Eine dreieinhalbstündige Kirchenversammlung — deren einziger Tagesordnungspunkt die Wahl dreier Vorstandsmitglieder und eines Präsidenten war — scheint unglaublich lang. Wo ist da die Effizienz? Könnte nicht jemand eine Möglichkeit finden, den Wahlvorgang zu beschleunigen? Und da ich in dieser Zweigkirche Christi, Wissenschafter, gerade Mitglied geworden war, kannte ich ohnedies keins der Mitglieder, die für die Wahl in Frage kamen. Wie hätte ich da wählen können?
Diese und andere Fragen gingen mir durch den Kopf, als ich meine erste Kirchenversammlung verließ, auf der Wahlen stattgefunden hatten. Ich nahm mir vor, bei nächster Gelegenheit die Möglichkeiten für eine Satzungsänderung zu prüfen, um das Wahlverfahren zu verbessern. Ich dachte auch daran, eine Unmenge von christlich-wissenschaftlichen Zeitschriften auf die nächste Wahlversammlung als Lektüre mitzunehmen. Aber es kam anders, als ich erwartet hatte. Denn während der folgenden Wochen und Monate gewann ich schrittweise eine geistigere Einstellung zur Kirche und eine größere Wertschätzung für den Sinn und Zweck des Dienens in unseren Zweigkirchen.
Jede Zweigkirchentätigkeit, an der wir uns beteiligen, gibt uns die Gelegenheit, in der Kirchenfamilie geistwärts zu wachsen und die Gegenwart und Macht des Christus anzuerkennen. So sehen wir in den kirchlichen Wahlversammlungen nicht nur einen geschäftsmäßigen Vorgang, sondern eine Gelegenheit, die Arbeitsweise der Christlichen Wissenschaft zu demonstrieren, die Entfaltung des Guten.
Wenn wir die Versammlung von diesem Standpunkt aus betrachten, werden wir die negativen Gedanken, die während einer Wahl aufgerührt werden, völlig anders einschätzen. Vielleicht kommt uns zum Beispiel der Gedanke: Viele Mitglieder sind gar nicht bereit, ein Amt zu übernehmen. Oder: Streichen Sie bitte meinen Namen von der Kandidatenliste! Oder wir denken: Wir haben nicht viele Männer in unserer Kirche. Oder: Ich hoffe, daß ich nicht in den Vorstand gewählt werde; ich habe schon genug um die Ohren. Herrn ... werde ich nicht wählen, der ist zu oft verreist. Oh, Frau ... können wir nicht wählen; die Vorstandssitzungen finden abends statt, und abends fährt sie nicht mehr Auto. Und so weiter und so weiter.
Woran hapert es bei diesen Gedanken? In Wissenschaft und Gesundheit finden wir folgende Gewissensfrage: „Sind die Gedanken göttlich oder menschlich?“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 462. Können solche begrenzenden Gedanken über uns oder andere irgend etwas Gutes bewirken? Sind sie wirklich nützlich und fair, oder hindern sie uns eher daran, eine inspirierte Entscheidung zu treffen?
Um unsere Gedanken von Begrenzungen zu lösen, eignen sich die Fragen: Wie sieht Gottes Plan aus? Ist nicht Sein Plan immer gut? Eine kirchliche Wahlversammlung gibt uns die Gelegenheit (und wichtig ist, daß wir es als eine freudige Gelegenheit sehen), zu bekräftigen, daß Gemüt die Richtung angibt und die Leitung hat. Diese Versammlungen können dazu beitragen, daß wir wachgerüttelt werden und uns von jeder Vorstellung über menschliche Personalität abwenden, daß wir aufhören, uns auszumalen, wie das Gute für uns oder andere aussehen könnte, und erkennen, daß allein Gottes Wille geschieht. Das Gebet des Herrn sagt uns klar und deutlich, wessen Wille befolgt werden soll; es versichert mit Bezug auf Gott, unseren Vater: „Dein Wille geschehe.“ Mt 6:10.
Wir werden uns der göttlichen Inspiration mehr öffnen, wenn wir unsere Gedanken vom Körper abwenden und den Menschen nicht als sterbliche Person betrachten, sondern ihn nur so sehen, wie Gott ihn gemacht hat — geistig, als Bild und Gleichnis Gottes. In den Vermischten Schriften schreibt Mary Baker Eddy: „Ernstlich rate ich allen Christlichen Wissenschaftern, die persönliche Vorstellung von irgendwem aus ihrer Beobachtung oder Betrachtung auszuschließen und nicht in Gedanken bei der eigenen Körperlichkeit oder der anderer, weder als gut noch als böse, zu verweilen.“ Verm., S. 308.
Wie wäre es, wenn jeder von uns während einer kirchlichen Wahlversammlung die Zeit vor, während und nach einer Wahl im stillen Gebet verbringen würde? In unserem Gebet können wir die Allheit Gottes bekräftigen und die Intelligenz, die der Mensch als Gottes Ebenbild widerspiegelt. Und in unseren Gebeten können wir verneinen, daß irgend etwas wirklich ist, was Gott unähnlich ist. Wie wäre es, wenn wir jeden Gedanken, der die Demonstration eines anderen begrenzt oder vorzeichnet, ersetzten und auf den Christus, auf die Wahrheit, lauschten, damit er uns führe? Dann würde erkannt, worum es in einer Kirchenversammlung, ob sie nun dreieinhalb Stunden oder dreieinhalb Tage dauert, wirklich geht: darum, daß jedes Mitglied sein Denken läutert, daß jeder betet, um christusgleich zu sein.
Im Laufe der Jahre habe ich viel über Wahlversammlungen nachgedacht und für sie gebetet, und vor einigen Jahren hatte ich das Privileg (so sehe ich es heute, an jenem Abend war ich mir da nicht so sicher), das in die Tat umzusetzen, was ich über Gottes Willen gelernt hatte, und Seinem Plan zu vertrauen.
Ich nahm an einer kirchlichen Wahlversammlung teil und erkannte Gottes Führung an — mir war bewußt, daß das eine Gemüt Sein Universum vollständig regierte. Ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, daß ich eine mögliche Kandidatin für ein Kirchenamt sei, da mein Mann gerade eine zweijährige Amtsperiode im Vorstand beendet hatte, wir ein einjähriges Kind hatten und ich viele andere in unserer gar nicht so kleinen Kirche für sehr viel fähiger hielt. Außerdem erwartete ich ein zweites Kind (was allerdings noch nicht äußerlich sichtbar war). Für mich war die Zeit für ein Kirchenamt noch nicht reif. So sah die menschliche Argumentationskette aus.
Dennoch ließ ich meinen Namen nicht von der Liste der möglichen Kandidaten streichen. Ich war zur Amtsübernahme bereit, falls das Gottes Wille für mich sein sollte, was ich mir aber nicht vorstellen konnte. Und doch wurde ich gewählt.
Sechs Versammlungen wurden in jenem Jahr anberaumt, in dem ich den Vorsitz führen sollte. Der Termin für die Sitzung im Mai lag nur wenige Tage vor der Geburt meines Kindes. Die notwendige Vorbereitung auf jede dieser Sitzungen diente einem heiligen Zweck; sie half mir, meine Gedanken vom Selbst abzukehren und der Kirche und der Brüderschaft aller Menschen zuzuwenden. Für jede Sitzung fand sich mit Leichtigkeit ein Babysitter. Alles Nötige wurde auf geordnete Weise erledigt. Die Kleine schlief, noch ehe ich zu diesen Sitzungen aufbrach, obwohl sie einen anderen Schlafrhythmus gewohnt war.
Ich überwand das Gefühl der Unzulänglichkeit und Fremdheit hinsichtlich all dessen, was ich über den Vorsitz einer Versammlung wissen mußte, als ich erkannte, daß Christus das Haupt der Kirche ist, und mich bei meinen Vorbereitungen mit der Satzung und der Geschäftsordnung vertraut machte. Ich wurde mir bewußt, daß diese Sitzungen den einzelnen Mitgliedern die Möglichkeit bieten, das christliche und heilende Gebet, das sie an der Christlichen Wissenschaft so schätzen, in die Tat umzusetzen. Ich war gewählt worden, um nur eins von vielen Kirchenämtern auszufüllen. Ich lernte, daß es in der Kirche nicht um die Frage geht: „Wer ist der größte unter euch?“ Gott ist der große Eine — und die Quelle aller Fähigkeit und Vollmacht.
So war es in der Tat etwas ganz „Großes“ für mich — ein Jahr, in dem mein Wachstum an Demut und Menschenliebe am größten war. Dabei habe ich auch Fehler gemacht, aber aus allen lernte ich etwas.
Wir sollten unsere Arbeit in den Zweigkirchen niemals auf die leichte Schulter nehmen. Unsere Kirchenfamilie bereitet uns einen Ort, an dem unsere Vorstellungen über die göttliche Liebe heranreifen können. Wenn wir sagen: „Streichen Sie bitte meinen Namen“, so könnte das bedeuten, daß wir eine herrliche Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen.
