Hast Du Schon einmal das Gefühl gehabt, am Ufer eines Flusses zu stehen, während deine Eltern dich vom anderen Ufer aus beobachten? Ich ja.
Als ich ins 9. Schuljahr kam, änderte sich mein Verhältnis zu meinen Eltern. Anscheinend gab es nichts mehr, worin wir einer Meinung waren. Hinzu kam, daß meine Eltern mir viele Dinge nicht erlaubten, die ich gern tun wollte. Daraus ergab sich mancher Streit.
Ich hörte auf, mit meinen Eltern darüber zu sprechen, was ich tat und was mich beschäftigte, weil ich das Gefühl hatte, daß sie mich einfach nicht verstanden. Statt dessen besprach ich alles mit meiner besten Freundin. Dennoch war ich verärgert und beunruhigt, und ich begann zu beten, um einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, die — meiner Meinung nach — ganz und gar ungerecht war.
Wenn man eine solche Situation erlebt, fallen einem meistens mehrere Möglichkeiten ein, wie man sie lösen könnte. Zum Beispiel: mit den Eltern gar nicht über sein Leben, seine Probleme oder Schwierigkeiten reden und sich nur auf Freunde verlassen, um so einen offenen Streit zu vermeiden. Oder: die Eltern deutlich fühlen lassen, daß man über sie verstimmt ist und sich unverstanden fühlt — in der Hoffnung, daß sie nachgeben. Vielleicht ist einem auch schon der Gedanke gekommen, daß es das beste sei, einfach auszuziehen.
Wenn einem daran liegt, eine Lösung zu finden, die der ganzen Familie zugute kommt, kann man sich um Führung und Inspiration an Gott, die göttliche Liebe, wenden. Das Verständnis, daß der Mensch Gottes geistiges Kind ist, gibt uns die Möglichkeit, in heilender Weise auf Familienzwistigkeiten zu reagieren. Wie unüberwindlich die Trennung zwischen Eltern und Kindern auch zu sein scheint, die Macht der göttlichen Liebe kann Meinungsverschiedenheiten überwinden und neue Brücken schlagen.
Am Anfang der Bibel lesen wir: „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib.“ Wenn Gott wirklich der Schöpfer des Menschen ist, dann ist Er ein wahrer Vater und eine wahre Mutter. Alle Kinder Gottes sind somit Brüder und Schwestern. Auch ist Gott in einem ganz tiefen Sinne das Gemüt des Menschen, und der Mensch als das geistige Ebenbild des Gemüts bringt die Güte, Weisheit und Inspiration Gottes zum Ausdruck. Dieses geistige Selbst, um das es hier geht, hat nicht die Fähigkeit, neben dem Guten auch Böses auszudrücken, weil Gott — der Ursprung des Menschen — ganz und gar gut ist.
Wenn wir glauben, die Ansichten unserer Eltern seien einfach überholt und zu wenig flexibel, werden wir wahrscheinlich ständig Meinungsverschiedenheiten mit ihnen erleben, während das geistige Verständnis, daß der Mensch der Ausdruck des Gemüts ist, die Annahme durchbricht, daß Konflikte unumgänglich seien, wenn unterschiedliche Meinungen und Standpunkte aufeinandertreffen. Das göttliche Gemüt ist allerhaben; und an dieser geistigen Wahrheit über uns und die anderen Familienmitglieder festzuhalten ist vielleicht der wichtigste Beitrag, den wir zum Familienfrieden leisten können.
In der Bibel gibt es Stellen, die uns der Allerhabenheit Gottes versichern und uns die beste und unserem Fortschritt dienlichste Art zu leben aufzeigen. In den Zehn Geboten zum Beispiel werden Familienbeziehungen in folgendem Gebot angesprochen: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“, und es folgt eine Verheißung, nämlich „auf daß du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.“ Hier nimmt das Gebot Bezug auf die Zeit, in der die Israeliten in dem Land leben würden, das Gott ihnen verheißen hatte. Es handelt sich bei diesem Land nicht einfach um einen geographischen Ort; vielmehr kann es — wie viele Symbole in der Bibel — als ein Bewußtseinszustand verstanden werden. Für mich bedeutet dieses Land das Verständnis, daß das Dasein des Menschen geistig, ewig und harmonisch ist und von Gott regiert wird.
Manchmal sind wir vielleicht so verbittert, daß wir unsere Eltern gar nicht als Kinder Gottes sehen wollen. Gewiß, Familienverhältnisse sind sehr unterschiedlich und können manchmal aufgrund von Mißverständnissen und Fehlverhalten regelrecht zugrunde gerichtet werden. Doch Verbitterung hindert uns daran, das Gute zu erkennen, das es auch gibt. Wenn wir etwas Gutes finden, wofür wir dankbar sein können, tragen wir zur Heilung bei. Vielleicht erinnern wir uns bestimmter kluger oder liebevoller Handlungen unserer Eltern, oder wir können die Geduld aufbringen, zu verstehen, warum sie bestimmte Dinge sagen oder tun. Solch aufrichtige Dankbarkeit und das ehrliche Bemühen, den Standpunkt anderer zu begreifen, läßt ganz natürlich den Wunsch in uns entstehen, sie zu achten und zu verstehen — ihre wahre geistige Natur zu sehen — und von allen anderen Empfindungen Abstand zu nehmen.
Als ich damals so schlecht mit meinen Eltern auskam, machte ich die Erfahrung, daß Gebet und eine größere Bereitschaft zu lieben Veränderungen zum Positiven bewirkten.
Dadurch, daß ich mehr von meiner geistigen Identität verstehen lernte, war ich in der Lage, meinen Stolz zu überwinden und mehr Demut und Achtung zum Ausdruck zu bringen. Das war natürlich nicht immer leicht. Ich versuchte auf jede nur mögliche Art und Weise mit meinen Eltern ins Gespräch zu kommen, mich mitzuteilen und Themen zu finden, über die wir miteinander sprechen konnten.
Im Laufe der Jahre wurde unsere Beziehung harmonischer. Ich hörte auf, mich fortwährend selbst zu rechtfertigen, indem ich stets herauszufinden versuchte, wer meiner Meinung nach recht oder unrecht hatte. Ich erkannte, daß es wichtigere Dinge gibt. Menschliche Meinungen sind nur sterbliche Gedanken und oft weit entfernt von der geistigen Wahrheit. Schritt für Schritt gewann ich ein neues Verständnis von der grundlegenden Wahrheit: Gott und Seinem Ausdruck, dem Menschen. Der Schöpfer und Seine Schöpfung sind gut, und die ständige Tätigkeit des Guten ist das Wahre und Wirkliche.
Wenn ich heute auf diese Zeit zurückschaue, stelle ich fest, daß ich alle Freiheit erhielt, die ich brauchte, jedoch nicht unbedingt all die Freiheit, die ich damals für wünschenswert hielt. Das Verhältnis zu meinen Eltern ist jetzt von Liebe bestimmt, und es wird von Tag zu Tag besser.
Die Christliche Wissenschaft vertritt eine wichtige Auffassung in bezug darauf, wie man ein glückliches Leben führt. Und die unterscheidet sich wesentlich von der ichbezogenen Vorstellung vom „Glücklichsein“, die die meisten von uns im Sinn haben. Mrs. Eddy schreibt in ihrer Botschaft an die Mutterkirche für 1902: „Glück besteht darin, gut zu sein und Gutes zu tun; nur was Gott gibt und was wir uns selbst und den anderen durch Seinen Reichtum geben, verleiht Glück; bewußter Wert befriedigt das hungernde Herz, und nichts anderes vermag es.“ Unser Glück wird auf eine bleibende Grundlage gestellt, wenn es auf Geben gegründet ist und wir es nicht davon abhängig machen, was wir bekommen oder auch nicht bekommen. Dann entdecken wir, welche Freude es macht, aktiv bei der Gestaltung eines glücklichen Zuhauses mitzuwirken.
Wir brauchen die allgemeine Meinung, daß Entfremdung von der Familie und Reibungen im Zusammenleben normal und unvermeidlich seien, nicht zu akzeptieren. Statt Auseinandersetzungen zu provozieren, können wir uns als Friedensstifter betätigen.
Möglicherweise kommen wir zu dem Schluß, daß wir in unserer Familie mehr Liebe geben können. Natürlich ist die Frage: „Wie?“ In einem seiner Briefe an die Korinther schreibt Paulus, daß die Liebe stark und beständig ist: „Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie läßt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf.“
Wenn wir in jeder Situation die Herrschaft Gottes zum Wirken kommen lassen und uns der Tätigkeit des Christus, der Wahrheit, öffnen, die unser Bewußtsein umwandelt, wird Frieden unser Leben bestimmen.
Wir alle tragen Verantwortung für die Atmosphäre in unserem Zuhause. Anstatt Meinungsverschiedenheiten zwischen Eltern und Kindern als unabänderlich zu betrachten, kann jeder von uns damit beginnen, Brücken der Liebe, Geduld und Hoffnung zu bauen. Das göttliche Gemüt als Vater-Mutter aller und der Mensch als Sein Ausdruck sind die richtige Grundlage, auf der wir bauen können.