„Jetzt bin ich soweit, daß ich alle Politiker mag, außer Soundso“, sagte unsere Bekannte, zufrieden mit dem Fortschritt, den sie gemacht hatte, doch mit Bedauern, was diese Ausnahme anbetraf. Durch ihre Feststellung veranlaßt, fragte ich mich, was das heißt, diesen oder jenen Minister oder Senator zu mögen, und wie es damit bei mir aussah. Solche Fragen müssen natürlich nicht auf Politiker beschränkt bleiben, sondern können sich allgemein auf unsere Ansichten über andere beziehen.
Der Schlüssel zur Überwindung negativer Einstellungen anderen gegenüber liegt in unserer Bereitschaft, den Nächsten zu lieben. Und der reinste und höchste Begriff von Liebe in diesem Zusammenhang ist der, von dem Johannes in der Bibel spricht, wenn er sagt: „Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe.“ 1. Joh 4:8. Liebe ist also nicht nur eine Eigenschaft Gottes, sondern sie ist Gott selbst. Gott als Liebe zu kennen heißt, das Wesen Gottes zu verstehen. Und die göttliche Qualität der Liebe auszudrücken heißt, Gott Ausdruck zu geben.
Der menschlichen Auffassung zufolge bedeutet Liebe Geben und Empfangen (oder zu erwarten, daß wir etwas empfangen). Diese Liebe nähert sich der göttlichen Widerspiegelung in dem Verhältnis, wie sie von materiellen Zielen und Wünschen frei wird. Mit den Worten der Bibel: „Geben ist seliger als nehmen.“ Apg 20:35. Dies ist die Liebe, mit der Christus Jesus liebte, als er die Kranken heilte, Sünden vergab, die Menge speiste und den Menschen die Güte Gottes offenbarte. Seine Liebe war so hochherzig und so ohne jede Selbstsucht, daß er für die Menschheit und ihren Fortschritt sein Leben gab. „Jesu Wunsch, seine teuer erkauften Schätze reichlich in leere oder sündenerfüllte menschliche Schatzkammern hineinströmen zu lassen, war die Inspiration zu seinem großen menschlichen Opfer“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 54., schreibt Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit.
In ihrer reinsten Form kommt Mutterliebe der Liebe nahe, die Jesus ausdrückte. Sie ist selbstlos und beständig — ganz gleich, welche Schwierigkeiten sich ihr entgegenstellen. „Die Liebe einer Mutter kann ihrem Kinde nicht entfremdet werden, da die Mutterliebe Reinheit und Beständigkeit in sich schließt, die beide unsterblich sind" Ebd., S. 60., heißt es in Wissenschaft und Gesundheit.
Der Apostel Paulus hat mit beredten Worten die christliche Nächstenliebe beschrieben. In seinen Darlegungen im 13. Kapitel des ersten Korintherbriefes offenbarte er seinen Freunden, daß diese Liebe den höchsten Weg zur Erlösung darstellt. Nur wenn wir diese Liebe haben und leben, so sagte er ihnen, werde die geistige Dimension jener Dinge sichtbar, die als äußere Zeichen des Christentums gelten, wie etwa die Gabe der Prophetie oder sogar des Glaubens. Er erkannte, daß die Liebe beim Aufgeben irdischer Güter, sogar beim Opfern des sterblichen Lebens, ein wesentlicher Faktor sein muß, wenn solche Taten einen Sinn haben sollen.
Die folgenden vertrauten Eigenschaften, die Paulus anführt, bilden für alle Zeiten die Grundlage für ein christliches Leben: Geduld, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Freundlichkeit. Da Paulus das sogenannte Gemüt der Sterblichen gut kannte, führte er aber auch aus, was diese Liebe, die das Göttliche spiegelt, nicht ist. Sie ist nicht neidisch, anmaßend, stolz, gierig oder empfindlich.
Wenn geistige Liebe unser Bewußtsein erfüllt, sehen wir die Welt mit anderen Augen an. Nur das Gute und Reine sind für uns von Wert. Dem, was nicht gut oder rein ist, gestehen wir weder Gewicht, Einfluß noch Macht zu. Und hat das, was sich dem Guten zu widersetzen scheint, keinen Rückhalt mehr im Denken, so hat es auch keinen Rückhalt mehr in der Materie und tatsächlich keine, wie auch immer geartete Existenz. „Die einzige Macht des Bösen ist die der Selbstzerstörung“ Ebd., S. 186., erklärt Wissenschaft und Gesundheit.
Wenn wir die geistige Liebe ständig leben und uns bemühen, jeden Aspekt unseres Lebens von ihr durchdringen zu lassen, dann lassen wir uns zunehmend von einer höheren Moral leiten. Unser Menschenbild wird vergeistigt und hilft uns so, das wahre Wesen unserer Mitmenschen zu erfassen — und damit auch das Wesen Gottes, der unser Vater und unsere Mutter, allgegenwärtige Liebe und allgegenwärtiges Leben ist.
Wo immer diese Liebe gelebt wird, versucht man nicht nur, das geistig Wahre im Mitmenschen zu erkennen — man erkennt es. Dieses Verstehen oder Erkennen setzt uns in den Stand, in unseren Ansichten über unseren Nächsten erstens die Spreu vom Weizen zu trennen, das Falsche vom Wahren, das Sterbliche vom Unsterblichen, und zweitens die Spreu (in unserem Bewußtsein) zu verbrennen, so daß, durch das Feuer der Wahrheit gereinigt, nur die rechte Idee vom Menschen darin zurückbleibt — die nicht mit jemandem in Konflikt geraten kann.
Die Liebe Gottes kennen und Seinem Willen gehorchen, das ist der Schlüssel zu harmonischen Beziehungen. Dort, wo diese Liebe ist, ist auch Verstehen, Frieden und Harmonie. Der Apostel Paulus schreibt: „Nicht daß wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber; sondern daß wir tüchtig sind, ist von Gott.“ 2. Kor 3:5. Wenn wir lieben, spiegeln wir Gott wider, der stets Liebe ausdrückt, Seiner Schöpfung stets zärtlich zugetan ist. Daher hat die Liebe, die wir ausdrücken, ihre Quelle tatsächlich nicht in uns, ist auch nicht unser persönlicher Besitz. Andererseits gehört ein Mangel an Liebe genausowenig zu uns. Wenn ich sage, ich mag diesen oder jenen nicht, so bedeutet das, daß ich mich selbst nicht richtig kenne und jenen anderen erst recht nicht. Die göttliche Natur eines anderen — seine Geistigkeit und Vollkommenheit — zu leugnen heißt, unsere eigene zu leugnen.
„Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“ 1. Kor 13:12., erklärt Paulus. Schließlich werden wir alle dieses volle Verständnis von uns selbst erreichen, und wir werden einander erkennen, wie Gott uns bis in alle Ewigkeit kennt: als wahrhaft getreue Widerspiegelung der göttlichen Liebe. Und dieses Verständnis schließt reine Liebe in sich; es verbürgt weltweite Verständigung, Frieden und Harmonie.
In der Firma, in der ich während der 40er Jahre arbeitete, gab es einen hochqualifizierten Angestellten, der zu allen Mitarbeitern ein sehr schlechtes Verhältnis hatte. Nachdem er einen Vorgesetzten angegriffen hatte, wurde er in die Abteilung versetzt, die ich leitete.
Zuerst war ich versucht, mich den Befürchtungen und der schlechten Stimmung der anderen, die nun mit ihm zusammenarbeiten mußten, anzuschließen. Aber dann wurde mir klar, daß es gut wäre, die Situation im Lichte dessen zu betrachten, was die Christliche Wissenschaft über Gott und unser wahres Sein sagt. Von da an hielt ich jedesmal, wenn ich an den Betreffenden dachte, Ausschau nach den Eigenschaften, die den wahren Menschen, die Idee Gottes, ausmachen. Ich hielt zum Beispiel nach Zeichen von Liebe, Intelligenz, Weisheit und Güte Ausschau. Auf diese Weise konnte ich nicht auf ihn herabsehen. Es stellte sicher, daß ich ihn genauso wie all die anderen Mitglieder der Abteilung behandelte, mit denen mich ein ausgezeichnetes und freundschaftliches Verhältnis verband.
Als ich fortfuhr, auf diese Art Liebe auszudrücken, entfaltete sich die Situation harmonisch. Ich ließ mich führen und beschloß, ihn mit einem ruhigen, zurückhaltenden Angestellten zusammenarbeiten zu lassen. Das Ergebnis war ausgezeichnet, und das nicht nur für diese beiden, sondern für alle, mit denen sie zusammenarbeiteten. Als dieser Mann sich so anerkannt und geachtet fühlte, wurde er zugänglich und erwies sich als sehr ungezwungen und freundlich im Umgang mit Kollegen und Vorgesetzten. Seine Versetzung, die eigentlich als Bestrafung gedacht war, war tatsächlich eine Bereicherung für alle. Ich habe aus diesem Fall viel gelernt, und er hat mir oft als Wegzeichen gedient, wenn ich mich ähnlichen Problemen gegenübersah.
Wenn ihr das königliche Gesetz erfüllt
nach der Schrift:
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“,
so tut ihr recht.
Jakobus 2:8
