Als Anglistikstudentin hatte ich viele Literaturtheorien studiert. Besonders wichtig fand ich, was ich über die Rolle der Frauen in der Geschichte lernte. Je mehr ich mich damit befasste, umso mehr glaubte ich, dass die Frauen historisch unterdrückt wurden und dass diese Unterdrückung heute noch andauert.
Als Ergebnis dieses „neuen Erwachens", wie ich es nannte, begann ich mich zunehmend darüber zu ärgern, dass die Welt mir weniger Türen offen hielt als meinem Bruder. Ich war ständig auf der Hut, da ich mich in einem ungerechten, globalen System der Diskriminierung gefangen glaubte. Im Endeffekt stand ich auf Kriegsfuß mit vielen der Anschauungen, die in unserer Gesellschaft gelehrt werden, einschließlich der Vorstellung von einem Universum, in dem Gott regiert.
Warum hat die Religion Gott immer als ein männliches Wesen dargestellt, fragte ich mich, und warum muss das Christentum um einen Mann zentriert sein? Nach dem, was meine Studien mir zeigten, schien das Christentum nur eine weitere, von Männern ersonnene Mythe zu sein, die zur Unterwerfung der Frauen diente. Ferner las ich bei einigen Kritikern, dass die Frauen in der Bibel nur in stereotypen Rollen erscheinen. Wo waren die „selbstverwirklichten" Frauen, die ich nachahmen und mit denen ich mich identifizieren konnte?
Obwohl schlagkräftige intellektuelle Argumente gegen die Religion mir in den Ohren dröhnten, konnte ich doch eine unbestreitbare Tatsache nie außer acht lassen. Durch das Praktizieren der Religion, mit der ich mich seit einigen Jahren befasste, nämlich Christian Science — eine Religion, die sich auf die Lehren und die Praxis von Christus Jesus gründete —, hatte ich mehrere körperliche Heilungen erlebt. Es waren greifbare, nachprüfbare Heilungen, die keine Theorie und kein Argument widerlegen konnte. Wenn es wirklich keinen Gott gab oder wenn Jesus nur eine Mythe war, wie konnte ich dann diese Heilungen und die vielen anderen Erfahrungen erklären, bei denen ich Gottes Gegenwart und Fürsorge gespürt hatte. Diese geistigen Erlebnisse konnte ich nicht einfach vom Tisch wischen. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb ich mich weiter als Christliche Wissenschaftlerin bezeichnete, obgleich ich nicht mehr zur Kirche ging und aufgehört hatte die Bibel und Mary Baker Eddys Werke zu studieren. Doch ohne diese tägliche Gemeinschaft mit Gott fühlte ich mich bald verwirrt und isoliert.
Schließlich beendete ich mein akademisches Studium und trat in die Geschäftswelt ein. Nachdem ich durch viele Höhen und Tiefen gegangen war bei dem Versuch meine Probleme durch Psychologie und Selbsthilfebücher zu lösen, fand ich wieder den Weg zu Christian Science. Der Same des Glaubens, der in früheren Jahren gepflanzt worden war, hatte die Stürme des Zweifels und der Verwirrung überdauert.
Und doch sollte ich noch eine wichtigere Lektion lernen. Ich kam in eine Situation, wo ich gebeten wurde ein Formular zu unterschreiben, das von mir verlangte, mich entweder als Frl. oder Frau zu bezeichnen. Wie immer rebellierte ich bei etwas, was ich als eine veraltete Forderung betrachtete. Was ging andere mein Familienstand an? Vor allem, da ja auch niemand so etwas von den Männern verlangte! Doch mir kam der Gedanke, dass ich vielleicht meine Reaktion etwas sorgfältiger überprüfen sollte.
Ich hatte Gottes allumfassende Güte besser verstehen gelernt wie auch die Tatsache, dass Er jeden von uns völlig gut, ja zu Seinem Bild, geschaffen hatte. Und so fragte ich mich, ob meine negative Reaktion wohl ein Zeichen dafür sein könnte, dass ich einfach aus Gewohnheit Beleidigungen und Ungerechtigkeiten sah, wo sie in Wirklichkeit gar nicht existierten. Nein, so argumentierte ich, ich hatte nur Anstoß daran genommen, weil ich empfand, dass diese Forderung auf dem Formular die Unterwerfung der Frauen bekräftigte. Aber wenn das stimmte, folgerte ich weiter, dann müsste es ja Vorurteile oder Böses in Gottes Schöpfung geben. Ich wusste, wenn ich meine Mitmenschen so sehen wollte, wie Jesus es tat — als rein und frei von Irrtum —, dann musste ich von der Vorstellung geheilt werden, dass irgendeines von Gottes Kindern Böses ausdrücken konnte. Der erste Schritt zur Heilung bestand darin, dass ich mir der Wahrheit bewusst wurde, dass dies Gottes Universum ist und es daher keine Ungerechtigkeit einschließen kann. In Wirklichkeit wird das Universum nicht von wandelbaren menschlichen Gesetzen regiert, sondern vom göttlichen Prinzip. Vielleicht, so schloss ich, lag das Problem in meinem eigenen Denken und nicht „dort draußen" in der Welt.
Wer bist du denn? fragte ich mich. Kannst du wirklich durch das definiert werden, was die Welt dich nennt? Hat deine wahre gottgegebene Identität irgendetwas mit einem menschlichen Namen, Titel, einer Rasse, Stellung oder sonstigen Klassifizierung zu tun? In Wissenschaft und Gesundheit fand ich die folgende hilfreiche Erklärung von Identität: „Es gibt nur ein Ich oder Uns, nur ein göttliches Prinzip oder Gemüt, das alles Dasein regiert; Mann und Frau, die in ihren individuellen Charakteren immer unverändert bleiben, ebenso wie Zahlen, die sich niemals miteinander vermischen, obwohl sie von einem Prinzip regiert werden." Wissenschaft und Gesundheit, S. 588.
Obschon ich versucht hatte mich als geistig zu sehen, hatte ich mich doch hartnäckig als begrenzte Sterbliche identifiziert, die an Namen, Titel und Stammbaum gebunden ist. Ferner hatte ich geglaubt, wenn ich — mit Hilfe einer menschlichen, gesellschaftlichen Konvention — bestimmen könne, wie die Welt mich anredet, dann würde meine Identität intakt bleiben. Doch gesellschaftliche Konventionen ändern sich, auch die Art und Weise, wie wir einander anreden. Und würde ich wirklich durch meinen gesellschaftlichen Namen definiert, dann hätte ja ein Wandel der gesellschaftlichen Konventionen auch eine Veränderung meiner Identität zur Folge.
Hat deine wahre gottgegebene Identität etwas mit einem menschlichen Namen, Titel, einer Rasse, Stellung oder sonstigen Klassifizierung zu tun?
Zur Übung schrieb ich einmal alle meine so genannten Identitäten auf — all die verschiedenen Rollen, mit denen man mich identifiziert: Mutter, Marilyn, Frau Jones, Dr. Jones, die Frau von nebenan, Lehrerin, Studentin, Kundin, Emilias Schwester, Eleanores Tochter, Frau von Luis usw. Ich wusste, dass einige davon wunderbare Beziehungen symbolisieren und andere eine Anerkennung für Leistungen oder Errungenschaften sind. Als ich jedoch weiter über diese verschiedenen „Ichs" nachdachte, wurde mir klar, dass keine von diesen Identitäten mein wahres „Ich" darstellt. Mein eigentliches geistiges Selbst lässt sich weder durch meine Titel definieren (das würde mich ja in viele Ichs aufteilen!) noch durch irgendein politisches, rassenbedingtes oder gesellschaftliches Etikett. Wissenschaft und Gesundheit macht Folgendes deutlich: „Geist variiert, klassifiziert und individualisiert alle Gedanken, die so ewig sind wie das Gemüt, das sie hervorbringt; aber Intelligenz, Dasein und Fortdauer aller Individualität bleiben in Gott, der das göttlich schöpferische Prinzip derselben ist." Ebd., S. 513.
Ich suchte im Leben Jesu nach weiteren Anhaltspunkten. Obwohl die Welt ihn Jesus von Nazareth nannte und ihn in verschiedene Kategorien einordnete — als Zimmermann, Jude, Lehrer, ja sogar Gotteslästerer —, verlor er selber seine Identität als Gottes Sohn nie aus den Augen. So sagte er den Juden, die ihm nicht glauben wollten: „Ehe Abraham wurde, bin ich." Joh 8:58. Er versicherte ihnen, dass er nicht nur der Mann Jesus war, sondern der Christus, die göttliche Widerspiegelung Gottes. Als Kinder des gleichen Gottes, als Gottes Bild oder Idee, ist unsere wahre Identität völlig geistig, ja der eigentliche Ausdruck der Eigenschaften des Geistes, Gottes.
Doch während ich all dies erkannte, klammerte ich mich immer noch an eine ganz bestimmte Identität, und zwar die der „Feministin". Mir wurde klar, dass ich mich noch genauer mit der Voraussetzung auseinandersetzen musste, von der ich in Bezug auf mich und andere ausging — nämlich dass Sexismus zwischen Gottes Ideen existieren kann. Ich begann mit der grundlegenden Prämisse, dass Gott uns nicht als geschlechtsspezifische Menschen, sondern als Seine Ideen geschaffen hat, von denen jede alle Eigenschaften des Schöpfers — die männlichen wie die weiblichen — widerspiegelt. Es heißt ja im ersten Buch Mose: Er „schuf sie als Mann und Weib" 1. Mose 1:27.. Daher existieren in Gottes Universum Mann und Frau nicht getrennt oder in einer Hierarchie von Wichtigkeit. Und ich wusste, dass Gott nie einen eifersüchtigen, einen unterdrückenden oder einen ungerechten Mann geschaffen hatte. Die ganze Schöpfung Gottes — Mann und Frau — ist gut und nur gut. Gott unterdrückt keines Seiner Kinder und schließt niemanden aus; daher kann auch Seine Widerspiegelung — Seine Kinder — andere nicht ausschließen oder unterdrückt werden.
Heißt das also, dass niemand für die Rechte der Frauen eintreten sollte? fragte ich mich. Ich wusste, dass es einen Weg geben musste, wie ich, wo immer nötig, effektiv für die Frauenrechte kämpfen und trotzdem Gutes um mich herum sehen konnte. Ich rief mir die vielen Heilungen ins Gedächtnis, die ich gehabt hatte, und mir wurde klar, dass christliches, wissenschaftliches Gebet das machtvollste und wirksamste Werkzeug ist, um positive Veränderungen herbeizuführen. Ich erkannte: Wenn ich mich fest auf das geistige Gesetz der angeborenen Güte meiner Mitmenschen gründete, würde ich die Möglichkeit von Sexismus und Ungerechtigkeit wissenschaftlich widerlegen. Und solch bejahendes Gebet wäre kein unverbesserlicher Optimismus und kein Ignorieren des Irrtums, sondern es wäre das Gegenmittel gegen diesen Irrtum
Gott hat uns nicht als geschlechtsspezifische Menschen, sondern als Seine Ideen geschaffen, von denen jede alle Eigenschaften des Schöpfers — männliche wie weibliche — widerspiegelt.
Durch mein Gebet über Identität habe ich gelernt das aktive Wirken des Christus in der Welt zu erkennen. Statt argwöhnisch nach Beleidigungen und Vorurteilen Ausschau zu halten, bin ich jetzt durchweg in der Lage, Gottes Liebe in Männern wie Frauen widergespiegelt zu sehen. Und ich erkenne die zunehmenden Bemühungen weltweit, Ungerechtigkeiten und falsche Vorstellungen jeder Art zu beseitigen, Sexismus und Rassenhass eingeschlossen.
Auch habe ich dadurch, dass ich die Bibel mit mehr geistigem Verständnis studiere, Beispiele von Frauen entdeckt, die eine wunderbare, ,Selbstverwirklichung" fanden. Dazu gehören unter anderem Rut, die ihre Schwiegermutter auf außergewöhnliche Weise unterstützte, indem sie alles tat, was man normalerweise von einem Sohn erwartete; Tabita (eine Jüngerin in der Apostelgeschichte), die für ihre guten Taten bekannt war und vom Tod erweckt wurde; und Hagar, die dadurch, dass sie in der Wüste auf Gottes Führung lauschte, ihr Kind rettete und schließlich die Mutter von Millionen von Muslimen wurde. Siehe Rut 1 und 2, Apg 9 und 1. Mose 21.
Wie diese Frauen in der Bibel hat jede von uns eine unzerstörbare Identität und Aufgabe und jede wird von unserem Vater-Mutter Gott ewig geliebt und aufrechterhalten. Niemand kann den Platz eines anderen einnehmen, noch kann irgendjemand die Bestimmung eines oder einer anderen erfüllen. Menschliche Umstände, Titel und Positionen sind vergänglich. Doch unsere geistige Identität ist absolut wirklich und von Dauer.
