Jesus unterhält sich mit einem Schriftgelehrten, einem Experten in der Auslegung des jüdischen Gesetzes, der Thora. (Lukas 10) Alle folgenden, teils frei wiedergegebenen Bibelzitate beziehen sich auf dieses Kapitel. Der gelehrte Theologe will von Jesus wissen, was er getan haben muss, um in den Genuss des ewigen Lebens zu kommen. Sie einigen sich darauf, dass die Liebe zu Gott und die Liebe zu seinem Nächsten die beiden Gebote sind, die befolgt werden müssen, um das ewige Leben zu erlangen. Der Schriftgelehrte hakt nach: „Wer ist denn mein Nächster?" Natürlich kennt er die Antwort. Seinem theologischen Selbstverständnis zufolge gelten alle gesetzestreuen Juden als Nächste, nur auf diese ist das Liebesgebot anzuwenden. Heiden dagegen, Nichtjuden, Ausländer, auch die Leute aus Samarien, „wenn die in Todesgefahr sind, müssen wir sie nicht retten, d. h. wenn einer von ihnen ins Wasser gefallen ist, müssen wir ihn nicht herausholen, denn er ist nicht dein Nächster" (The One Volume Bible Commentary, J. R. Dummelow, Cambridge, S. 751). So die Lehrmeinung. Er kennt die Antwort also und fragt vermutlich nach, um das Gespräch weiterführen zu können und weil er wohl ahnt, dass ihm Jesus auf dieser traditionellen Linie der Argumentation nicht folgen wird. Er erwartet von Jesus, den er respektvoll „Rabbi" genannt hat, vermutlich eine theoretische Erörterung seiner Position, etwa: Dein Nächster ist jeder Mensch, weil er Gottes Geschöpf ist. Damit hätte sich Jesus allerdings auf die Ebene des Gesetzeslehrers begeben, er hätte seine Lehre zur bloßen Lehrmeinung degradiert, die intellektuell akzeptabel, wenn auch im traditionellen Sinn angreifbar und für das tägliche Tun ziemlich irrelevant ist. Jesus tut nichts dergleichen. Er erzählt stattdessen eine Beispielgeschichte, in der die Auffassung des Gelehrten von Gesetz radikal in Frage gestellt wird und er selbst die Schlussfolgerung ziehen muss: dass es nicht darauf ankommt zu wissen, wer dein Nächster ist, sondern darauf, ein Nächster zu sein.
Jesus erzählt von zwei Funktionären des Tempels, einem Priester und einem Leviten, Diener des Gesetzes also, die auf der Straße von Jerusalem nach Jericho einen ausgeraubten, halb tot Geprügelten sehen und weitergehen. Hingegen nimmt sich ein Mann aus Samarien des Überfallenen an, versorgt ihn und bringt ihn in Sicherheit.
Der Kontrast könnte größer nicht sein: Diejenigen, die in besonderem Maße Kenner und Experten der beiden vornehmsten Gebote „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten wie dich selbst", erweisen sich als außerstande, die Situation zu erfassen, d. h. das Gebot der Nächstenliebe zu praktizieren. Doch der von ihnen verachtete Samariter, den sie außerhalb des Gesetzes wähnen, tut eben dies mit großer Selbstverständlichkeit: Er leistet die notwendige Hilfe. Aus dem Verhalten der frommen Gesetzeshüter geht hervor, dass sie das Gesetz nicht verstanden haben. Es ist offensichtlich leichter für sie, die Regeln, die für ihren Berufsstand gelten, zu befolgen als das übergeordnete göttliche Gebot. Es ist nicht erkennbar, ob der Mensch ein Jude ist, ausgeraubt, wie er ist, und Ausländern gegenüber sind sie ausdrücklich nicht zur Hilfeleistung verpflichtet. Der Priester kann sich damit rechtfertigen, dass der Hilfsbedürftige offensichtlich bereits tot ist und dass ihm ausdrücklich untersagt ist, eine Leiche zu berühren, um seine rituelle Reinheit nicht zu gefährden. Vielleicht sind beide in Eile, gedanklich mit ihren häuslichen oder beruflichen Dingen beschäftigt. Es könnte sein, dass die Häufigkeit solcher Vorkommnisse auf dieser gefährlichen Straße sie abgestumpft hat. Anders der Samariter. Er erfasst die Situation sofort. Er nimmt die Unbequemlichkeit auf sich, seine Reise zu unterbrechen, um dem unter die Räuber Gefallenen seine Würde und Menschlichkeit wiederzugeben. Es wird deutlich, dass er ein umfassenderes Verständnis von der Allgemeingültigkeit des Gebotes „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst" hat als die beiden anderen Passanten.
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