Vor einigen Jahren lebte ich in einem moslemischen Land. Ich wohnte in einem kleinen Bungalow am Strand, der an ein armes Stadtviertel angrenzte. Dort hatte ich viele Freunde. Einer von ihnen war der Imam — der Vorbeter in der Moschee. Hin und wieder sprach ich mit diesem sympathischen Herrn über seine Religion, weil ich sie besser verstehen wollte.
Eines Tages beschloß ich, ihn zu fragen, wie der Islam Gott definiert. Ich war überzeugt, daß ich als Christlicher Wissenschafter die beste Definition hatte — als ob die Definition von Gott etwas wäre, was man besitzen kann, und nicht etwas, wonach man sein Leben ausrichten sollte! Als ich über den Strand zu seinem sehr bescheidenen Haus hinüberging, hegte ich wohl ähnliche Gedanken wie der Pharisäer in Jesus Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner im Tempel.
Nach der üblichen Begrüßung stellte ich meine Frage. Die Antwort, die er mir gab, wurde zu einer der wichtigsten Lehren meines Lebens. „Wenn du alle Zweige von allen Bäumen in der Welt als Schreibfedern nehmen würdest“, antwortete er, indem er ein Bild aus dem Koran benutzte, „und das Wasser aller Seen, Flüsse, Ströme, Brunnen und Meere der Welt als Tinte, könntest du doch nicht all die Namen, all die Eigenschaften Gottes aufschreiben.“ Verblüfft schwieg ich einen Augenblick. Da fügte er hinzu: „Weißt du, du bist ein besserer Moslem als die meisten Moslems um mich herum.“ Ich faßte das so auf, daß ihm meine Lebensweise gefiel.
Im Klassenunterricht in der Christlichen Wissenschaft zitierte unser Lehrer ein kleines Gedicht des amerikanischen Dichters Edwin Markham. Es lautet:
Er zog einen Kreis, der schloß mich aus —
Ketzer, Rebell, zu verspottendes Ding.
Aber Liebe und ich hatten genug Verstand, um zu gewinnen:
Wir zogen einen Kreis, in dem war er drin! „Outwitted.“
Genauso hatte sich mein Freund mir gegenüber verhalten — mit einer Liebe, die immer alle einschließt, hatte er sachte die Mauer meiner Selbstgerechtigkeit niedergerissen.
Was man vielleicht eine Wir-und-die-anderen-Einstellung nennen könnte, scheint ein universelles Merkmal der menschlichen Rasse zu sein. Paradoxerweise scheint diese Haltung im religiösen Bereich besonders hervorzutreten, trotz des Gebetes unseres Meisters Christus Jesus für seine Nachfolger, daß „sie alle eins seien“.
Wir lassen uns so leicht dazu verleiten, Trennungslinien zu ziehen, die auf gesellschaftlichem Rang, auf Rasse, äußerer Erscheinung, Kultur, Benehmen, Sprache, Akzent, auf politischer oder religiöser Zugehörigkeit, Gehabe, Reichtum, Geschlecht, Meinungen und allen möglichen Annahmen beruhen. Doch wenn wir das tun, handeln wir der ausdrücklichen Anweisung Mary Baker Eddys zuwider, der Entdekkerin und Gründerin der Christlichen WissenschaftChristian Science (kr’istjən s’aiəns), die schreibt: „Ich empfehle, daß Wissenschafter keinen Unterschied machen zwischen der einen Person und einer anderen, sondern daß sie die Wahrheit der Christlichen Wissenschaft denken, sprechen, lehren und schreiben, ohne sich auf rechte oder unrechte Persönlichkeit auf diesem Arbeitsfelde zu beziehen“ (Nein und Ja).
Trennungslinien zu ziehen — die Wir-und-die-anderen-Einstellung — ist eine Versuchung, die von Zeit zu Zeit an jeden von uns herantritt. Diese Tendenz ist besonders heimtückisch auf dem Gebiet der Religion und der Metaphysik. Wenn andere in unseren Augen die Wahrheit „nicht haben“ oder geringer sind als wir oder nicht fähig, gegenwärtig so viel von der Wahrheit zu verstehen wie wir — wieviel das auch sein mag —, haben wir Dualismus und Uneinigkeit in unser Leben eingelassen. Und die Christlichen Wissenschafter könnten mehr tun, um nicht in diese Falle zu geraten. Wie oft hören wir Aussagen wie: „Er ist kein Christlicher Wissenschafter, aber ...“ oder: „Obwohl er kein Christlicher Wissenschafter ist ...“ und viele ähnliche, die eine Welt beschreiben, die angeblich in zwei Lager aufgespalten ist, nämlich Christliche Wissenschafter und „die anderen“!
Ich war überrascht, als eines Tages jemand, den ich sehr bewundere, zu mir sagte: „Gott hat nie etwas von den Worten Christliche Wissenschaft gehört.“ Sicherlich kennt Gott Sein eigenes Gesetz, das Seine geistige Schöpfung regiert, und die Christliche Wissenschaft ist die Offenbarung dieses Gesetzes. Aber durch diese Feststellung meines Freundes erkannte ich, wie leicht es ist, sich mit Worten zu befassen anstatt mit der Substanz, die dahintersteckt. In der menschlichen Sprache sind Wörter, Ausdrücke und Begriffe wie Wegweiser, die auf eine bestimmte Wirklichkeit hinzeigen — sie sind nie die Wirklichkeit selbst. Es kann jemand die Bibel auswendig lernen, aber dennoch nicht viel wahre Geistigkeit ausdrücken.
Mit einzigartiger Geistigkeit und Klarheit wahrt die Christliche Wissenschaft die geistige Einheit nicht nur aller Menschen in Gott, sondern auch des ganzen Universums als Seiner göttlichen Offenbarwerdung. „Gott ist Sein eigenes unendliches Gemüt, und Er bringt alles zum Ausdruck“, schreibt Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift. Wenn also Gott noch nie die Worte Christliche Wissenschaft gehört hat, dann hat Er auch nie von einer bestimmten Gruppe gehört, die sich „Christliche Wissenschafter“ nennt! Er kann nur Seine eigenen geistigen Ideen kennen, die wir Seine Kinder nennen. Diese tragen keinen Stempel, den sie von der menschlichen Geschichte geerbt haben oder der ihnen durch soziologische Kriterien aufgedrückt wurde. Und wenn wir uns die sechs oder sieben Definitionen genauer ansehen, die Mrs. Eddy für einen „Christlichen Wissenschafter“ gibt, werden wir uns viel mehr davor in acht nehmen, diese Bezeichnung einfach gedankenlos als eine weitere religiöse Einordnung zu verwenden.
Sie schreibt zum Beispiel, daß ein echter Christlicher Wissenschafter jemand ist, der die Inspiration Jesu besitzt und ihre Kraft, zu heilen und zu retten. Sie schreibt, daß ein wahrer Christlicher Wissenschafter jemand ist, der alles um Christi willen verläßt. Und heißt das nicht auch, danach zu streben, alle menschlichen Meinungen und Urteile aufzugeben, alle Furcht, allen Groll, alle Kleinlichkeit und persönliche Kritik, jede Spur von Sinnlichkeit und Apathie, alle Resignation und Entmutigung — mit anderen Worten, alle begrenzenden Merkmale?
Sobald wir jedoch verstehen, daß die Bewegung der Christlichen Wissenschaft eine Gedankenbewegung ist, wie unsere Führerin es nennt, und nicht eine rein menschliche Organisation, ist es so viel einfacher, uns von diesem kleinlichen Dualismus der Abstempelung zu befreien. Wir teilen nicht länger Personen oder Sterbliche in Gruppen ein, sondern unterscheiden vielmehr zwischen verschiedenen Denkweisen. Wir erkennen plötzlich, daß das, was in unseren Augen den „Nichtwissenschafter“ ausmacht, viel mehr mit unseren eigenen Auffassungen zu tun haben könnte als mit den Leuten „da draußen“. Vielleicht ist es der „Nichtwissenschafter“ in uns, mit dem wir uns befassen sollten — was immer in unserem Denken noch erlöst werden muß.
Das Herz und die Seele dieser Gedankenbewegung ist ein klareres Verständnis von der göttlichen Liebe, die alle menschlichen Abstempelungen beseitigt, auch diejenigen, die die Menschen als krank, sündig, unehrlich, drogenabhängig, unmoralisch und dergleichen bezeichnen. Die göttliche Liebe befähigt uns, alle Abstempelungen zu durchschauen und die vollkommene, geistige Substanz wahrzunehmen, die die wahre Identität eines jeden ausmacht.
Ein Christlicher Wissenschafter, der in einem tropischen Land arbeitete, bewies das. Er war Redakteur einer Zeitschrift, die sich mit den sozialen und strukturpolitischen Fragen einer Gegend beschäftigte, in der aufgrund weitverbreiteter Arbeitslosigkeit die Prostitution eines der Hauptprobleme darstellte. Im Verlauf seiner Arbeit mußte er eine Umfrage über die Prostitution in verschiedenen Ländern machen. Während dieser Nachforschungen befand er sich an einem Ostersamstag in einer großen Hafenstadt. Seine Aufgabe bestand darin, in einem höchst fragwürdigen Hotel Prostituierte zu interviewen.
Da er noch nie so etwas getan hatte, war er etwas nervös. Bevor er hinging, betete er deshalb eine volle Stunde in seinem Zimmer. Er machte sich einfach ganz klar, daß es im Reich Gottes keine Ideen gibt, die den Stempel „Prostituierte“ tragen. Und als er betete, fühlte er auch, daß er Christi Jesu Beispiel folgen und auf jedes menschliche Bedürfnis nach Heilung ansprechen konnte, das vielleicht im Verlauf des Abends zum Ausdruck kommen würde.
Als er die rauchige Bar betrat, fiel sein Blick sofort auf eine junge Frau, von der er einen mentalen Hilferuf zu empfangen schien. Er setzte sich an den Tisch neben ihr und fing an zu beten. Wenige Minuten später kam eine junge Prostituierte an seinen Tisch. Wie sich herausstellte, war sie eine Freundin der Prostituierten, die er bei seinem Eintritt in die Bar bemerkt hatte. Sie rief ihre Freundin herüber. Nachdem sie mit dem Mann über ihre Arbeit gesprochen hatten, ging die Unterhaltung mühelos und ganz natürlich auf das Thema der Christlichen Wissenschaft über. Nach einer kleinen Weile zeigten die beiden jungen Frauen solches Interesse, daß er in sein Hotel zurückging, um für sie christlich-wissenschaftliche Literatur zu holen.
Am nächsten Tag — es war Ostern — trafen sich die drei wieder. Und auch am Montag abend, nachdem der Mann den ganzen Tag in verschiedenen Bars in der Stadt Interviews aufgenommen hatte, setzte er sich mit der jungen Frau, die er kennengelernt hatte, zusammen, weil sie von ihm mehr über Gott und Seine göttlichen Gesetze und über die Beziehung des Menschen zu Gott hören wollte. Dieses Mal schlossen sich ihnen drei andere junge Prostituierte an, und was nun folgte, hatte der Mann noch nie erlebt, wenn er mit anderen über die Christliche Wissenschaft gesprochen hatte. Die Erfahrung war so außergewöhnlich. Einmal kam eine fünfte Frau in das Zimmer und schlug den anderen vor, mit ihr in einen bestimmten Nachtclub zu gehen. Ihr Vorschlag wurde von einer der Anwesenden zurückgewiesen mit den Worten: „Laß uns in Ruhe. Wir sind im Himmel.“
Der Mann, der Tausende von Kilometern entfernt lebte, reiste nach seinem kurzen viertägigen Aufenthalt wieder ab; doch er blieb mit der Frau in Verbindung. Hin und wieder schickte er ihr Kassetten, auf denen er weitere geistige Wahrheiten mit ihr teilte. Er sah sie einige Jahre später noch einmal wieder, verlor dann aber den Kontakt mit ihr, als sie in ein anderes Land zog. Trotzdem hatte er das Gefühl, daß die Wahrheiten, über die sie miteinander gesprochen hatten, niemals verlorengehen konnten. Vor allem aber lernte er, daß keine Abstempelung der Welt der göttlichen Liebe widerstehen kann — der Liebe, die beständig sein Denken beherrscht hatte und alle Suggestionen von Sinnlichkeit, insbesondere aber jedes Gefühl, urteilen zu wollen, ausgeräumt hatte.
Die größten Gewinner in diesem Prozeß der „Entstempelung“ können nur wir sein. Wie traurig und begrenzend ist letztendlich ein Leben in einer engen, gedanklichen Zelle mit einem reichlichen Vorrat an Stempeln. Selbst wenn man gelegentlich daraus ausbricht, eilt man doch vielleicht allzuschnell wieder zurück mit einem Seufzer der Erleichterung, „daß ich nicht bin wie die andern Leute“ (Lukas).
Vor allem halten wir uns mit dieser Wir-und-die-anderen-Einstellung von anderen fern, oft aus Furcht, unsere Ansichten ändern, überdenken oder erweitern zu müssen. Wer jedoch die erquickende Freiheit der Gotteskindschaft wahrhaftig akzeptiert hat, erlebt täglich die geistige Tatsache, daß die göttliche Liebe niemals ausschließt, sondern immer einschließt. Und die Mauern, die wir abreißen müssen, sind niemals anderswo als in der materiellen Annahme, auch sterbliches Gemüt genannt, die gar nicht unser Denken ist. Es ist lediglich eine gedankliche Täuschung, die versucht, uns hereinzulegen, aber vergebens, denn: „Der Irrtum ist ein Feigling vor der Wahrheit“, wie es in Wissenschaft und Gesundheit heißt.
Wahrheit, nicht unsere menschlichen Bemühungen, zerstört Mauern. Und wenn wir die überwältigende und uns Macht gebende Tatsache eingestehen, daß wir, wie es in der Bibel heißt, „Christi Sinn“ haben — und dieser Sinn unser einziges wahres Gemüt ist —, erkennen wir, daß die Mauern niemals existiert haben, außer in einem vermeintlichen sterblichen Traum. Wir entdecken, was für ein unglaubliches Vorrecht es ist, ein Leben zu leben, das alle Menschen einschließt und umfängt und keine ausschließt und abstempelt. Wir entdecken, wie es der Apostel Paulus so wunderbar sagte: „Es sei Paulus oder Apollos oder Kephas, es sei Welt oder Leben oder Tod, es sei Gegenwärtiges oder Zukünftiges, alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes“ (1. Korinther).