Eine Freundin erzählte mir von einer Person, die sich ihr gegenüber ständig hinterhältig verhält, obwohl sie selbst ihr bereits in so vielen Bereichen geholfen hatte. Immer wieder fühlte sie sich durch ihre Bekannte verletzt und hintergangen. „Nun habe ich aber ein Recht darauf, wütend auf diese Person zu sein“, meinte sie. Ich fragte: „Wenn Du jemandem etwas nachträgst, verletzt und ärgerlich bist— wem tust Du mit diesen Gefühlen weh?“ „Hauptsächlich mir selbst. Aber wie mache ich das — vergeben?“, fragte sie verzweifelt.
„Ist Vergebung überhaupt möglich?“ „Vergeben kann ich, aber vergessen nicht!" „Vergeben — was bringt das schon?!" „Wer vergibt, ist schwach!“ Menschlich betrachtet gibt es viele Begründungen für Hass, Wut, Trauer. Und dann? Vergeltung, Distanzierung, verhärtete Fronten, Sackgasse, Leid. Oft kann man von diesen Mechanismen lesen oder hören, manch einer erlebt es am „eigenen Leib“. Haben wir denn keine andere Möglichkeit als Verbitterung und Vergeltung? Gibt es keinen Ausweg?
Wenden wir uns einmal bewusst ab, von einer menschlichen und begrenzten Betrachtung, wie verständlich diese auch sein mag:
„Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.“ (1. Mose 1)
„Die ewige Wahrheit wandelt das Universum um. In dem Verhältnis, wie die Sterblichen ihre mentalen Windeln ablegen, erweitert sich der Gedanke zum Ausdruck. „Es werde Licht“ ist die beständige Forderung von Wahrheit und Liebe, die das Chaos in Ordnung und den Missklang in Sphärenmusik verwandelt." (WuG, S. 255)
Für mich steckt in diesen Worten eine Verheißung zur Harmonie — ja, auch eine „Anleitung“ zum Vergeben. Was wird in den oben genannten Zitaten vom Menschen verlangt? Ist der Mensch dafür verantwortlich, Licht zu schaffen? Muss der Mensch Missklang verwandeln? Ist es tatsächlich der Mensch, der vergibt? Ist es der Mensch, der mit menschlichen Mitteln versucht, sich und die Welt zu verändern? Nein, es ist Gott, die ewige Wahrheit, die das Universum (also auch die Menschen) umwandelt. Der Mensch wird lediglich aufgefordert, „seine mentalen Windeln abzulegen". Aber was könnte das bedeuten? Sicher finden Sie auch hier Ihre eigenen Antworten. Meine Gedanken zu der Formulierung „Windeln ablegen" sind:
• Vergangenheit haftet uns nicht gesetzmäßig an; wir können sie hinter uns lassen.
• Wir können aus Gefühlen wie Verletzung, Beleidigtsein, Wut herauswachsen.
• Wir können Bequemlichkeit ablegen.
• Wir können auf Gott, auf das Gute, schauen anstatt auf Probleme.
• So schauen wir nach vorne anstatt nach hinten.
• Wenn wir mental wachsen, machen wir Fortschritt.
• So betrachten wir Vergangenes in einem neuen Licht.
Natürlich können wir uns entschließen zu vergeben. „Vergeben und vergessen", sagen wir manchmal. Schön, dass es uns oft so leicht fällt. Was aber, wenn wir uns trotz ehrlichen Bemühens um Vergebung weiter am betreffenden Thema festbeißen? Es einfach nicht schaffen zu vergeben? Oder so viele menschliche Begründungen finden, die dem „Vergeben können" im Wege stehen? Und was, wenn der ein oder andere sich schließlich sogar selbst dafür zu hassen beginnt, etwas nicht vergeben zu können?
Meine Gedanken zu der Formulierung „Windeln ablegen" sind: Vergangenheit haftet uns nicht gesetzmäßig an, wir können sie hinter uns lassen. Wir können aus Gefühlen wie Verletzung, Beleidigtsein, Wut herauswachsen. Wir können Bequemlichkeit ablegen.
Hier möchte ich Sie an einer eigenen Erfahrung teilhaben lassen: Die Geburt meiner ersten Tochter war nicht gerade das, was man eine „Traumgeburt" nennen würde. Und auch die Tage danach gab es dramatische Erlebnisse, die noch in Zusammenhang mit der langen und komplizierten Geburt standen. Die Geburtshelfer hatten meiner Ansicht nach mich und meinen Mann bei der Geburt ziemlich im Stich gelassen und nicht viel unternommen, um helfend einzugreifen. Natürlich betete meine Familie für mich und das Kind und eine Praktikerin stand uns zur Seite. Es sah aber so aus, als würden die Gebete nichts helfen. Heute weiß ich, dass die Gebete lebensrettend waren. Aber damals war ich tief verzweifelt, traurig und oft voller Angst. Nun bin ich ein Mensch, der sich normalerweise nicht viele Gedanken über das Thema Vergebung macht, sondern einfach vergibt. Ja, es fiel mir schon immer leicht. Aber mit diesem Erlebnis kam ich lange nicht klar. In meinem Innersten machte ich die Ärzte verantwortlich für die schmerzhaften und einschneidenden Erlebnisse, die sich viele Wochen nach der Geburt noch körperlich auswirkten. Wenn es nur mich selbst betroffen hätte, ja das wäre einfacher gewesen, aber dass meine Tochter leiden sollte, nein, das konnte ich nicht vergeben und schon gar nicht vergessen. Alle körperlichen Wunden heilten schnell und ich war von Herzen Mutter, aber dieser unterschwellige Vorwurf an die Ärzte war immer noch da. Mir schien es, als wäre ich machtlos dagegen, ja als hätte ich sogar einen Anspruch auf diese negativen Gefühle.
Die Wahrheit hatte ihre Aufgabe erfüllt und mich und mein Denken gewandelt und ich hatte viele meiner „mentalen Windeln" abgelegt. So wurde die Verheißung erfüllt und der Missklang in meinem Inneren in Sphärenmusik verwandelt.
Zwei Jahre später machte ich Klassenunterricht. Es war eine Offenbarung für mich. Ich gewann ein tieferes Verständnis von Gott und Seiner Schöpfung, beschäftigte mich immer intensiver mit den metaphysischen Zusammenhängen und wuchs in die öffentliche Christian Science Praxis hinein. Das heißt, ich war permanent mit Gott, Seinen Synonymen und Attributen beschäftigt — im Grunde mit der Vollkommenheit des Seins. Irgendwann fiel mir auf, dass aller Vorwurf an die Ärzte verschwunden war. Es war kein Aufraffen zum Vergeben, keine Vergebung mehr nötig. Ich war durch mein mentales Wachstum einfach so auch mit den Geburtshelfern in völliger Harmonie. Vergebung war sozusagen ein wunderbarer Nebeneffekt meines geistigen Fortschritts.
„Es werde Licht. Und es ward Licht!" Die Wahrheit hatte ihre Aufgabe erfüllt und mich und mein Denken gewandelt und ich hatte viele meiner „mentalen Windeln" abgelegt. So wurde die Verheißung erfüllt und der Missklang in meinem Inneren in Sphärenmusik verwandelt. Wenn ich heute an die Geburt zurückdenke, dann bin ich erfüllt von Dankbarkeit und Liebe für alle Menschen, die mir bei der Geburt und danach zur Seite standen. Ich bin unendlich dankbar für diese Lektion der Liebe, die nicht immer einfach war, aber endlosen Segen gebracht hat.
Wenn wir Vergebung als Ergebnis unseres mentalen Fortschritts erkennen, brauchen wir uns nicht abzumühen, mit dem Versuch zu vergeben. Wir können uns vertrauensvoll auf Gott — Wahrheit — verlassen und uns durch Ihn umwandeln lassen, immer bereit, mentale Windeln abzulegen, so dass Harmonie in allen Bereichen zu Tage treten kann.
