Stephen war elf Jahre alt, und er ging mit seinen Sachen sorglos um. Er war nicht etwa absichtlich nachlässig. Es gab einfach zu viel, was ihn beschäftigte — Aufregendes, wie zum Beispiel Fußballspielen in der Schulmannschaft, Segeln mit Freunden oder das Mithelfen auf einem nahegelegenen Bauernhof bei der Aufzucht von Kälbern und Lämmern. Und dann noch das Angeln. Ja, am allerliebsten ging Stephen angeln.
Kurz vor den Sommerferien hatte ihm seine Mutter einen wunderschönen Regenmantel gekauft. Eines Tages erlaubte sie ihm, den Mantel auf dem Schulweg zu tragen, denn es regnete stark. Stephen fühlte sich darin so mollig warm eingepackt und trocken, daß ihm der Regen überhaupt nichts ausmachte.
An jenem Tag ging seine Schulklasse zum Schwimmunterricht in eine Schwimmhalle, die ziemlich weit von seinem Zuhause entfernt lag. Stephen machte dieser Unterricht Spaß. Er hatte sich zu einem recht guten Schwimmer entwickelt und meinte, daß er vielleicht schon bald in die Schwimmannschaft seiner Schule aufgenommen würde.
Eine knappe Woche später regnete es wieder. Stephen suchte überall nach seinem neuen Regenmantel. Aber er war nicht im Haus. Dann fiel Stephen ein, daß er ihn auf dem Weg zur Schwimmhalle angehabt und ihn nicht mit nach Hause gebracht hatte.
Im Schulsekretariat sagte man ihm, daß es sich nicht lohne, bei jener Schwimmhalle anzurufen, da sie einen so schlechten Ruf habe. Nichts sei dort sicher — die Umkleideschränke würden immer aufgebrochen, und alles werde gestohlen, was unbeaufsichtigt liegenblieb. Stephen war sich nun sicher, daß er seinen Mantel an einem Haken im Umkleideraum hängengelassen hatte. Er war ganz niedergeschlagen.
Stephens Mutti meinte, daß er etwas Besseres tun könne, als sich nur Vorwürfe zu machen. Sie könnten nämlich aus dieser Sache etwas über Gebet lernen.
„Stephen, was bedeutet dir dein Regenmantel?“ Da er glaubte, seine Mutter meinte den Gegenwert in Geld, erwiderte er: „Neunzehn Pfund“ (ungefähr sechzig Mark).
„Nun gut, ich wollte aber wissen, was er symbolisiert. So wie eine Fahne zum Beispiel ein Symbol für Vaterlandsliebe ist.“
Und so sprachen dann Stephen und seine Mutti darüber, daß der Mantel ein Symbol ist für Schutz, für Wärme und Liebe. Am meisten aber für Liebe. Seine Mutti und sein Vati hatten ihm diesen Regenmantel gegeben, weil sie ihn liebten. In ihrer Liebe spiegelte sich Gottes Gegenwart und Seine Fürsorge für Seine Schöpfung wider. Da wir ja alle die Kinder des einen Vater-Mutter Gottes sind, können uns die sichtbaren Zeichen für Gottes Liebe nicht genommen werden. Gute Eigenschaften gehören uns und können nicht beeinträchtigt oder angezweifelt werden. Genauso wichtig ist es, daß jeder die Eigenschaften der Liebe in sich trägt. Gottes Kinder haben alles, was sie brauchen, und das immer.
Als Stephen mit seiner Mutti zusammen betete, wurde ihm klar, daß er immer beschützt gewesen war, weil Gott, Liebe, Alles ist. Das bedeutete, daß das Gute, das sein Regenmantel symbolisierte, ebenfalls in Gott sicher war.
Von Stephens erstem Schultag an hatte seine Mutter darauf geachtet, daß sie beim Beten alle Kinder mit einschlossen, denen Stephen begegnete — niemand befand sich außerhalb der Liebe Gottes.
Sie dachten auch über Mrs. Eddys Gedicht „, Weide meine Schafe!‘ “ nach, insbesondere über die Verszeilen „Hirte, ... zeig den Weg mir klar ... Ich will lauschen Deinem Ruf, irr’ ich im Geheg ... Trage Deine Lämmlein heim, warm an Deiner Brust ...“ Immer wenn Stephen an dieses Gedicht dachte, und das kam oft vor, schloß er seine Klassenkameraden mit ein; er sah sie auch als „Lämmlein“.
Als seine Mutti schließlich bei der Schwimmhalle anrief, erfuhr sie, daß der Regenmantel sicher aufbewahrt worden war. Er hatte tagelang im Umkleideraum gehangen, ehe ihn ein Angestellter weggeschlossen hatte. Der Mantel war nicht einmal angerührt worden. Selbst das Geld, das Stephen in die Manteltasche gesteckt hatte, war noch da.
Das war eine gute Lehre; sie half der ganzen Familie ein paar Wochen später bei einem Campingurlaub. Stephen hatte einige Freunde mitnehmen dürfen, und das Angeln machte ihnen allen viel Spaß.
Eines Nachmittags holten Mutti und Vati die Jungen vom Hafen ab. Sorgfältig zurrte Stephen mit den anderen die Angelruten auf dem Gepäckträger des Autos fest, damit sie auf dem Heimweg zum Zeltplatz nicht herunterfallen würden.
Als sie sich am nächten Tag fertigmachten, um wieder angeln zu gehen, konnte Stephen nirgends seine Angeltasche finden. Sie war ziemlich groß, so groß, daß man darauf sitzen konnte, und sie enthielt seine ganze Spezialausrüstung: Haken und Fliegen, Bleigewichte und Angelschnüre und viele andere Schätze.
Da erinnerte sich Stephen an das, was er gelernt hatte, als er seinen Regenmantel vergessen hatte. Sofort war er sich bewußt, daß die Eigenschaften des geistigen Menschen, den Gott erschaffen hat, ihm gehörten und ihm nicht genommen werden konnten. Stephen war sich auch sicher, daß er diesmal nicht nachlässig gewesen war. Er erinnerte sich daran, daß er seine ganze Ausrüstung eingepackt und zum Auto gebracht hatte.
Stephen betete mit seiner Mutti, und sie wußten, daß die göttliche Liebe immer gegenwärtig war und sie führte. Sie beschlossen, zum Hafen zurückzufahren, obwohl das nicht sehr sinnvoll erschien. In diesem geschäftigen Fischerdorf im englischen Cornwall war es recht unwahrscheinlich, zumal während der Urlaubssaison, daß sich jemand daran erinnern würde, solche Tasche gesehen zu haben. Aber immer wieder kam der Gedanke, daß sie es zuerst beim Hafen versuchen sollten, noch ehe sie sich mit der Polizei in Verbindung setzen würden. Auf dem Wege dorthin erblickte Stephen seine Tasche neben einer Mauer, an der sein Vati das Auto geparkt hatte. Dann erinnerte sich sein Vati daran, daß er die Tasche dort abgestellt hatte; er gab zu, daß diesmal nicht Stephen derjenige war, der nachlässig gewesen war.
Du kannst dir vorstellen, wie froh sie waren, daß sie die Tasche so schnell gefunden hatten.
Was Stephens Mutter lernte
Zu dieser Geschichte gibt es eine Vorgeschichte, die von Interesse sein mag, da sie uns auf die wertvollen Lektionen, die wir lernten, vorbereitete. Als Stephen ein knappes Jahr zuvor jener Schule zugeteilt worden war, hatte mir die Lage der Schule überhaupt nicht zugesagt. Die Schule hatte zwar, was ihren Lehrplan betraf, einen guten Ruf, lag jedoch etliche Kilometer von unserem Haus auf der anderen Seite eines sehr geschäftigen Stadtzentrums und war nur einige hundert Meter von einem verrufenen Viertel entfernt. Die Kinder aus jener Nachbarschaft waren auch berechtigt, diese Schule zu besuchen.
Anfangs wollte ich zur Schulbehörde gehen und nachfragen, ob nicht eine andere Schule in Frage kommen könnte; ich war äußerst ungehalten. Als ich jedoch darüber betete, setzte sich das, wie es in der Bibel heißt, „stille, sanfte Sausen“ der Wahrheit durch. Mir wurde nach und nach bewußt, daß sich diese Entscheidung für die Schule und auch für Stephen als Segen erweisen konnte. Wir beide bekräftigten immer wieder, daß er als Gottes Kind immer an seinem richtigen Platz war. Und daß dem so war, zeigte sich ganz deutlich. Stephen verbrachte an dieser Schule sieben glückliche Jahre.
Wir waren uns auch bewußt, daß die Erkenntnis, wo unser rechter Platz ist, nicht nur für Stephen galt, sondern für jeden Schüler. Wie die Christliche Wissenschaft lehrt, können Gottes Ideen nur die Güte und Reinheit der göttlichen Liebe widerspiegeln.
Wenn ich betete, stützte ich mich besonders auf Mrs. Eddys Worte in den Vermischten Schriften: „Die Guten können ihren Gott, ihre Hilfe in Zeiten der Not, nicht verlieren. Wenn sie das göttliche Gebot falsch verstehen, werden sie das berichtigen, ihre Anordnungen widerrufen, zurückgehen und Seine Befehle wieder in Kraft setzen, um dann mit größerer Sicherheit vorwärtszudringen.“ Während der ersten Monate nach der Einschulung wurde Stephen manchmal etwas schikaniert, aber er hielt das nicht der Rede wert, und nie wurde ihm etwas gestohlen. Die Lehrer waren sehr darüber verwundert, daß der Regenmantel wieder auftauchte, doch wir wären erstaunt gewesen, wenn es nicht so gewesen wäre.
Die größte Freude erlebte ich kurz vor Stephens Schulabgang. Ein sechzehnjähriger Junge kam auf mich zu, um mir zu sagen, daß Stephen auf ihn und seine Kameraden einen positiven Einfluß gehabt habe. Er sagte das ohne jedes Anzeichen von Verlegenheit und meinte dann weiter, daß manchmal eine Gruppe Jungen auf dem Spielplatz spielte und dabei die Idee bekommen habe, einfach so zum Spaß, jemandem einen besonders gefährlichen Streich zu spielen oder etwas zu stehlen. Meistens versuchten sie, Stephen zum Mitmachen zu bewegen. Er aber habe ihnen immer gesagt, daß er nicht viel von Streichen halte. Sie kämen ihm dumm vor; er wolle lieber Fußball spielen. Der Junge sagte dann, daß ihnen dann immer irgendwie die Lust an diesen „Späßen“ vergangen sei, so daß sie statt dessen mit Stephen Fußball spielten. Zum Schluß sagte er noch, daß Stephen für sie kein Tugendbold war, sondern ein guter Freund.
Wie dankbar bin ich doch Gott für diesen Beweis, daß unser Gebet erhört wird, und das auf so praktische Weise.
