Die Evangelien der Apostel zeugen nicht nur von Jesu Heilarbeit, sondern auch von seinen Gleichnissen als einem zentralen Element seines Lebenswerkes, der Demonstration des göttlichen Seins. Gleichnisse waren ein wichtiger Bestandteil von Jesu beispielloser Mission und man darf unterstellen, dass er in bestimmten Situationen ganz bewusst seine Botschaft in Form von Gleichnissen vermittelte.
Wieso aber demonstrierte Jesus die göttliche Allmacht Gottes in dem einen Fall dadurch, dass er einen vermeintlich unvollständigen Gesundheitszustand augenblicklich und vollkommen korrigierte und damit heilte? Und wieso demonstrierte er die göttliche Herrschaft in einem anderen Fall dadurch, dass er eine fehlerhafte Sichtweise des menschlichen Gemüts durch ein Gleichnis auflöste und ihm somit bildhaft den Weg zur Selbstheilung eröffnete?
Jesu Heilungen waren die unmittelbare und vollständige Erlösung der Hilfesuchenden von Krankheiten und anderen Notsituationen. Diese Heilungen waren seine Demonstrationen der absoluten Macht des Geistes über das menschliche Gemüt und die Materie. Hingegen sprach Jesus in bildhaften Gleichnissen immer dann, wenn er seine Mitmenschen zu einem tieferen Nachdenken bewegen und sie zu einer höheren Geistigkeit führen wollte. „Unser Meister lehrte Geistigkeit durch Vergleiche und Gleichnisse." (Wissenschaft und Gesundheit, S. 117) Er vermittelte ihnen auf diese Weise den Schlüssel für eine innere Umwandlung mit dem Ziel der individuellen Selbsterkenntnis.
Zweifellos besitzen die biblischen Gleichnisse auch heute noch ihre volle Gültigkeit. Doch werden wir oben genanntem Anspruch an ein Gleichnis durch die bloße Zitierung eines dem damaligen kulturellen Kontext entsprungenen Gleichnisses heute nicht immer wirklich gerecht. Der Kern von Gleichnissen muss auf alltäglichen und damit für den Zuhörer leicht verständlichen Situationen beruhen. Kurz: Moderne Zeiten erfordern moderne Gleichnisse. Ein Beispiel: Ich arbeite ehrenamtlich an Hauptschulen mit Jugendlichen aus zum Teil schwierigen sozialen Verhältnissen. Dabei geht es auch darum, den Jugendlichen Gedanken zur eigenen Identitätsfindung mit auf den Weg zu geben. Hierbei nutze ich u. a. die Ideen des Kinderbuchklassikers „Das kleine Ich bin Ich", das von einem nicht näher bestimmbaren, rosa-weißkarierten Tier auf der Suche nach seiner Identität handelt. Ich stelle ein selbstgebasteltes „Ich bin Ich" als Stofftier auf das Pult und lese dann von dessen unbequemem Weg zu seiner Selbsterkenntnis, dass es nicht irgendwer ist, sondern ein von den anderen Tieren im Buch beachtetes, wertvolles Wesen. Mit diesem Gleichnis erreiche ich die Jugendlichen viel besser, als wenn ich über die doch eher unpersönlichen Konzepte des Selbstbewusstseins oder des Selbstwertgefühls sprechen würde.
Sind wir uns heute als Jesu Nachfolger der Heilkraft von Gleichnissen ausreichend bewusst? Vertrauen wir der göttlichen Führung gebührend, um zu erfühlen, in welchen Situationen eine radikale Heil-Demonstration, in welchen Fällen aber vielmehr ein inspiriertes Gleichnis die christlichere Antwort auf ein menschliches Bedürfnis nach geistigen Lösungen ist? Haben wir unser Bewusstein der geistigen Quelle hinreichend geöffnet, um heilende Gedanken in uns einströmen zu lassen und daraus die Worte für ein modernes Gleichnis zu schöpfen als individuelle Antwort auf einen Hilferuf?
Jesu Reinheit und sein Einssein mit dem einen Gemüt jedenfalls ließen ihn intuitiv diejenigen Situationen erspüren, bei denen es zur Befreiung der inneren Umwandlung der Zuhörer bedurfte. Situationen also, in denen das menschliche Bewusstsein damals eine direkte Zurechtweisung des Irrtums fälschlicherweise als einen Affront gegen die eigene Person aufgefasst hätte anstatt als Aufdeckung und Vernichtung des Irrtums. Die Folge davon wäre eine ablehnende oder sogar feindliche Haltung gegenüber Jesus gewesen (was trotz seiner Umsicht auch häufig genug vorkam). In solchen Fällen — also dann, wenn eine geistige Wandlung erforderlich war — nutzte Jesus in metaphysischer Weise einfache, bildhafte Gleichnisse (wie z. B. das Gleichnis des barmherzigen Samariters oder das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden). „Durch Bilder und Vergleiche hält der Offenbarer ... den Sterblichen den Spiegel vor, in dem sie ihr eigenes Bild sehen können." (Wissenschaft und Gesundheit, S. 571)
Jesu Heilungen waren die unmittelbare und vollständige Erlösung der Hilfesuchenden von Krankheiten und anderen Notsituationen. Diese Heilungen waren seine Demonstrationen der absoluten Macht des Geistes über das menschliche Gemüt und die Materie.
Wie gehen wir nun mit privaten, beruflichen oder gesellschaftlichen Situationen um, in denen wir einem für uns offensichtlichen (aber für andere Beteiligte möglicherweise verdeckten) Fehlverhalten oder einer falschen Auffassung begegnen? Zu oft, scheint es mir, erspüren wir nicht die wahre Ursache des Hilferufes unseres Nächsten und nutzen nicht die Gunst der Stunde (ja, denn genau das ist es!), diesen Hilferuf als Bereitschaft zur Umwandlung zu erkennen. Anstatt dem nach Orientierung oder Weisung rufenden menschlichen Gemüt durch ein Gleichnis liebevoll den Schlüssel zu seiner eigenen inneren Umwandlung in die Hand zu geben, schlagen wir die Tür durch zwar wohlgemeinte, aber oftmals doch uninspirierte Ratschläge oder sogar selbstgefällige Belehrungen zu.
Jesu Weg in diesen Situationen hingegen war es, die schlummernde Bereitschaft des Hilfesuchenden zur Umwandlung durch ein einfühlsames Gleichnis zu erwecken und auf diese Weise die metaphysische Heilung einzuleiten. In anderen, aus menschlicher Sicht zumeist extremen Situationen hingegen (wie z. B. der Heilung des Gelähmten am Teich Betesda oder der Auferweckung des Lazarus von den Toten) bewies Jesus ohne Zögern die Vollmacht des göttlichen Prinzips hier auf Erden, Krankheiten zu heilen und sogar den Tod zu besiegen. Hier war Jesu Wirken „eine Heilarbeit, die kein Mutmaßen ist, nicht in langwieriger, schwankender Wiederherstellung besteht, sondern augenblickliche Heilung bringt." (Vermischte Schriften, S. 355) Diese oft als Wunder missverstandenen Demonstrationen der absoluten Macht Gottes waren sein sichtbarer Beweis für die Gültigkeit seiner Lehren und Predigten — und damit auch seiner Gleichnisse.
Im Falle der Jugendlichen, die ich betreue, ist neben der methaphysischen „Gleichnis-Arbeit" naturgemäß oftmals auch sofortige Hilfe und konkrete Demonstration erforderlich, wie z. B. bei Selbstaufgabe und Traurigkeit, bei Zukunftsängsten und Mangelgedanken oder auch bei Frustration und Aggression. In diesen Situationen arbeite und bete ich selbstverständlich sofort und spezifisch bereits während des Unterrichts für die Auflösung der irrtümlichen Gedanken und beschränke mich nicht auf bloße Worte, mit denen ich bei den Jugendlichen in solchen akuten Fällen auf nichts als taube Ohren stoßen würde.
Jesu oft als Wunder missverstandenen Demonstrationen der absoluten Macht Gottes waren sein sichtbarer Beweis für die Gültigkeit seiner Lehren und Predigten — und damit auch seiner Gleichnisse.
Jesus selbst spricht zu seinen Jüngern über den Sinn der Gleichnisse wie folgt: „Euch ist's gegeben, die Geheimnisse des Himmelreichs zu verstehen, diesen aber ist's nicht gegeben ... Darum rede ich zu ihnen in Gleichnissen." (Matthäus 13) Für mich bedeutet dies: Sei in Momenten eigener Bedürftigkeit offen dafür, dem Gleichnis eines anderen zu lauschen und dabei den Schlüssel zur eigenen inneren Wandlung zu entdecken. Und sei bei einem Hilfegesuch eines Mitmenschen geistig genug, um zu unterscheiden, ob sich die göttliche Heilbotschaft besser in Form radikaler Heilarbeit demonstrieren oder aber durch eine liebevolle Gleichnis-Botschaft ausdrücken lässt.
