Als Ich Heranwuchs, fand ich es nicht leicht, die Frage „Wer bin ich?“ zu beantworten. Es war eine unbequeme Frage. Manchmal hatte ich Vorbilder, die ich nachahmen wollte, aber die unterschieden sich gewöhnlich sehr von der Person, für die ich mich hielt. Ich wäre der Frage am liebsten aus dem Weg gegangen, doch das Leben zwang mich, mich damit auseinanderzusetzen und mich zu entscheiden, was ich mit meinem Leben anfangen und wer ich sein wollte.
In der Regel sind es Zeiten der Veränderung, in denen die Frage nach unserer Identität zentrale Bedeutung erhält. Ein Arbeitsplatzwechsel, der Umzug in eine andere Gegend, Heirat, Scheidung — das sind Ereignisse, die uns neu prägen. Oft lösen sie Unsicherheit aus. Dann wünschen wir uns, daß unsere Identität nicht veränderlich sei. Die Menschen wünschen sich, fest verwurzelt zu sein, sehnen sich nach Stabilität, nach etwas Sicherem.
Obwohl wir in einem wissenschaftlichen Zeitalter leben, sind die Naturwissenschaften uns keine große Hilfe, wenn es um die Frage der Identität geht. Ich schlafe nicht besser, wenn ich weiß, daß ich zu 70 Prozent aus Wasser bestehe. Ich fühle mich nicht sicherer, wenn ich weiß, daß ich nach einem zufälligen genetischen Muster gebildet bin. Die Feststellung, daß ich ein Säugetier der Gattung Homo sapiens bin, gibt keine abschließende Antwort auf die Frage der Identität.
In diesem Jahrhundert glaubten manche, daß die Naturwissenschaften an die Stelle der Religion treten würden. Doch das ist nicht geschehen, weil die Naturwissenschaften auf grundsätzliche Fragen wie diese keine Antwort geben können. Wir suchen nach etwas, was darüber hinausgeht. Wir wissen, daß unsere Identität mehr ist, als daß man sie wie einen Schmetterling in einem Schaukasten auf einer Stecknadel aufspießen könnte.
Es ist hilfreich, sich bewußt zu machen, daß das Wort Identität von dem lateinischen Wort idem abgeleitet ist, das „der gleiche“ bedeutet. In diesem Begriff der „Gleichheit“ liegt der Schlüssel zu der Entdeckung, wer wir sind. Wenn wir glauben, daß die Materie oder die Biologie die Grundursache des Seins sei, dann glauben wir, daß wir diesen gleich sind: materiell und biologisch. Wenn wir glauben, daß Gott, das heißt Geist, die Grundursache ist, dann glauben wir, daß wir Ihm gleich sind: göttlich und geistig. Wir spiegeln das wider, was die Ursache unseres Seins ist.
Wenn wir Geist als die Grundursache anerkennen, haben wir entschieden, daß das Wesen und die Beschaffenheit von allem, was existiert, geistig sind. Vielleicht meinen Sie, das sei „weltfremd“, aber dem ist nicht so. Geistig steht für Güte, Unveränderlichkeit, Vollkommenheit, Schönheit, Harmonie, Gesundheit, Tätigkeit. Wenn wir unsere Identität im Geist finden, bringen wir diese Eigenschaften zum Ausdruck. Die Individualität, die Geist erschafft und erhält, wird für uns greifbarer.
Geist, Gott, hat weder Umgang noch Verbindung mit der Materie. Das Göttliche wird nicht durch die Materie oder mit ihrer Hilfe ausgedrückt. Materie und Geist treffen in keinem Punkt zusammen. Wie Jesus einst seinem Besucher Nikodemus erklärte: „Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist.“ Joh 3:6. Lassen Sie uns einen Augenblick innehalten und darüber nachdenken, denn diese Aussage hat grundlegende Bedeutung für die Frage der Identität. Wenn der Christ die Bedeutung von Christi Jesu Aussage in ihrem vollen Umfang erkennt und anerkennt, wird er von neuem geboren, er gewinnt ein neues und bleibendes Verständnis von Identität.
Der Christliche Wissenschafter stellt fest, daß die Frage „Wer bin ich?“ auch so formuliert werden kann: „Wessen Gleichnis bin ich? Das Gleichnis der Materie oder des Geistes?“ Lautet unsere Antwort Geist, dann müssen wir konsequenterweise folgern, daß unsere Identität nicht von unserer Rasse oder unserem Beruf bestimmt wird, nicht davon, wen wir geheiratet haben, aus welcher Familie wir stammen, wo wir wohnen, wen wir zu unserem Bekanntenkreis zählen oder was wir menschlich geleistet haben. Auch unsere Körpergröße, unser Gewicht, unsere Augen- und Haarfarbe, unser Gesundheitszustand oder unsere Blutgruppe sagen nichts über unsere Identität aus. Zuerst mag die Vorstellung, daß solche vertrauten Orientierungshilfen verschwinden sollen, uns angst machen und scheinbar eine gähnende Leere hinterlassen. Doch obwohl es theoretisch so aussehen mag, zeigt die Erfahrung, daß es völlig anders ist.
Begreifen wir, daß das eigentliche Sein des Menschen in der Widerspiegelung des Geistes besteht, so haben wir die ewige Substanz der Identität des Menschen erkannt. Wenn wir das Bedürfnis haben, herauszufinden, wo wir herkommen, werden wir in das Wesen Gottes, unseres Schöpfers schauen. Die wahre Identität des Menschen, der zusammengesetzten Idee Gottes, bringt die Vollkommenheit, Güte, Weisheit — die ganze Herrlichkeit Gottes — zum Ausdruck. Es ist die Aufgabe des Menschen, die Gegenwart und Macht des Geistes zu bezeugen. Der Mensch ist ebenso beständig und ewig wie Gott. Die ewige Identität des Menschen, die Widerspiegelung des Geistes, umfaßt das ganze Spektrum der Göttlichkeit. Alles Reine, alles Gute, alles Weise, alles Vortreffliche ist Teil der Substanz des Menschen.
Wenn die Menschen das erkennen, werden sie empfänglich für Gott, der schon jetzt ihrem Leben Sinn gibt. Sie gewinnen die geistige Fähigkeit, der Menschheit Harmonie und Heilung zu bringen. Es wird klar, worin der Sinn ihres Lebens liegt: Gott zu dienen und Ihn zu verherrlichen. Wir tun dies im Klassenraum, zu Hause, im Büro, in der Turnhalle. Wir verlieren den Stolz, der uns veranlaßt, alles aus eigener Kraft erreichen zu wollen. Wir werden von der Unsicherheit frei, die der Grund dafür ist, daß wir so sein wollen, wie alle anderen auch sind. Statt dessen lernen wir unsere Beziehung zu Gott verstehen. Das verleiht uns unsere Individualität; es verleiht uns wahre Sicherheit und echte Selbsterkenntnis.
Die geistige Wahrheit in bezug auf unsere Identität ist, daß der Mensch der individuelle Ausdruck des Geistes ist. Der Mensch des Geistes entsteht nicht mit Hilfe einer Ausstechform, wird nicht auf einem Fließband produziert oder genetisch geklont. Die unendliche Natur des Geistes wird in der unendlichen Mannigfaltigkeit Seiner Schöpfung, dem Menschen, offenbar gemacht: Jedes Kind Gottes ist von gleichem Wert, hat den gleichen Zugang zu Gottes Güte, und doch ist es auf wunderbare Weise einzigartig gestaltet als Widerspiegelung Gottes. Den Segen, den das mit sich bringt, erleben wir in dem Maße, wie wir unsere alte Auffassung von Identität ablegen und die neue annehmen.
In einer Sammlung ihrer frühen Werke mit dem Titel Vermischte Schriften schreibt Mary Baker Eddy, die Entdeckerin der Christlichen Wissenschaft: „Allem entsagen, was einen sogenannten materiellen Menschen ausmacht, und seine geistige Identität als Kind Gottes anerkennen und erreichen ist Wissenschaft, die geradezu die Schleusen des Himmels öffnet, aus denen das Gute in jeden Lebensbereich hineinströmt, dabei die Sterblichen von aller Unreinheit reinigt, alles Leiden zerstört und das wahre Bild und Gleichnis demonstriert.“ Verm., S. 185.
Wenn uns dies nicht dazu anspornt, die geistige Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ ausfindig zu machen, dann ist schwer vorstellbar, was sonst uns dazu bringen könnte.