Manchmal sieht es so aus, als ob gerade die Verschiedenheiten, die unsere Welt so bereichern, auch den Zündstoff für das Aufflammen von rassischen, religiösen, wirtschaftlichen und politischen Vorurteilen lieferten. Wenn aber jeder einzelne diese Brände in seinem Herzen auslöschte, so sollte man doch meinen, daß kaum noch irgend etwas übrigbliebe, was Streitigkeiten fördern oder die Bemühungen um den Weltfrieden untergraben könnte. Doch was muß man tun, um Vorurteile zu heilen? Diese Frage stellte der Herold einigen Christlichen Wissenschaftern, die mit Vorurteilen ihre Erfahrungen gemacht hatten. Es handelte sich um sechs der zweitausendfünfhundert Teilnehmer einer Versammlung von Studenten und Dozenten, die im August 1985 von Der Ersten Kirche Christi, Wissenschafter, in Boston, Massachusetts, USA, veranstaltet worden war. Das Thema dieser Versammlung lautete: „Individuelle Geistigkeit und die Zukunft der Menschheit.“ Drei der Gesprächsteilnehmer waren Dozenten, die drei anderen waren Studenten. Einige Höhepunkte ihres Gesprächs geben wir hier wieder.
(Nigeria): Ich bin Vorurteilen aller Art begegnet, ganz besonders rassischen, und ich bin mit ihnen fertig geworden, indem ich in meinem Leben die Worte der Bibel anwandte: „Haben wir nicht alle einen Vater? Hat uns nicht ein Gott geschaffen?“ Mal 2:10. Ich denke über diese Worte nach, und dann sehe ich wirklich, daß jemand nicht einer anderen Rasse angehört, Bewohner einer anderen Gegend oder Anhänger eines anderen Glaubens ist, sondern die geistige Idee Gottes.
(Südafrika): Ich möchte mich daran anschließen und von einem Erlebnis während meines Aufenthaltes hier in Boston erzählen. Ich hatte an einem Gespräch mit Redakteuren des Christian Science Monitors teilgenommen — zusammen mit anderen Südafrikanern. Und wir meinten, daß man die Verhältnisse in Südafrika nicht mit denen in den Vereinigten Staaten vergleichen könne. Als ich später aus der Bibelausstellung „Ein Licht auf meinem Wege“ ist der Titel einer Multimedia-Ausstellung, die das geistige Licht durch die Seiten der Bibel verfolgt. Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, in Boston, Massachusetts, USA, hat diese Ausstellung eingerichtet und der Allgemeinheit zugänglich gemacht. kam, sah ich eine Schar von Kindern, schwarze und weiße, die in dem Springbrunnen spielten, und plötzlich wurde mir wie durch eine geistige Erleuchtung klar, daß sie ganz den Kindern glichen, die bei uns zu Hause in den Springbrunnen spielen. Es wurde mir bewußt, daß wir alle „Kinder des Lichtes“ 1. Thess 5:5. sind; wir alle haben einen Vater.
(Nigeria): Ich glaube, in meinem Land legen wir viel zu viel Wert auf unsere ethnische Herkunft, und deswegen gibt es keine Einheit. In Nigeria erkennt man einzelne ethnische Gruppen an besonderen Merkmalen. Doch ich erinnere mit meinem Äußeren nicht an eine bestimmte ethnische Gruppe; gewissermaßen habe ich mir alle ethnischen Eigenschaften Nigerias zu eigen gemacht. Viele bitten mich, ihnen zu sagen, zu welchem Stamm ich gehöre, und viele sind erstaunt, wenn ich es ihnen sage, weil sie wissen, daß ich mich nicht wie jemand aus diesem Kulturgebiet verhalte und daß ich alle gleich behandle. Dahinter steht die Tatsache, daß ich als Christlicher Wissenschafter die ganze Menschheit als eine Einheit betrachte, und daran denke ich, und so handle ich im Umgang mit allen Menschen. Gott ist wirklich meine Hilfe bei dieser Wahrheitsbehauptung.
(Vereinigte Staaten): Das erinnert mich an eine Erfahrung unserer Familie aus der Zeit, als wir nach Japan umzogen. Es war unsere erste Auslandserfahrung; mein Leben lang hatte ich der vorherrschenden Kultur angehört. Zum ersten Male waren wir jetzt Teil einer Minderheit.
Ich bin 1,70 Meter groß, und so konnte ich praktisch über die gesamte japanische Bevölkerung, Männer und Frauen eingeschlossen, hinwegsehen. Wenn ich abends aus der Stadt nach Hause kam, sagte ich oft: „Ich bin zu groß.“ Wenn ich mit der Eisenbahn fuhr und dieses herrliche, glänzende schwarze Haar sah, sagte ich häufig bei meiner Rückkehr: „Mein Haar ist zu lockig.“ Sehr bald kamen mir Gedanken wie: „Ich bin häßlich. Ich kann mich nicht ausstehen.“
Wir unterhielten uns darüber im Familienkreis im Sinne der Christlichen Wissenschaft. Wir mußten klarer verstehen, daß die körperlichen Merkmale, die wir um uns herum sehen, nicht den Menschen Gottes ausmachen; die Eigenschaften Gottes verkünden uns, daß wir schön sind. Zunächst schmerzte es, als nicht akzeptabel betrachtet zu werden. Aber wir arbeiteten daran, bis wir damit fertig wurden, bis diese „Andersartigkeit“, die die Grundlage aller Vorurteile ist, uns nicht mehr beunruhigte. Diese Heilung riß die Mauer ein, die sich auftürmt, wenn man einer anderen Religion, einem anderen Geschlecht, einer anderen Altersgruppe, Gesellschaftsschicht oder Sprachgemeinschaft angehört. Der Christus zerstört diese „Andersartigkeit“.
(Nigeria): Man kann zu einer Gruppe gehören und sich trotzdem in bestimmten Situationen isoliert fühlen. Das ging mir so, als ich nach einem zweijährigen Aufenthalt in Großbritannien nach Nigeria zurückkehrte. Ich meinte, großartige Ideen für mein Land mitgebracht zu haben, und mußte feststellen, daß meine Studenten und Kollegen meine Ideen für nicht akzeptabel hielten.
Zu der Zeit kannte ich die Christliche Wissenschaft noch nicht. Ein Jahr lang hatte ich mich von allen religiösen Dingen ferngehalten, denn was ich davon wußte, hatte mich nicht befriedigt. Die Frage war: Konnte ich Jesus Christus weiterhin als meinen Erlöser betrachten, ohne zu verstehen, warum ich tat, was ich tat? So blieb ich für mich allein. Das machte mich voreingenommen gegen viele Nigerianer — und sie gegen mich.
Ich wußte nicht, ob mich irgend jemand in meiner Umgebung überhaupt mochte; ich meinte, sie alle haßten mich — so hatte ich es auch in Großbritannien an der Lehranstalt erfahren, die ich als Schwarzer besuchte. Dort hatte ich mich darüber hinweggesetzt, hier in Nigeria konnte ich das aber nicht.
Schließlich stieß ich auf die Christliche Wissenschaft. Und von diesem Augenblick an war es mir möglich, mich nicht mehr als über allen anderen erhaben zu sehen, sondern bereitwillig einen Teil meines persönlichen Stolzes aufzugeben, der mich von anderen Menschen getrennt hatte.
Ich muß Ihnen sagen, es dauerte mehr als ein Jahr, bis meine Studenten meine Ideen annahmen. Ich stand große seelische Qualen aus, doch ich fuhr fort, darüber zu beten. Es wurde mir plötzlich klar, was es bedeutet, wenn Paulus sagt: „Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen.“ Röm 10:12. Ich erkannte, daß Vorurteile entstehen, wenn man sich selbst über andere Menschen stellt. Und wenn wir davon loskommen, erkennen wir, daß wir auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind.
Emmanuel: Bei mir an der Universität gibt es Leute, die predigen, daß bestimmte Menschen Gottes Kinder seien, andere aber nicht.
(ehemals aus Nordirland): Kürzlich wurde mir erklärt, daß in Irland von den Extremisten auf beiden der sich bekämpfenden Seiten diese Ansicht vertreten werde — daß einige nicht Gottes Kinder seien.
Nancy: Ist das die ganze Wahrheit? Oder ist es nicht auch ein wirtschaftlicher Kampf zwischen den Besitzenden und den Nichtbesitzenden?
Paul: Die Situation hat immer mehr einen politisch-wirtschaftlichen Charakter angenommen.
Emmanuel: Aber um diese widerstreitenden Ansichten zu heilen, muß man sich über die Ebene der Glaubensrichtungen erheben und den wirklichen, vollkommenen Menschen der Schöpfung Gottes sehen.
Paul: Ja, das große Vorurteil besteht gewiß darin, daß der Mensch ein Sünder sei. Und dann — es hängt damit zusammen — entsteht ein Vorurteil daraus, daß man sich aus einem philosophischen oder wirtschaftlichen System seine eigenen Götter bastelt.
Interviewer: Man muß also die grundlegende Auffassung über das Wesen des Menschen in Frage stellen?
Paul: Auch die Auffassung über das Wesen Gottes. Ein richtiges Verständnis von Gott würde nicht zu materieller Anbetung oder zur Erschaffung anderer Götter neben dem einen Gott führen. Und ein richtiges Verständnis vom Menschen würde nicht zu der Annahme führen, er sei ein Sünder.
Interviewer: Doch was heißt das, den vollkommenen Menschen zu sehen, über den Sünder, den Konflikt, die Gewalttätigkeit hinauszuschauen?
Emmanuel: Es heißt u. a., daß wir aufhören müssen, uns auf die fünf körperlichen Sinne zu verlassen, die uns über das Wesen des Menschen täuschen. Wir verneinen nicht einfach das Böse. Wir dekken es auf und zerstören es. Es hat keine Macht. Doch es behauptet, Macht zu haben. Wir müssen es aufspüren: wir müssen es in seiner trügerischen Form erkennen — und dann bereuen. Wir reinigen unser Denken von abergläubischen Annahmen.
Eric: Wir müssen es in unserem eigenen Denken berichtigen, jeder für sich. Wir müssen unsere Mitmenschen als vollkommene Schöpfung Gottes sehen und einander lieben, wie wir uns selbst lieben — wirklich in allen Menschen Gottes Schöpfung sehen. Diese Läuterung unseres Denkens wird alle um uns her segnen. Je besser wir unsere eigene Geistigkeit verstehen lernen, um so mehr Menschen können wir segnen, und auf diese Weise können wir ihnen die Hand reichen.
Nancy: Denken wir daran, daß wir die Welt in unserem Bewußtsein umfassen. Und nur so kann Gebet eine Wirkung haben. Es ist ja nicht so, daß alle diese Probleme weit weg von uns in den verschiedenen Ländern auftreten und wir als kleine Leute zu Hause sitzen, darüber beten und denken: „Was kann ich schon ausrichten?“ Wenn wir nicht darangehen und unsere Welt im Bewußtsein vergeistigen und sie in unserem Bewußtsein in den Himmel der Seele erheben, dann wird es weiterhin so scheinen, als wäre die Welt in einem fürchterlichen Zustand.
Interviewer: Hat wohl jemand ein Beispiel dafür, wie man in einem Fall betet, der vielleicht nicht die eigenen Vorurteile betrifft?
Eric: An unserer Universität gab es Probleme mit dem Sonderwohnheim für schwarze Studenten. Die schwarzen Studenten wurden immer aufgebrachter, weil ihre Unterkünfte in einem unzumutbaren Zustand waren. Sie entschlossen sich, bei der Verwaltung vorzusprechen. In einem vorher verbreiteten Flugblatt hatten sie erklärt, daß sie einen Marsch auf das Verwaltungsgebäude veranstalten würden, falls dieses Gespräch — wie erwartet — nicht in ihrem Sinne verlaufen werde.
Jeder an der Universität interessierte sich für die Angelegenheit, und man ergriff Partei. Viele waren für die Sache der schwarzen Studenten. Man meinte, daß sie ein Recht auf menschenwürdige Unterbringung hätten, genauso wie die weißen Studenten. Es gab aber auch solche, die gegen sie voreingenommen waren wegen ihrer Hautfarbe.
Wir setzten uns in unserer Christlich-Wissenschaftlichen Hochschulvereinigung zusammen — wir waren nur zwei — und stellten fest, daß wir etwas unternehmen müßten. Unsere Versammlung fand zur gleichen Zeit statt wie die andere Zusammenkunft. Es wurde uns klar, daß wir die Angehörigen beider Parteien lieben und wissen mußten, daß Gott die Lösung hatte. Das war alles, was wir tun zu können glaubten — eben beide Seiten zu lieben und eine Lösung von Gott zu erwarten. Wir waren sicher, daß auch andere beteten.
Als nächstes hörten wir, daß alle Studenten zum Verwaltungsgebäude marschierten. Es war ein langer Zug. Polizeihubschrauber flogen voraus, und bewaffnete Polizei war überall auf der Straße. Die Studenten marschierten zur Verwaltung, der Anführer ging hinein und gab irgend jemand da drinnen Brief und sagte: „Wir danken Ihnen sehr für die Lösung unserer Probleme.“
Interviewer: War es eine gute Lösung?
Eric: Ja — keine endgültige Lösung, aber es war ein Anfang.
Mojisola: Wirklich, wir sollten wie die kleinen Kinder werden. Als ich in den sechziger Jahren in England aufwuchs, hatte ich überhaupt keine Ahnung von Vorurteilen, auch meine Eltern nicht. Meine Altersgenossen sagen: „Na, da hast du Glück gehabt.“ Das ist natürlich auch wieder ein Vorurteil. Aber ich kann mich nicht im geringsten an irgendein Vorurteil erinnern. Darum ist es wichtig, in unserem Denken wie ein kleines Kind zu werden.
Emmanuel: Das erinnert mich an etwas, was Mrs. Eddy lehrt: „Geliebte Kinder, die Welt braucht euch — und mehr als Kinder denn als Männer und Frauen: sie braucht eure Unschuld, Selbstlosigkeit, treue Liebe, eure unbefleckte Lebensführung. Ihr müßt auch wachen und beten, daß ihr diese Tugenden unbefleckt bewahrt und sie nicht durch die Berührung mit der Welt verliert. Welch höheres Streben könnte es geben, als das in euch zu erhalten, was Jesus liebte, und zu wissen, daß euer Beispiel mehr als eure Worte die Sittlichkeit der Menschheit bestimmt!“ Vermischte Schriften, S. 110.
Isaac: Ich hoffe nur, daß wir nach diesem Treffen hier alle nach Hause fahren und das Erlebte an andere weitergeben. Es ist das erste Mal, daß ich einen von denen getroffen habe [Isaac nickt Eric zu, einem weißen Südafrikaner]. Ich sage „einen von denen“, aber er ist nicht einer von denen; er ist einer von uns. Dies ist eine sehr gute Gelegenheit, denn woher hätte ich wissen sollen, daß er so herzlich sein kann. Ja, ich hätte nie geglaubt, daß ich je neben ihm sitzen würde.
Nancy: Ich liebe das Bild, von dem wir vorhin sprachen. Im Geiste kann ich die schwarzen und weißen Kinder zusammen im Springbrunnen spielen sehen. Es ist ein anschauliches Beispiel dafür, was uns die Zukunft bringen kann.
