Ist diese Aussage Jesu aus dem Mattäus-Evangelium (Mt 5), diese Seligpreisung, eigentlich heute noch aktuell? Passt sie überhaupt noch in die heutige Zeit? Wenn wir uns in unserer Gesellschaft umschauen, dann bietet sich uns doch eher das gegenteilige Bild: die Auftrumpfenden scheinen sich immer mehr durchzusetzen und das Erdreich für sich in Anspruch zu nehmen. Egal ob wir unter Erdreich nun „die Straße“ verstehen wollen, oder ob wir dabei an Staaten oder an Bodenschätze denken, die Lauten, die „Rambos“ scheinen sich überall durchzusetzen. Auch in den zwischenmenschlichen Beziehungen ist es doch häufig so, dass gerade die Aufbrausenden die Situation beherrschen und die Oberhand behalten, nicht wahr?
Doch selbst angesichts dieser Eindrücke gibt es auch heute noch sehr viele Menschen, die diese Sanftmut, die Jesus uns in der Seligpreisung empfiehlt und die er selbst vorgelebt hat, als ein erstrebenswertes Ziel ansehen. Ja, man könnte sogar fragen: Wer möchte nicht gerne sanftmütig sein? Ich habe allerdings bemerkt, dass sehr viele Menschen zwar den Versuch unternehmen, dann aber feststellen müssen, dass es doch irgendwie nicht so richtig geklappt hat:
Entweder hat man es in einer provozierenden Situation doch nicht geschafft, ruhig zu bleiben, ist also doch wieder ungeduldig oder vielleicht sogar laut geworden und war hinterher von sich selbst enttäuscht. Oder aber es ist einem tatsächlich gelungen, geduldig zu schweigen, und dann hat gerade dieses Verhalten ein Gefühl von Unzufriedenheit hinterlassen.
Nachdem es mir selbst einige Male so oder so ergangen war, beschloss ich, der Sache auf den Grund zu gehen. Als ich im Wörterbuch unter sanftmütig die Erklärung geduldig ertragen fand, dämmerte mir, dass möglicherweise eine falsche Definition zu diesem Dilemma führt. Denn wenn ich mir einen Menschen vorstelle, der geduldig erträgt, dann sehe ich einen geduckten Menschen vor mir, einen, den das ständige Erdulden klein gemacht hat. Wenn ich aber an Jesus Christus denke, für den diese Eigenschaft doch so charakteristisch ist, dann sehe ich einen aufrechten und souveränen Menschen vor meinem geistigen Auge. Als ich mich nun näher mit seinem Verhalten beschäftigte, stellte ich fest:
Jesus hat nie auf Angriffe auf seine Person reagiert. Da war er sanft. Allerdings konnte Jesus auch ausgesprochen deutlich werden: Wenn ihm falsches Denken oder falsches Handeln begegnete, wies er das unerbittlich zurück. Ein gutes Beispiel hierfür sind seine Zurechtweisungen der Pharisäer, die er Heuchler oder auch Otternbrut nannte (nachzulesen bei Matthäus, Kapitel 23). Da war er mutig. Er war also gleichzeitig sanft und mutig.
Mit Blick auf den durchaus zu energischen Reaktionen fähigen Jesus schreibt Mary Baker Eddy: „Der große Nazoräer, der so sanftmütig wie mächtig war, wies die Heuchelei zurecht ...“ (WuG, S. 597). Und das Calwer Bibellexikon beschreibt Jesu Sanftmut so: „Im Unterschied von sanft als Eigenschaft ist Sanftmut eine aus der Selbstüberwindung kommende Haltung ohne weichlichen Zug. Jesus nennt sich sanftmütig, weil er den Menschen mit Freundlichkeit begegnet und weil er das Reich des Friedens ohne Gewalt bringt. Sanftmut ist ein Zeichen von Weisheit.“ (S. 1171)
Während es völlig klar ist, dass Jähzorn oder ein aufbrausendes Temperament nichts mit Sanftmut zu tun haben, fällt die Abgrenzung beim anderen Extrem (dem ergebenen und widerspruchslosen Hinnehmen eines jeden Angriffes) doch wesentlich schwerer. Kürzlich hörte ich in einer Diskussion unter Christlichen Wissenschaftlern eine Dame sagen, sie sei von Natur aus so liebenswürdig, dass sie noch nicht einmal dem Irrtum energisch entgegentreten könne. Diese Aussage überraschte mich – und sie erinnerte mich an das folgende Erlebnis:
Vor vielen Jahren gab es in meiner Stadt eine Serie von Überfällen auf Frauen. Während nach dem Täter gefahndet wurde, wurden kostenlose Selbstverteidigungskurse für Frauen angeboten. Eine Unterrichtseinheit bestand darin, einem imaginären Angreifer ein lautes „Lass mich in Ruhe!“ oder „Verschwinde!“ oder etwas Ähnliches entgegenzuschreien. Viele Teilnehmerinnen brachten zunächst nur ein fast flehendes und eher gehauchtes „Geh weg“ hervor. Das Schreien musste ganz intensiv trainiert werden! Das muss man sich mal vorstellen: Die Frauen waren nicht in der Lage, zu ihrer eigenen Verteidigung zu schreien! Aber, Sie hätten mal sehen sollen, wie glücklich sie waren, als sie es nach „hartem“ Training endlich konnten! – Übrigens: Der Täter wurde bald darauf gefasst und ich glaube, keine der Teilnehmerinnen musste ihre neu erworbene Fähigkeit auf diese Weise anwenden. Und dennoch denke ich, dass sie etwas Wertvolles gelernt haben.
Diese Schilderung macht deutlich, dass es durchaus Situationen geben kann, in denen ein energisches Auftreten richtig sein kann, und dass die Frage, ob jemand sanftmütig ist oder nicht, davon überhaupt nicht berührt wird. Denn Sanftmut ist nicht einfach das Gegenteil von Jähzorn. Nein, es handelt sich um einen Gemütszustand, der genau in der Mitte liegt zwischen zu viel Zorn und zu wenig Zorn und der eine ausgeglichene, ausgewogene Mitte zwischen zu starker und zu unterentwickelter Erregbarkeit darstellt. Sanftmut ist keine Eigenschaft, sondern eine Tugend.
Wie aber können wir eine solche Haltung erreichen? In Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift beschreibt Mary Baker Eddy (auf Seite 30/31) Jesus so: „In Sanftmut und Macht sah man ihn den Armen das Evangelium predigen.“ Ein paar Seiten weiter heißt es dann: „Jesus war selbstlos.“ (S. 50) Und das erscheint mir sehr folgerichtig, denn diese beiden Haltungen gehören, wie ich herausgefunden habe, unbedingt zusammen. Ohne die richtig verstandene Selbstlosigkeit kann nämlich echte Sanftmut überhaupt nicht zu stande kommen.
Aber auch das Wort selbstlos bedarf zunächst einer Erklärung, denn es ist sowohl im Hinblick auf Jesus als auch im christlich-wissenschaftlichen Sinne nicht gleichzusetzen mit dem allgemein üblichen Sprachgebrauch, der das Wort mit uneigennützig sein gleichsetzt und zwar im Sinne von: zu Gunsten eines anderen auf etwas zu verzichten – eine Haltung, die etwa in dem Seufzer: „Wenn's dir nur gut geht, will ich gerne zurückstehen" zum Ausdruck kommt. Nein, es geht auch hier um etwas ganz Anderes.
Diese Form der Selbstlosigkeit beginnt zwar zunächst ebenfalls damit, das eigene, menschliche, materielle, sterbliche, kleine „ich" zurückzustellen oder noch besser sogar ganz aufzugeben, aber eben nicht zu Gunsten eines anderen kleinen „ich's“ – sondern zu Gunsten der Widerspieglung des großen „Ich bin“. Von Mary Baker Eddy ist überliefert, dass sie zuweilen sagte, sie müsse die, Mary auf die Seite stellen'. Damit wollte sie sicherlich sagen, dass auch sie ihre ganz persönliche, menschliche Ansicht, aus dem Weg räumen' musste, um die göttliche Idee durchscheinen zu lassen. Es ging ihr darum – und es sollte uns ebenfalls darum gehen – das eigene, materielle Selbst aufzugeben, um statt dessen das wahre, von Gott gegebene Selbst zum Ausdruck zu bringen und zu leben. Mary Baker Eddy hat es uns vorgelebt; Jesus hat es uns vorgelebt. Wenn wir also ernsthaft daran interessiert sind, selbstlos und in der Folge davon dann sanftmütig zu sein, haben wir zwei wunderbare Vorbilder, an denen wir uns orientieren können.
Wir müssen uns beständig unser wahres Selbst, unsere Übereinstimmung mit Gott, bewusst machen und dürfen sie nie aus den Augen verlieren. Das, und nur das, ermöglicht es uns, uns von dem sterblichen Selbst zu trennen bzw. es zu überwinden. Dieser Vorgang wiederum ist nötig, damit wir uns unsere eigentlichen Aufgaben kümmern können, statt uns mit Befindlichkeiten oder gar Über-Empfindlichkeiten abzugeben. In ihrer Botschaft für 1902 schreibt Mary Baker Eddy auf Seite 19: „Der Christliche Wissenschaftler hegt keinen Groll; er weiß, dass ihm das mehr schaden würde als alle Bosheit seiner Feinde. Brüder, ebenso wie Jesus vergab, vergebt auch ihr. Ich sage es voller Freude – niemand kann mir ein Unrecht zufügen, das ich nicht vergeben könnte. Sanftmut ist die Rüstung eines Christen, sein Schirm und sein Schild.“
Nach diesem Exkurs über Selbstlosigkeit haben wir einen hilfreichen Zugriff auf diese Rüstung gefunden. Denn wir werden sanftmütig als Ergebnis unseres Ringens um Selbstlosigkeit. Aber diese Art der Sanftmut führt uns nicht in die fatale Sackgasse, in der wir immer wieder bedauernd feststellen müssen: „Friede, Friede und ist doch nicht Friede“, sondern wir haben eine tiefe innere Gelassenheit und Stärke erlangt, die uns souverän über den Dingen stehen lässt. Denn wir sind eben nicht sanftmütig, wenn wir einfach nur schweigen, hinnehmen oder erdulden, sondern wenn wir in einer Situation, in der wir uns angegriffen fühlen, den Mut der Gelassenheit zeigen. Den erreichen wir, wenn wir verstehen, wer wir wirklich sind.
William Barclay schreibt in „Auslegung des Neuen Testaments, Matthäusevangelium 1" auf Seite 95: „Wohl dem, der stets im rechten, nie dagegen im falschen Augenblick zornig ist, der alle seine Triebe, Regungen und Leidenschaften beherrschen kann, weil er von Gott beherrscht ist, der sich voller Demut seiner eigenen Ungewissheit und Schwäche bewusst ist, denn ein solcher Mensch ist König unter den Menschen."
Aus all diesen Betrachtungen können wir für uns erkennen, dass der Kampf, den wir kämpfen, um sanftmütig zu werden, auf einem ganz anderen Schlachtfeld gekämpft wird, als der Kampf, in dem wir diesen Sanftmut dann zum Einsatz bringen. Aber er lohnt sich allemal, denn durch diesen inneren Kampf erlangen wir die starke Ruhe und die ruhige Stärke, die wir brauchen, um der Welt zu begegnen und mit allen Widrigkeiten umgehen zu können.
Die so erlangte Sanftmut verhilft uns dazu, alles, was unsere Liebe zu Gott und den Menschen verletzten möchte, zu überwinden und zu beherrschen. Und wenn diese Tugend ein selbstverständlicher Teil von uns geworden ist, gelingt es uns ganz leicht sanftmütig zu sein und wir fühlen uns großartig damit!
