Das interkonfessionelle Treffen verschiedener Geistlicher hatte einen interessanten Start. Der Pfarrer der afroamerikanischen Gemeinde, in deren Kirche das Treffen stattfand, war abwesend und so begann das Treffen ohne ihn. Als er dann erschien, erklärte er, dass er auf dem Gericht gewesen war. Ein Mitglied seiner Gemeinde, ein Akademiker in den Fünfzigern, wollte gerade vom Einkaufszentrum in einer noblen Wohngegend wegfahren als sein Wagen von drei Autos mit jungen weißen Fahrern umstellt und er von ihnen bedroht wurde. Sie riefen die Polizei und er wurde verhaftet! Der Pfarrer wurde als Leumundszeuge vernommen, um zu bestätigen, dass dieser Mann kein Drogendealer war. Sein Vergehen hatte allein darin bestanden, dass er als Schwarzer mit einem neuen BMW in ein weißes Wohnviertel gefahren war. Die Anwesenden geben ihrer Sympathie durch ein allgemeines Murmeln Ausdruck. Die schwarzen Geistlichen unter ihnen meinten, solche Vorfälle wiederholten sich entschieden zu oft.
Allgemein betrachtet ist ein Vorurteil eine vorgefasste negative Meinung. Es ist Voreingenommenheit, die sich auf eine einseitige Sicht von einer Sache gründet und daher deren klare Beurteilung verhindert. Viele Menschen mögen sich durch das eine oder andere Vorurteil eingeengt fühlen. Klischeehafte und falsche Beurteilungen bringen Frust und oft auch Einschüchterung mit sich. Aber wenn die von einer Mehrheit erlassenen Gesetze dazu führen, dass Minderheiten benachteiligt oder ihre Rechte eingeschränkt werden, so legitimieren diese Gesetze die Vorurteile und institutionalisieren sie.
Beispiele von institutionalisierten Vorurteilen sind nicht nur in den Geschichtsbüchern zu finden. In einigen Ländern etwa dauert die Debatte an, ob Einwohnern, die Ausländer sind, staatliche Sozialleistungen vorenthalten werden sollten oder ob Gesetze zur Förderung von Minoritäten oder Frauen notwendig sind. Manche Gesetze erscheinen einer Mehrheit notwendig und logisch. Was jedoch aus einer Sicht logisch scheint, kann aus anderer Sicht repressiv und ungerecht sein.
Moses Leben veranschaulicht das. Aus ägyptischer Sicht gab es offenbar zu viele israelitische Männer. In der Bibel heißt es, dass „von ihnen das Land voll ward” 2. Mose 1:7.. Der Pharao war besorgt, dass „das Volk Israel mehr und stärker” sei als die Ägypter. Ebd. 1:9. Befürchtete die ägyptische Regierung vielleicht, ihr Land würde von Fremden dominiert werden? Wurde der Pharao von seinen Beratern davor gewarnt, dass die Hebräer den Ägyptern die besten Arbeitsplätze wegnahmen, nicht die Landessprache lernten und sich nicht der „Leit” -Kultur anpassten? Was auch immer der Grund sein mochte, der Pharao besaß die Macht, die Geburt von männlichen Kindern praktisch illegal zu machen. Er befahl den hebräischen Hebammen und später allen Ägyptern, die männlichen Babys der hebräischen Frauen zu töten. Siehe ebd. 1:15, 16; Was den Ägyptern als eine gesellschaftliche und politische Notwendigkeit erschien, war für die Hebräer der Inbegriff eines rassischen, religiösen und geschlechtlichen Vorurteils. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Mose — der einzige Sohn, von dem wir wissen, dass er gerettet wurde — von der Tochter des Pharao großgezogen wurde und später die Israeliten vor den Ägyptern rettete.
Nur wenige Jahre danach begegnete Mose Vorurteilen einer ganz anderen Art. Als er eine äthiopische Frau heiratete, waren Mirjam und Aaron (seine Schwester und sein Bruder) sehr dagegen und sprachen ihm deswegen die Befähigung zur Führung der Israeliten ab. Siehe 4. Mose, Kap. 12. Sie wollten die Führung selbst übernehmen. Ihr Vorurteil wurde wahrscheinlich von der Mehrheit der Hebräer geteilt. Gott verwarf jedoch dieses Vorurteil, erteilte Mirjam und Aaron einen Verweis und Mose blieb Führer der Hebräer und trennte sich nicht von seiner Frau. In beiden Fällen wurde das Vorurteil von Gott aufgehoben und für nichtig erklärt.
Vorurteile waren Christus Jesus ein Gräuel und er brandmarkte sie als Heuchelei. Während die Pharisäer, die geistliche Elite, nie mit vermeintlichen Sündern zusammensaßen, aß Jesus mit ihnen in aller Öffentlichkeit. Unter den Juden war es Brauch, mit den Samaritern nicht einmal mündlichen Kontakt zu haben, doch Jesus offenbarte sich einer Samariterin als der Christus und predigte und lehrte in ihrem Dorf. Er wählte sich Matthäus, einen Zöllner, zu seinem Vertrauten und zu seinen Jüngern zählten auch Frauen. Jesus wurde angegriffen, weil er die Kranken am Sabbat heilte, weil er seinen Jüngern erlaubte, am Sabbat Ähren zu pflücken und zu essen, als sie hungrig waren, und weil er einer Prostituierten den rechten Lebenspfad wies. Siehe Mt 9:10, Joh 4:5-26, Lk 13:14, Mt 12:1-8, Lk 7:37-50.
Dem jüdischen Gesetz nach war Jesus schuldig. Doch er veranschaulichte durch sein Leben und seine Werke, dass Gottes Gesetz über den menschlichen Gesetzen steht. Er erteilte ungerechten menschlichen Meinungen, die als Gesetz galten, einen Verweis. Doch er bestand auf Gehorsam gegen „das Wichtigste im Gesetz” Mt 23:23., als er sagte: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.” Mt 5:17.
Was für ein Gesetz ist es, das Jesus zu erfüllen kam? Es ist Gottes Gesetz, das das Weltall regiert. Gottes Gesetz ist der auf die Erde gekommene Odem unparteiischer und universaler Gerechtigkeit. Der absolute Rechtsbegriff, der von Gott kommt, ist in seiner Konzeption und Anwendung vollkommen. Gottes Gesetz behandelt alle Menschen gleich. Es verändert sich nicht mit den Umständen und irrt sich nicht in seinen Urteilen. Gottes Gesetz verkündet die absolute Wahrheit. Es ist das Gesetz des unendlichen Guten, das Harmonie auf Erden demonstriert.
Da Gott der Vater und die Mutter aller ist, nimmt Er/Sie sich jedes Einzelnen in gleicher Weise an und fordert Gehorsam gegen das göttliche Gesetz, gegen Güte und Aufrichtigkeit, ohne irgendjemanden zu bevorzugen. Niemand steht über Gottes Gesetz. Auch befindet sich niemand außerhalb Seiner allumfassenden Ordnung. Gott, Liebe, segnet Seine Schöpfung durch das Gesetz und dieses Gesetz spiegelt das Wesen der Liebe wider. Das Gesetz der Liebe lässt keinen Hass, Groll und keine Rache zu. Gottes Gesetz schützt uns vor Zufällen und Unwissenheit. Es erhebt und reinigt, anstatt zu begrenzen und zu erniedrigen.
Die menschlichen Gesetze gründen sich auf das Brauchtum einer Gemeinschaft und ihre Einhaltung wird von der Regierung oder einer gerichtlichen Autorität überwacht. Sie wandeln sich mit der Gesellschaft. Sie haben nicht, was von Dauer oder vollkommen ist. Wenn sie jedoch von den göttlichen Gesetzen hergeleitet werden, fördern sie den Gehorsam gegen das moralische und geistige Gesetz. Die Weisheit von Sterblichen muss letztlich dem allwissenden und alles verstehenden Gemüt, das Gott ist, weichen. Wenn das geschieht, werden die menschlichen Gesetze eine höhere Ausdrucksform annehmen, die Selbstsucht und Aggressivität verwirft und alles Gute schützt.
Welche Rolle fällt uns dabei zu? Wie können wir Vorurteile und ungerechte Zustände beseitigen helfen, wenn sie von der Gesellschaft gebilligt werden oder den Schutz staatlicher Gesetze genießen? Indem wir dem Christus Raum geben und uns dem göttlichen Prinzip unterordnen. Gott ist Prinzip, die Macht des absoluten Rechten. Prinzip ist nicht etwas in weiter Ferne oder etwas Lebloses. Es ist Liebe, die Quelle der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, die in liebevollen Gedanken und liebevollen Handlungen zum Ausdruck kommen. Wenn wir göttliche Liebe ausdrücken, wird das höhere Gesetz erfüllt, das Jesus lehrte. Paulus sagte: „So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung.” Röm 13:10.
Christus teilt dem menschlichen Bewusstsein Gottes Botschaft der Liebe mit. Er zeigt uns die Einheit der Schöpfung Gottes und dass jede Idee Gottes ihren eigenen Zweck hat und niemals andere Ideen hindert oder stört. Wo wir Vorurteile und Selbstgerechtigkeit zu sehen glauben, lässt der Christus das Licht der himmlischen Harmonie erstrahlen. Obgleich das menschliche Bewusstsein sich dem heilenden Christus widersetzen mag, so kann es doch nicht verhindern, dass die Macht des Christus Ungerechtigkeit beseitigt und Sünde überwindet.
Genau wie verborgene Sünde werden auch insgeheim gehegte Vorurteile von Christus, Wahrheit, aufgedeckt. Eine höhere Anschauung von Gottes Schöpfung kann nicht umhin, die begrenzten, von der Gesellschaft vertretenen menschlichen Ansichten zu ändern. Diese höhere Anschauung veranlasst uns, das in anderen ausgedrückte Gute anzuerkennen und zu schätzen, und sie zerstört Kritik und blinden Hass.
Als religiöse Freiheitskämpferin des neunzehnten Jahrhunderts begegnete auch Mary Baker Eddy Vorurteilen, und sie lernte sie dadurch zu bekämpfen, dass sie auf das göttliche Prinzip und sein Gesetz vertraute. Sie schreibt in ihrer Autobiografie: „Einmal wurde ich aufgefordert, zu den Mitgliedern des Lyceumklubs in Westerly, Rhode Island, zu sprechen. Nach meiner Ankunft erzählte mir meine Gastgeberin, dass ihre Nachbarin im Sterben liege. Ich bat um Erlaubnis, sie besuchen zu dürfen. Diese wurde mir gewährt, und ich ging mit meiner Gastgeberin zum Hause der Kranken.
Die Ärzte hatten den Fall aufgegeben und sich zurückgezogen. Als ich etwas fünfzehn Minuten neben der kranken Frau gestanden hatte, verließ sie das Bett, kleidete sich an und war gesund. ...
Über diese wissenschaftliche Demonstration waren die Ärzte und Geistlichen so erregt, dass sie die Ankündigungen meines zweiten Vortrags abreißen ließen und sich weigerten, mich in ihren Sälen und Kirchen sprechen zu lassen. Dies wird nur erwähnt, um zu zeigen, auf welchen Widerstand die Christliche Wissenschaft vor einem Vierteljahrhundert stieß, im Gegensatz zu heute, wo sie in den Krankenzimmern willkommen geheißen wird.”Rückblick und Einblick, S. 40.
Wenn die Menschen die von Christus Jesus gelehrten, höheren Gesetze des Prinzips erkennen, werden sie die Entdeckung machen, dass sie mit Gott, Liebe, eins sind und sie werden das göttliche Gesetz demonstrieren, demzufolge einer mit Gott die Mehrheit ist. Paulus schrieb an die Christen, die gegen die institutionalisierten Vorurteile des Römischen Reichs ankämpften: „Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?” Röm 8:31. Das Gesetz Gottes wird alle die segnen, die gegen Ungerechtigkeit angehen, und sie werden erleben, dass die Verheißung Gottes erfüllt wird: „Das Gesetz seines Gottes ist in seinem Herzen; seine Tritte gleiten nicht.” Ps 37:31.
