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Lehren aus einem Fürwort

Aus der Oktober 1987-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Das wahre Ausmaß unserer christlichen Liebe — unseres echten Mitgefühls, unserer ehrlichen Zuneigung und Vergebung — läßt sich nicht so sehr daran messen, wie viele Menschen wir lieben, sondern wie viele wir nicht lieben.

Auch nur einen Menschen aus unserem Herzen auszuschließen läuft dem Beispiel zuwider, das der beste Christ, Christus Jesus, gegeben hat. Seine Liebe ließ niemanden aus — Pilatus nicht, Judas nicht, ja nicht einmal diejenigen, die ihn kreuzigten. Seine Liebe war unendlich; sie hatte ihren Ursprung in einem unendlichen Gott.

Christliches Mitgefühl begrenzt in keiner Weise, wer Liebe, Hilfe oder Vergebung erhalten sollte. Das Neue Testament spricht in gleicher Weise von der Liebe zu unserem Bruder, unserem Nachbarn und Nächsten und unserem Feind. Daher macht es grundsätzlich nicht den geringsten Unterschied, wer dieser „wer“ ist: Ihr Ehepartner, Ihre Schwiegereltern, ein anderes Kirchenmitglied, Ihr Chef, ein Politiker in Moskau oder Washington; unser Denken über sie und unser Verhalten ihnen gegenüber sollte von einem christlichen Geist durchdrungen sein. In welcher Beziehung Sie auch immer zu dem Betreffenden stehen, die geistige Lektion, die es zu lernen gilt, bleibt dieselbe: Wer ist dieser „Nachbar“ oder „Nächste“, den wir lieben sollen?

Genau das wollte ein gewisser Schriftgelehrter von Jesus wissen. Die Antwort gab Jesus in dem Gleichnis, das wir als das Gleichnis vom barmherzigen Samariter kennen. Jesus verglich zuerst das Verhalten eines Priesters, eines Leviten und eines Samariters hinsichtlich eines Fremden, der von Räubern verwundet worden war, und fragte dann: „Welcher dünkt dich, der unter diesen dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Der Schriftgelehrte antwortete: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“ Darauf erwiderte Jesus: „So gehe hin und tue desgleichen!“ Lk 10:36, 37.

Unser Meister war in der Tat ein Meister. Seine Erwiderung kehrte die spottende Frage des Schriftgelehrten um. Der Schriftgelehrte erwartete zweifellos eine objektive Antwort, die ihm sagen würde, wen er dort draußen in der Welt seinen Nachbarn oder Nächsten nennen konnte. Statt dessen erhielt er eine subjektive Antwort, die ihm sagte, was für ein Nächster er sein sollte.

Gehorsam gegen Jesu Gebot, für jemanden Nächster oder Nachbar zu sein, macht auf eine besondere Weise die ganze Welt zu unserem Nächsten, unserem Nachbarn. Wenn wir unsere Mitmenschen im Geiste Christi Jesu lieben, beginnen wir, sowohl in uns als auch in anderen die geistige Identität des Seins zu sehen.

Seit frühesten Zeiten ergaben sich große metaphysische Durchbrüche oft durch Fragen, in denen das Pronomen „wer“ vorkam. Am Berge Horeb z. B. blickte Mose tief in sein innerstes Wesen und fragte: „Wer bin ich, daß ich zum Pharao gehe und führe die Kinder Israel aus Ägypten?“ 2. Mose 3:11. Und Jahrhunderte später stellte Jesus seinen Jüngern die tiefgreifende Frage: „Wer sagt denn ihr, daß ich sei?“ Mt 16:15.

Die Antworten auf diese beiden Fragen erleuchten das A und O des Seins. Mose muß einen flüchtigen Eindruck von der Quelle aller Identität — seine eigene eingeschlossen — in der Verheißung Gottes erhascht haben: „Ich will mit dir sein.“ 2. Mose 3:12. Dieses unendliche göttliche Ego — der Ich bin, der ich bin, der mit Mose sein sollte — war tatsächlich immer mit ihm gewesen. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, Josephs und Moses war die Quelle allen Seins, der Vater und die Mutter allen wahren Bewußtseins und aller wahren individuellen Existenz.

Viel später, als Antwort auf die Frage Jesu, bekannte der Apostel Petrus: „Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn!“ Mt 16:16. Diese wichtige Aussage offenbarte, daß das wahre Selbst Jesu weit mehr war als menschliche Persönlichkeit. Seine wirkliche Identität war der unmittelbare Ausdruck, die Emanation, des göttlichen Ego, wie Jesus selbst gesagt hatte: „Ich und der Vater sind eins.“ Joh 10:30.

Fleisch und Blut hatten Petrus diese Einsicht nicht gegeben, denn was der Apostel in diesem Augenblick in seinem Meister sah, war der geistige Mensch, der Sohn des lebendigen Gottes. Petrus’ Bekenntnis war eine Bestätigung des Christus, der geistigen Idee der Gottessohnschaft des Menschen, die Jesus in einzigartiger Weise verkörperte. Was Petrus durch Offenbarung erkannte, war genau das, was Jesus der Welt durch sein Kommen zeigen wollte: daß auch wir die geistigen Söhne und Töchter Gottes, Seine unsterblichen Kinder, sein können — und es in der Tat sind.

Als Jesus z. B. fragte: „Wer ist meine Mutter und meine Brüder?“, antwortete der Meister: „Wer Gottes Willen tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter.“ Mk 3:33, 35. Seine Antwort führt uns weg von den genetischen Fesseln menschlicher Abstammung und sterblicher Personen — aber sie führt uns nicht von denjenigen weg, die wir lieben. Obwohl Jesus der persönliche Erlöser für das ganze Menschengeschlecht war und ist, war er doch immer ein liebender Sohn oder Bruder.

Seine Antwort definiert jedoch die Bedeutung von Familienbanden neu — ja eigentlich die Bedeutung aller Beziehungen: geschäftlicher wie sozialer, öffentlicher wie privater. Jesu Worte schließen niemanden aus, sondern beziehen alle ein. Was uns tatsächlich verbindet, sind nicht Blutbande oder persönliche, politische, soziale oder wirtschaftliche Eigeninteressen, die „uns“ gegen „andere“ abgrenzen. Was uns wirklich vereint, ist der Wille Gottes, der in jedem von uns geschieht. Jesus hob dadurch, daß er den materiellen Sinn von Verwandtschaft entpersönlichte, nicht auf, was schon bestand. Er offenbarte vielmehr die harmonische Beziehung, die zwischen uns allen besteht — den Kindern Gottes und unserem Schöpfer, dem einen Vater-Mutter Gott.

Wenn wir unsere Beziehung und Liebe zu allen Menschen geistig definieren, geben wir keineswegs die Tiefe und Echtheit dessen, was wir jetzt für unsere Familie und unsere Freunde empfinden, auf. Wenn unsere Liebe umfassender wird — ungehindert zu allen ausströmt —, heißt das nicht, daß ihre Intensität abnimmt. Eine umfassende Liebe hebt alle unsere Beziehungen auf eine immer höhere Ebene. Sie nimmt dem Kern der Familie nichts, vielmehr erweitert sie den Familienkreis ständig.

„Das Heim ist der liebste Fleck auf Erden, und es sollte der Mittelpunkt, wenn auch nicht die Grenze der Neigungen sein“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 58., schreibt Mrs. Eddy. Die geistige Liebe, die wir ausdrücken und die der Liebe Gottes zum Menschen Ausdruck verleiht, kennt keine Begrenzungen — weder soziologische noch emotionelle —, die uns irgendwie davon abhalten könnten, jedes Herz auf der Welt zu berühren: unseren Nachbarn und Fremden, Freunden und Feinden Gutes zu tun.

Moses Frage „Wer bin ich, daß ich zum Pharao gehe...?“ konzentrierte sich darauf, wie er sich selbst und seine Beziehung zu Gott sah. Christi Jesu Frage „Wer saget denn ihr, daß ich sei?“ gründete sich darauf, wie seine Jünger ihn und seine Beziehung zu Gott sahen.

Und wenn es um die Liebe zu unserem Nächsten oder Nachbarn geht, fragt der Christus in uns: „Wer sagst du, daß dieser Mensch sei?“ Es kommt schließlich einzig und allein darauf an, wie wir unsere Mitmenschen sehen. In der christlichen Metaphysik ist der „wer“, nach dem gefragt wird, eigentlich niemals eine materielle Person, noch sind es materielle Personen. Wenn in positiver Weise gefragt wird: „Wer ist das nette kleine Mädchen (oder der nette kleine Junge)?“, wird die Antwort richtigerweise auf die geistige Identität des Betreffenden als Ausdruck des großen Ich bin hinweisen.

Wenn die Frage dagegen negativ gemeint ist: „Wer ist der verzogene kleine Fratz?“, ist es sinnlos, einen Namen zu nennen. Er bezieht sich auf eine Lüge, eine Fälschung des individuellen Seins. Nur mit diesem Verständnis kann der Charakter eines Kindes (und der eines Erwachsenen) geläutert werden, nicht indem man einen falschen Charakterzug absichtlich übersieht oder sich der individuellen Verantwortung für die Überwindung eines Fehlers zu entziehen sucht, sondern indem man erkennt und beweist, daß das Böse von vornherein keine Person ist; daß es vielmehr ein grundlegender Irrtum in Sachen wahrer Identität ist — ein Fall von falscher Identifizierung —, der durch den Christus berichtigt werden muß. Der Punkt ist der: Nichts Falsches, ganz gleich, ob geringfügig oder gravierend, kann jemals weder unser wahres, zu Gottes Ebenbild erschaffenes Selbst noch das unseres Nächsten oder Nachbarn richtig definieren.

Jesus lehrte seine Jünger diese grundsätzliche Lektion wissenschaftlichen Christentums, als sie ihn bezüglich eines Blinden fragten: „Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren ist?“ Jesus machte für alle Zeiten die Unpersönlichkeit des Bösen klar, seine fundamentale Unwirklichkeit in der göttlichen Ordnung der Dinge, als er antwortete: „Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.“ Joh 9:2, 3. Mit diesen Worten und dieser Erkenntnis stellte Jesus das Augenlicht des Mannes wieder her — er konnte besser sehen, wer er wirklich war: nicht ein hilfloser Sterblicher, den Launen des Fleisches ausgesetzt, sondern das vollkommene, geistige Geschöpf Gottes, Sein ausdrückliches Ebenbild.

Was der Meister wußte, mußten seine Jünger lernen: daß das Gute — und zwar das Gute allein — jede individuelle Identität (jeden rechtmäßigen „wer“) in Gottes Universum kennzeichnet. Kein geringeres Verständnis kann jemals in täglicher christlicher Praxis auf die grundlegenden Fragen des Lebens: „Wer bin ich?“ und: „Wer ist mein Nächster?“ die richtige Antwort geben.


Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht,
wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?
Und dies Gebot haben wir von ihm, daß,
wer Gott liebt, daß der auch seinen Bruder liebe.

1. Johannes 4:20, 21

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