Georg war älter als wir. Er war „etwas langsam“ — so nannten es andere beschönigend. Georg unterschied sich von den übrigen Schülern durch seine Größe, seine körperliche Reife und seine Schwierigkeiten mit den Schulaufgaben. Und weil er anders war, stand er oft allein da. Wahrscheinlich habe ich mehr Zeit mit Georg verbracht als die anderen Kinder. Ich mochte ihn. Er war sanft und gutmütig und nicht nachtragend.
Während der Sommerferien sah ich Georg nicht. Er wohnte zu weit weg. Am ersten Tag des neuen Schuljahrs traf ich Georgs Mutter und seine Schwester. Bei der Gelegenheit hörte ich die schreckliche Nachricht, daß Georg gestorben war. Es war nicht klar, ob es ein Unfall gewesen war oder ob er selber Hand an sich gelegt hatte. Doch das war es nicht, was mich damals am meisten bewegte. Tatsache war ganz einfach: Georg war nicht mehr da. Georg und sein Schicksal hinterließen einen nachhaltigen Eindruck in meinem Leben. Diese Erfahrung veranlaßte mich, den Wert des Lebens gründlicher zu durchdenken. Ich wollte die Nähe Gottes und den Wert des Menschen so fühlen, daß mich nichts wieder von dieser Gewißheit trennen konnte.
Unzählige Ereignisse im Leben des einzelnen mögen dazu beitragen, ihn geistig unwiderruflich so zu verändern, daß er für die Christliche Wissenschaft bereit ist und sich genötigt sieht, sich mit dem göttlichen Prinzip zu befassen, das die Grundlage ihrer geistigen Verheißung ist und auf dem ihr Heilen beruht. Erschütternde Ereignisse können diese geistige Wende sogar noch beschleunigen.
Die Christliche Wissenschaft zeigt, daß Gott nicht verborgen oder weit entfernt ist. Das Verlangen eines Menschen, gut zu sein, geliebt zu werden und gesund zu sein, ist Ihm nicht fremd. Die für viele Menschen so bedeutungsvolle Verheißung der Christlichen Wissenschaft liegt in der Offenbarung, daß Gott, die göttliche Wahrheit, das göttliche Leben und die göttliche Liebe, bein uns ist, um uns zu trösten und zu heilen.
Das Wort heilsam ist heute etwas aus der Mode gekommen, aber es beschreibt doch einen wichtigen Umstand. Das Ergebnis des Studiums und der Anwendung der Christlichen Wissenschaft ist ein heilsames Leben, das zu Stabilität, Güte und Heilung führt — sowohl geistig als auch körperlich. Mrs. Eddy spricht von dem weitreichenden Einfluß der Christlichen Wissenschaft auf das Leben des einzelnen und schreibt: „Diese Wissenschaft bessert und erneuert die Menschheit, indem sie sie durch das Licht und die Liebe der Wahrheit von allem Irrtum erlöst. Sie gibt dem Menschengeschlecht ein erhabeneres Verlangen und neue Möglichkeiten... Sie bewegt das Gemüt zu geistigeren Äußerungen, bringt Ordnung in die Tätigkeit, verleiht eine strengere Auffassung von der Wahrheit und ein stärkeres Verlangen nach ihr.
Wenn wir nach einem edleren Leben hungern und dürsten, werden wir es erreichen und Christliche Wissenschafter werden, Gott recht verstehen lernen und etwas von dem idealen Menschen wissen, dem wirklichen Menschen, der harmonisch und ewig ist.“ Vermischte Schriften, S. 235.
Bei mir nahm dieses Hungern und Dürsten durch den Verlust meines Freundes zu. Er trug dazu bei, mein Suchen in eine neue Richtung zu lenken, die meinem Leben neuen Sinn und Zweck geben und es von der Bedrohung durch absichtliche oder zufällige Zerstörung erlösen würde.
Die Nachrichtenmedien befassen sich heute oft ausführlich mit den Schwierigkeiten junger Menschen, mit anscheinend schweren seelischen Erlebnissen fertig zu werden. Man macht sich Sorgen um die mentale Gesundheit der Kinder. Doch zu geistiger Gesundheit gehört mehr als nur die Fähigkeit, mit menschlichen Erlebnissen fertig zu werden. Mentale Gesundheit im tiefsten geistigen Sinn bedeutet, daß man sich selber richtig erkennt und den Menschen als Ausdruck von Gottes Sein begreift. Diese geistige Vorstellung, die den Menschen als Ausdruck Gottes versteht, wirkt wie ein Sauerteig im menschlichen Bewußtsein. Sie verleiht uns neue Kraft, gibt dem Leben einen neuen Sinn und führt zu neuen Einblicken in das wahre Wesen jedes einzelnen als des ewigen, geliebten Kindes Gottes.
Wenn man die Lehren der Christlichen Wissenschaft studiert und besonders darauf achtet, daß man es mit der Christlichen Wissenschaft zu tun hat, wird man bald feststellen, daß hier immer wieder vom „Gesetz“ die Rede ist. In der Christlichen Wissenschaft ist das göttliche Gesetz die Grundlage für das Heilen körperlicher oder seelischer Leiden. Doch das Gesetz ist hier keine unpersönliche, kalte, gefühllose Gewalt. Vom göttlichen Gesetz läßt sich sagen, daß es genauso behutsam und zart ist und uns umwandelt wie es mächtig und göttlich und ewig ist. In Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy heißt es: „Zartheit begleitet alle Macht, die der Geist verleiht.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 514.
Diese grundlegende geistige Wahrheit — auch wenn sie nur schwach erkannt wird — beginnt im menschlichen Bewußtsein zu arbeiten. Sie erhebt und gibt Hoffnung, wo kein materieller oder körperlicher Grund zur Hoffnung zu bestehen scheint. Die tiefgründige, geistige Vorstellung, die daran festhält, daß der Mensch jetzt das vollkommene Kind Gottes ist, wirkt wie ein regenerierendes Mittel und führt tatsächlich zu einer Veränderung unseres Lebens, unserer Motive und Ziele. Bei meinem weiteren Studium der Christlichen Wissenschaft fiel mir besonders auf, daß derselbe geistige Sinn die Menschen wirklich wieder zur Vernunft bringen kann, indem er dem menschlichen Denken und Streben christliche Ruhe und Ausgeglichenheit gibt. Wenn man anfängt, den Menschen als Bild und Gleichnis Gottes zu sehen, als von Natur aus aufrecht, geachtet und fähig, sich selbst zu regieren, stabilisiert sich das menschliche Denken. Diese geistige Einsicht beginnt augenblicklich, die materiellen Prozesse unwirksam zu machen, die die Menschen der Sünde, der Krankheit und dem Schmerz unterwerfen — was sich in seelischer Unausgeglichenheit oder einem gestörten chemischen Haushalt äußern kann.
Eine solche Geistigkeit gibt den Menschen „ein erhabeneres Verlangen und neue Möglichkeiten“, die die menschliche Hoffnung nicht zerstören noch den Sucher nach Gottes teurer Liebe enttäuschen. Wenn der Weg zur vollständigen Demonstration dieses Heilens auch lang ist, so empfängt das menschliche Herz doch durch die Tatsache, daß auf dieser Grundlage Heilungen bewirkt worden sind, neue Hoffnung. Dadurch wenden wir uns von einer dunklen und tragischen Lebensauffassung dem Licht der Liebe zu.
Im Verhalten Christi Jesu dem Gerasener gegenüber findet der Christliche Wissenschafter ein Musterbeispiel für die Heilung seelischer Leiden. Verlassen und allein, war dieser Mann in die Untiefen der geistigen Umnachtung und Selbstzerstörung abgesunken. Wir wissen nicht, was ihn in seinem Leben so weit gebracht hatte. Aber wir wissen, daß er wieder bei klarem Verstand war und in die Gemeinde zurückkehrte, zu der er gehörte. Das Evangelium berichtet, daß Jesus „Teufel“ aus dem Mann austrieb. Wichtig ist, daß das Böse nicht als der Mann angesehen wurde. Und so konnte er wiederhergestellt werden und wieder ein verantwortungsvolles Leben führen. Den Auftrag dazu erhielt er von dem Meister. (Siehe Lk 8:26–39.)
Dieselbe christliche Kraft ist auch heute verfügbar, um Männern, Frauen und Kindern ihren klaren Verstand wiederzugeben, damit sie die greifbare Gegenwart Gottes als ihr Leben, ihre Wahrheit und ihre Liebe fühlen und erkennen und verstehen können. Das ist die Bedeutung des göttlichen Gesetzes bei der christlich-wissenschaftlichen Behandlung. Selbst aus den traurigsten Ereignissen des Lebens heraus kann das Heilen weiter vorangetrieben werden.
 
    
