklang mit ihr lebe.
Diese Antwort ist, vom metaphysischen Standpunkt aus betrachtet, von anregender Bedeutung. Der Interviewer erwartete, daß der Künstler einen bestimmten Komponisten nennen würde. Der Künstler verwies ihn jedoch auf ein umfassenderes Erlebnis im Bereich der Musik. Ich entnahm daraus, daß es für den Künstler wichtiger war, Einklang zu empfinden, als sich auf eine bestimmte Person zu konzentrieren.
Mrs. Eddy erklärt in Wissenschaft und Gesundheit: „Die Persönlichkeit ist nicht die Individualität des Menschen.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 491. Wenn wir beginnen, unsere Individualität in Gott zu suchen, zeigt sich Schritt für Schritt eine neue Wertschätzung unseres Nächsten; wir sehen ihn als den in Wahrheit von Gott geschaffenen Menschen. Ich erlebte dies in jungen Jahren als Getreidekaufmann. Einer meiner Geschäftsfreunde schuldete mir eine größere Geldsumme. Ich geriet dadurch in eine sehr bedrängte Lage, so daß mein junges Unternehmen zusammenzubrechen drohte.
In meiner Not wandte ich mich an einen Ausüber der Christlichen Wissenschaft und bat ihn, mir durch Gebet zu helfen. Er fragte mich, wie es um mein Verständnis des Gebots stehe: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Matth. 19:19. Dann schlug er mir vor, über den Ursprung des Gebots, über dessen Gesetz und seine Wirkung, nachzudenken. Ich tat das gewissenhaft, weil ich unbedingt die ausstehende Geldsumme rechtzeitig erhalten und das Weiterbestehen meines jungen Unternehmens gesichert sehen wollte. Selbst als das belastende Problem mich quälte und Furcht mich erfüllte, war das Gebot der Nächstenliebe mir nicht fremd. Das Bild jedoch, das ich mir von meinem Nächsten als einem nichtzahlenden Geschäftsfreund gemacht hatte, wurde in ein neues Licht gerückt. Was ich damals lernen mußte — und was ich durch die Hilfe des Ausübers erkannte —, schloß folgende Gedanken und Erkenntnisse ein, die ich aus der Erinnerung wiedergeben möchte.
Der Ausüber korrigierte meine Annahme, ich sei von Personen und deren Handeln oder Nichthandeln abhängig. Als ich mich um ein rechtes Verständnis dieses Falles bemühte, lernte ich, daß ich weder das Verhalten meines Geschäftsfreundes zu ändern noch ihn zu beobachten oder gar zu bewachen brauchte, sondern daß ich in einem erweiterten Sinne meinen „Nächsten lieben“ mußte wie mich selbst. Als ich über die Worte „wie mich selbst“ eingehender nachdachte, wurde mir klar, daß ich, sobald ich mein eigenes Selbst als die Widerspiegelung der göttlichen Individualität erkennen würde, auch das Selbst meines Nächsten in diesem Licht sehen konnte. Wie undeutlich doch meine Vorstellung von Nächstenliebe gewesen war, als ich außer acht gelassen hatte, daß das geistige Selbst meines Nächsten die göttliche Liebe widerspiegelt. Alle diese Erkenntnisse waren gewissermaßen die ersten Schritte in eine für mich neue Welt der Nächstenliebe, in der die Verpflichtung, das Gebot „du sollst“ zu befolgen, einer natürlichen Empfindung von Liebe Platz machte. Ich fühlte mich völlig frei von meinen Befürchtungen, die mir so bedrückend erschienen waren. Es machte mir nichts aus, daß zwei oder drei Tage vergingen, ehe der überfällige Betrag auf meinem Bankkonto einging.
Dieses beglückende Erlebnis wurde zum Fundament für eine sich erweiternde geistige Schau vom Dasein überhaupt und von den zwischenmenschlichen Beziehungen im besonderen. Wie die Furcht vor dem versagenden und bösen Verhalten des Geschäftsfreundes sich hatte auflösen müssen, so änderten sich auch andere zwischenmenschliche Beziehungen auf der gleichen Grundlage. Sie wurden ungestörter, deutlicher und gesicherter durch das Verständnis, daß Disharmonie niemals vom wirklichen Menschen ausgeht.
Wenn wir annehmen, daß der Partner böse sei oder versagende Eigenschaften besitze, mißverstehen wir ihn und leugnen das wahre Sein des Menschen als Ausdruck der göttlichen Individualität.
Wenn die sterbliche Persönlichkeit nicht die Individualität des Menschen ist, was ist sie dann? Das Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit, gibt die Antwort: „Das eine Ego, das eine Gemüt oder der eine Geist, Gott genannt, ist die unendliche Individualität, die alle Form und Anmut verleiht und die die Wirklichkeit und Göttlichkeit in dem individuellen geistigen Menschen und in den geistigen Dingen widerspiegelt.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 281.
Diese fundamentale Offenbarung des Menschen und des Universums als Widerspiegelung des einen Ego, des einen Gemüts — der „unendlichen Individualität“ —, zeigt die Untrennbarkeit des Menschen von Gott. Ein solches Verständnis vertreibt die Annahmen, wir seien mehr oder weniger weit entfernt von Gott; wir seien demütig zu Gott aufschauende sterbliche Wesen, getrennt von Ihm, scheinbar allein gelassen in einer materiellen Welt, ständig im Kampf mit nicht übereinstimmenden Kräften. Das eine Ego schließt ein zweites „Ich“ aus, das von sich aus denkt, handelt oder gar regiert. Es gibt keine zweierlei Menschen, die einen, die auf einem sich drehenden materiellen Erdball existieren, und die anderen, die im allumfassenden Universum des Geistes leben. Nein! Der Mensch ist der individuelle Ausdruck Gottes, des einzigen Ego. Das ist die strahlende Wahrheit des Seins.
Trennung, Entfernung, persönliche Polarität entspringen dem falschen Ich-Begriff. Diese falsche Vorstellung ist mit sich selbst beschäftigt und behauptet, von ihrer Warte aus über Gott, Gemüt, nachzudenken. Sie sucht durch strebendes Bemühen, durch verbesserte Gedanken über Gott, einen besseren menschlichen Begriff von Ihm zu erlangen. Diese Vorstellung weicht dem Verständnis, daß der Mensch Gott widerspiegelt, daß er von Ihm, dem Ursprung allen wirklichen Seins, ausgeht. Je besser wir diese Tatsache verstehen, desto mehr sind wir im Einklang mit der göttlichen Individualität. Wir beginnen das, was allein unsere wahre individuelle Existenz ausmacht, besser auszudrücken. Wir öffnen unser Herz im Gebet dem ewigen Kommen des Christus, der erlösenden Wahrheit.
Die Christliche Wissenschaft führt uns zu jener neuen Geburt, von der Christus Jesus zu Nikodemus sprach. Siehe Joh. 3:1–13. Dieser Punkt der Lehren Jesu wird in einem Postulat unterstrichen, das ein Grundstein der Christlichen Wissenschaft ist. Dort heißt es (in Mrs. Eddys Worten). „daß es für den geistigen, wirklichen Menschen weder Geburt noch materielles Leben, noch Tod gibt“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 288.. Auf welche Weise uns diese gesegnete und segnende Führung zuteil wird, beruht auf individueller Inspiration. Göttlicher Impuls löst sie aus. Es ist ein Erwachen zum Einklang der göttlichen Individualität, ähnlich dem geschilderten Erlebnis vom Erwachen des Künstlers zum Bereich der Musik.
Diese ewiglich gegenwärtige Einheit von Gott und Mensch empfinden wir deutlicher und praktizieren wir wirksamer im täglichen Leben, wenn wir im geistigen Verständnis wachsen. Wir beginnen zu lernen, daß Gottes Vollkommenheit und Herrlichkeit immergegenwärtige beweisbare Tatsachen sind und somit alles, was der göttlichen Individualität unähnlich ist, weichen muß.
Durch diese bewußt erlebte Einheit mit Gott verschwinden Krankheit oder andere Disharmonien, und die Wirklichkeit von der Vollkommenheit Gottes und des Menschen wird durch den Christus dem menschlichen Bewußtsein offenbart.
