Seit Menschengedenken zeigt sich eine Beziehung zwischen Spiritualität und Heilen. David Hufford, Professor für Medizingeschichte, befasst sich mit diesem Phänomen und den intellektuellen Grundlagen, auf denen die Anschauungen über Spiritualität und Gesundheit heute basieren.
In der Geschichte der Menschheit sind Spiritualität und Religion schon immer eng mit Heilen verbunden gewesen. Noch im 18. Jahrhundert wurzelte die Krankenpflege in Europa in der Religion, und viele Ärzte waren gleichzeitig Geistliche. Doch die geistigen Strömungen, die nach dem Mittelalter aufkamen — insbesondere die skeptische, alles in Frage stellende Geisteshaltung der Aufklärung, die im 18. Jahrhundert vorherrschte —, führten letztendlich zu einem radikalen Bruch zwischen der modernen Medizin und der Religion, besonders im Abendland.
Dieser Bruch vertiefte sich und scheint im 20. Jahrhundert endgültig. Gegen Mitte jenes Jahrhunderts glaubten viele Intellektuelle, dass die Medizin kurz davor stand, alle krankheiten auszumerzen. Das geschah zu der Zeit, als die „Gott-ist-tot”-Theologie die überkommenen religiösen Anschauungen in den Bereich primitiver Sagen abschob, weil sie in der modernen Zeit nicht länger vertretbar waren. Spirituelles Heilen kam in den Mainstream-Medien wenig zur Sprache und fehlte in den meisten christlichen Kirchen.
Doch gegen Ende des 20. Jahrhunderts geschah zweierlei Bemerkenswertes. Spiritualität und Religion überlebten nicht nur das 20. Jahrhundert, sondern gewannen in der amerikanischen Gesellschaft und in der Welt stark an Einfluss, was sich als gravierender erwies und unerwarteter kam als der Fall der Berliner Mauer und das Ende der Sowjetunion. Die Meinungsforscher unter anderen haben diesen Trend aufmerksam verfolgt. 1999 ergaben Gallup-Meinungsumfragen, dass 78 Prozent der Amerikaner das Bedürfnis nach spirituellem Fortschritt vespürten, während es 1994 nur 58 Prozent waren. Von 1991 bis 1996 stieg der Verkauf von Büchern über Spiritualität und Religion in den USA um 112 Prozent an. Angaben der Gallup-Meinungsumfrage von G. Gallup Jr. und D. M. Lindsay, Surveying the Religious Landscape (1999); G. Gallup Jr. und Jones, The Next American Spirituality (2000). Der Anstieg im Umsatz von Büchern: American Booksellers Association
Gleichzeitig erwiesen sich Ideen über Gesundheit und Heilen außerhalb der herkömmlichen Medizin — Ideen, die im 19. Jahrhundert weit verbreitet waren — als langlebig und sie gewannen wieder an Boden. Diese unter dem Namen „ganzheitliche” und „komplementäre und alternative” Medizin bekannten Richtungen waren breit gefächert. Sie legten Nachdruck auf Krankheitsverhütung und auf die Individualität des Patienten und umfassten eine ganze Reihe von Behandlungsmethoden. Wenn Spiritualität auch nicht unbedingt dazugehört, so ist diesen Methoden doch eine ausgeprägte Tendenz zu gewissen spirituellen Aspekten gemein.
Diese beiden Strömungen — das Wiederaufleben des religiösen Glaubens und der alternativen Medizin — stehen in enger Beziehung zueinander. Spiritualität und Gesundheit, einschließlich spirituelles Heilen, sind in der westlichen Medizin und in der Gesellschaft im Allgemeinen zu einem aktuellen Thema geworden. Um diesen bemerkenswerten Trend zu verstehen, muss man sich zuerst die Universalität spirituellen Heilens in der Geschichte der Menschheit vergegenwärtigen und sich dann die Vorgänge am Ende des 19. Jahrhunderts betrachten, die ein bezeichnendes Licht auf die heutigen Entwicklungen werfen.
Es geht über den Rahmen dieses Artikels hinaus, hier alle religiösen und spirituellen Richtungen oder alle Heilmethoden zu berücksichtigen. Vielleicht ist es besser, das Folgende als einleitendes Gespräch mit weit gefassten Definitionen anzusehen und dann zu der Geschichte überzugehen, die uns zwar allen bekannt ist, mit der wir uns jedoch bisher kaum auseinandergesetzt haben. Unsere Version der Geschichte wird sich, anders als es zumeist geschieht, auf die Frage der spirituellen Kausalität konzentrieren — ein Thema, das spezifischer und auf manche Weise problematischer ist als Spiritualität und Heilen im Allgemeinen. Die Bedeutung von „Spirit” leitet sich von dem lateinischen Wort spiritus, Atem, her und ich werde in diesem Artikel das Wort „Spiritualität” verwenden, um auf die vielen Ansichten von einem belebenden, immateriellen Daseinsprinzip Bezug zu nehmen, das Geist, Körper und Seele vereint. Heilen ist auch ein Wort, das verschiedene Bedeutungen hat. Daher ist eine weite und umfassende Definition von Spiritualität und deren Beziehung zu Ganzheit oder Heilen der Gegenstand dieser historischen Zusammenfassung.
Spirituelles Hellen im laufe der menschlichen Geschichte
Spirituelles Heilen spielt in jeder Kultur, die uns überliefert ist, eine bedeutende Rolle und hat neben medizinischen Heilmethoden existiert und sie beeinflusst. Schon einige wenige Beispiele aus der Geschichte vermitteln etwas von der Breite, Vielfalt und Permanenz der Beziehung zwischen Spiritualität und Heilen.
• Inschriften aus der Zeit von 2700 v. Chr. zeigen an, dass es im Ägypten der Pharaonen professionelle Ärzte gab, die in Tempelschulen ausgebildet wurden. Wahrscheinlich waren sie sowohl Priester als auch Ärzte, was auf eine Beziehung zwischen Spiritualität und Heilen hindeutet. Bevor das antike Griechenland seine Blüte erreichte, waren diese ägyptischen Ärzte überall in Nordafrika und im östlichen Mittelmeergebiet sehr gefragt.
• Die ältesten Teile der hinduistischen Schriften, der Vedas (Sanskrit für Wissen), enthalten Ausführungen über spirituelle Heilmethoden. Das indische Heilsystem, unter dem Namen Yajurveda bekannt, besitzt noch heute hinduistische spirituelle Züge, wozu auch die Verschreibung von Meditation und Joga gehört.
• Die Heilkunde im antiken Griechenland wird von Historikern vielfach als Vorläufer der naturalistischen Heilmethode angesehen — d. h. einer Methode, die nicht primär religiös war. Die griechische Heilkunde besaß jedoch in ihrer ganzen Geschichte starke religiöse Elemente. In Homers Dichtungen (750 v. Chr.) wird zuerst Apollo und dann sein Sohn Äskulap als der „Gott des Heilens” bezeichnet. (Paradoxerweise ist der Äskulapstab — ein Stab mit zwei miteinander verflochtenen Schlangen — zum modernen Symbol des Arztberufs geworden.)
• Der Grieche Hippokrates (ca. 460-377 v. Chr.) wird als der Vater der modernen Heilkunde anerkannt, denn er schrieb Krankheiten nicht mehr übernatürlichen Ursachen zu. Trotzdem beginnt der berühmte hippokratische Eid, den heute viele Ärzte bei Berufsbeginn ablegen, mit den Worten: „Ich schwöre bei Apollo, dem Heiler, bei Äskulap, bei Gesundheit und allen Heilkräften. . .” Junge Ärzte rufen somit die Autorität religiöser Vorläufer an, wenn sie ihren Beruf ausüben.
• Zur alten chinesischen Heilkunst (700-500 v. Chr.) gehörten überkommene religiöse (holistische) Vorstellungen wie auch Kräuterheilkunde und chirurgische Praktiken. Tao-te-ching, das Hauptwerk des Taoismus, enthält auch die Grundbegriffe vom Yin (weiblich) und Yang (männlich), die einander die Waage halten müssen. Yin und Yang sind Begriffe, die aus dem altchinesischen Mystizismus hervorgegangen sind, wo sie ein grundlegender Aspekt des metaphysischen Aufbaus des Weltalls waren, und sie sind auch ein grundlegendes Prinzip der herkömmlichen chinesischen Medizin.
• Mit dem Aufkommen des Buddhismus in Indien um 500 v. Chr. entstanden von Vertretern dieser Religion errichtete Krankenhäuser — Jahrhunderte vor den christlichen Hospitälern in Europa.
• Die jüdischen Schriften enthalten eine Anzahl von spirituellen Heilungen, darunter hebräische Bibelgeschichten von Heilungen durch die Propheten. In den christlichen Schriften, die im ersten Jahrhundert n. Chr. entstanden, nehmen Jesu Heilungen und die von den Aposteln nach dem Pfingsttag vollbrachten Heilungen eine vorrangige Stellung ein. Christliche Heilungen umfassen wie die in anderen Religionen eine Vielfalt von Leiden, darunter körperliche und angeborene Krankheiten sowie das Besessensein von Dämonen.
• Der Koran, die heilige Schrift des Islam (622 n. Chr.), die vom Propheten Mohammed verfasst wurde, schreibt eine Reihe von sowohl spirituellen als auch medizinischen Krankheitsbehandlungen vor. Die Gesundheitsfürsorge entwickelte sich im Islam, auch die Errichtung von Krankenhäusern, die schon vor dem 12. Jahrhundert in den meisten islamischen Städten vorzufinden waren. Islamische Hospitäler für Geisteskranke, Maristan genannt, gehörten zu den ersten Einrichtungen dieser Art und zeichneten sich durch ihre barmherzige und humane Pflege aus. Heute führt der Islam Krankheiten auch auf spirituelle Ursachen zurück und benutzt spirituelle Heilmittel wie auch westliche Heilmethoden.
• Im Europa des Mittelalters geschah die Krankenpflege generell in klösterlichen Heilstätten und Hospitälern, die als religiöse wohltätige Anstalten errichtet und von geistlichen Orden betrieben wurden. Beten und andere geistliche Praktiken waren für die meisten Menschen, ob Adliger oder Bauer, untrennbar mit der Erhaltung und Wiedererlangung ihrer Gesundheit verbunden.
• Als die Eingeborenen in Afrika, Australien und im Südpazifik während der Kolonisierung mit Europäern in Kontakt kamen, waren bei ihnen allen althergebrachte spirituelle Heilmethoden in Gebrauch und sie glaubten an spirituelle Krankheitstheorien. Obgleich jetzt bei diesen Völkern weitgehend die westliche Medizin Anwendung findet, haben sich doch daneben spirituelle Gesundheitsbräuche behauptet. Viele Menschen in diesen Gebieten verstehen die Gesundheit heute immer noch als eine Kombination von spirituellen Ideen und den Methoden der im Westen ausgebildeten Ärzte.
• Das Wenige, das uns über die vorzeitlichen Heilmethoden in der Neuen Welt überliefert worden ist, etwa in Berichten der spanischen Eroberer, zeigt an, dass die religiös ausgerichtete Krankenpflege der eingeborenen Amerikaner bei den Eroberern hoch angesehen war. Die Kunst der aztekischen Ärzte beeindruckte die Spanier so sehr, dass der König von Spanien im 16. Jahrhundert seinen Leibarzt nach Mexiko sandte, um von den eingeborenen Heilern zu lernen — was er dann auch sieben Jahre lang tat. Viele amerikanische Ureinwohner halten noch heute an ihren althergebrachten spirituellen Gesundheitspraktiken fest, wenn sie sie auch mit der modernen Medizin verbinden.
Diese kurze Übersicht zeigt, dass in alten Kulturen wie auch bei den in der ganzen Welt verbreiteten nichtabendländischen, traditionellen Heilpraktiken, spirituelles Heilen und andere ärztliche Heilmethoden generell nebeneinander existierten. In vielen Fällen kann man spirituelles Heilen schlecht von allem anderen Heilen unterscheiden, so gründlich haben die Kulturen in ihren Weltanschaungen Spiritualität in ihr tägliches Leben integriert. Von den letzten Jahrhunderten abgesehen scheint es, dass alle Heilungen in gewissem Sinne spirituelle Heilungen sind. In verschiedenen Gesellschaften und zu verschiedenen Zeiten gab es verschiedene Heilpraktiken. Doch wo immer wir die Ideen über spirituelles Heilen antreffen, haben sie gewisse Merkmale gemein. Dazu gehört der feste Glaube, dass der sichtbaren, materiellen Welt eine wahre und unsichtbare spirituelle Welt zugrunde liegt, dass Geist im Leben etwas Fundamentales ist und dass spirituelle Ursachen in der sichtbaren Welt Wirkungen hervorrufen können.
Auch waren Geist und Seele nicht scharf getrennt, wie es im modernen Sprachgebrauch der Fall ist. Heute wird der Begriff „Geist-Kör-per-Medizin”, bei dem Nachdruck auf die mentale Kausalität bei Krankheiten und beim Heilen gelegt wird, als eine innovative Anschauung präsentiert, als Teil der komplementären und alternativen Medizin. Das ist eigentlich eine stark vereinfachte Version der vorherrschenden Weltanschauung, in der Geist, Körper und Seele sich alle gegenseitig beeinflussen. Und in letzter Zeit haben manche den Ausdruck „Geist-Kör-per-Seele-Medizin” vorgeschlagen, womit unterstrichen werden soll, dass sich in den vergangenen 200 Jahren die Begriffe Geist und Seele stark voneinander entfernt haben. Die Entwicklung dieser Divergenz zwischen Seele, Geist und Körper ist das Kernstück, die Geschichte eines Wendepunktes in der Moderne.
Vorläufer der Divergenz zwischen Geist, Seele und Körper
Im vorwiegend katholischen Europa des Mittelalters vermischte sich der Begriff von mentaler Kausalität und spiritueller Kausalität auf eine Weise, die dem Denken in vielen anderen Teilen der Welt sicherlich ähnlich war. Im Mittelalter erklärten Ärzte physische Krankheiten oft psychologisch oder als eine geistige Störung oder Unausgeglichenheit und behandelten von physischen Symptomen begleitete Krankheiten ebenso oft auf mentale wie auf spirituelle Weise oder mit Eingriffen in die Lebensweise des Patienten. Ganz allgemein wurde das Denken und der Geist auch als ein Aspekt der Seele angesehen; das Mentale und Spirituelle wurde als gleichartig betrachtet.
Diese europäischen Vorstellungen veränderten sich aufgrund von bedeutenden Ereignissen, die sich auf die Philosophie, Religion und die Wissenschaften auswirkten. Zwei historische Entwicklungen — die Reformation, die im 16. Jahrhundert ihren Anfang nahm, und die Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert — vertieften die Spaltung zwischen Geist, Körper und Seele und erhoben sie zum Gegenstand intellektueller Spekulation. Später nahmen einflussreiche Denker diese Gedanken und wissenschaftlichen Entwicklungen auf und vergrößerten den Abstand zwischen Geist, Körper und Seele zu einer scheinbar unüberbrückbaren Kluft.
René Descartes (1596-1650) legte dar, was dann die moderne Form des Dualismus wurde, in dem er ausdrücklich Geist mit Seele gleichsetzte. Er konstatierte, dass Körper Raum einnehmen, Gedanken dagegen nicht, und so stellte er die Theorie auf, dass Menschen sich aus zwei verschiedenen Substanzen zusammensetzen. Der erste, res cogitans, war empfindungsfähig, jedoch ohne Größe, Form oder andere physische Eigenschaften. Er stand im Gegensatz zur zweiten Substanz, der Materie, res extensa. Anfangs schien diese Unterscheidung die Seele und den Geist vor einer Reduktion zu schützen, und Descartes, ein frommer Katholik, dachte, dass sein Dualismus der religiösen Vorstellung von „Seelen” Respekt verschaffte. Doch diese Theorie konnte nicht erklären, wie die immaterielle res cogitans physische Wirkungen hervorzubringen vermochte, selbst im Körper.
Descartes' Versuch, den spirituellen Aspekt des Geistes — die Seele — zu schützen, indem er scharf zwischen Geist/Seele und dem physischen Körper unterschied, dauerte nicht lange. Im 18. Jahrhundert wurden Geist und Seele auseinander gerissen. Der zunehmende wissenschaftliche Skeptizismus der Aufklärung — des Zeitalters der Vernunft — gegenüber der Religion und der Nachdruck, den er auf sinnliche Wahrnehmungen legte, führte zu einer Einstellung, in der Geist als etwas angesehen wurde, was keine Beziehung zum Spirituellen besaß.