Das religiöse Leben in den 1820em im ländlichen Bow, New Hampshire, scheint sich erheblich zu unterscheiden von der erstaunlichen Bandbreite der religiösen Glaubensrichtungen, die wir heute in den USA finden. In der Kolonialzeit nahmen die meisten Menschen mindestens einmal in der Woche an einem Gottesdienst teil und versammelten sich zu Hause zweimal am Tag zu Bibellesungen und Gebeten. Das Bedürfnis, das Wort Gottes zu lesen, trug entscheidend zur hohen Alphabetisierungsrate von Männern und Frauen in Neuengland bei. Eddys Vater, Mark Baker, war überzeugter Calvinist und treues Mitglied der kongregationistischen Kirche. Seine Familie hatte sich schon vor seiner Zeit dem Clavinismus angeschlossen, der u.a. die Doktrin beinhaltet, dass man auserwählt oder prädestiniert sein muss — was bedeutet, dass man durch Gottes Gnade schon von vornherein entweder zur Erlösung oder zur Verdammnis bestimmt ist. Nichts auf der Erde konnte dies verändern, auch nicht der selbstloseste und moralischste Lebenswandel. Aber mit der Zeit begannen die Menschen zu glauben, dass wahrscheinlich jemand zu den Auserwählten gehörte, wenn er ein guter Mensch war.
Doch als die Menschen sich in der neuen Kolonie niedergelassen hatten, regten sich Zweifel an dieser Lehre. Im 17. Jahrhundert sind Pioniere aus Neuengland wie Anne Hutchingson verbannt oder wie Mary Dyer hingerichtet worden. Sie hatten diesen traditionellen Vorstellungen fortschrittliche Elemente hinzufügen wollen, indem sie z. B. sagten, dass Männer und Frauen eine religiöse Erweckung in sich selbst erleben oder die Kraft Gottes spüren könnten. Dies wurde als Angriff auf die Autorität der Bibel und der Geistlichen betrachtet.
Beide waren Frauen, die ihre Vorstellungen öffentlich gepredigt haben, was damals als ketzerisch galt und wahrscheinlich zu ihrem frühzeitigen Tod führte. Während der Kindheit und frühen Jugend Mary Baker Eddys fegten religiöse Veränderungen durchs Land. Dies wurde später als die “Zweite Große Erweckung” bezeichnet. Wiedererweckungstreffen ermutigten die Menschen, eine persönliche Erlösung durch Bekehrung in Erwägung zu ziehen, und viele glaubten gehört zu haben, wie Gottes Stimme direkt zu ihnen gesprochen hat. Diese Bewegung regte einige Frauen aus allen Kulturen dazu an, Wanderprediger zu werden, weil sie sich durch Gottes Stimme verpflichtet fühlten, aufzustehen und Gottes Wort zu verkündigen. Auch der Neffe Mark Bakers war zum Universalismus übergetreten — einer Bewegung, die aus dem Calvinismus in England hervorgegangen war. Sie lehnt jedoch die Prädestination ab und propagiert aufgrund der Kreuzigung Jesu die Möglichkeit der Erlösung für alle Menschen durch Buße. Die Konversion von Aaron Baker hat sicherlich zu vielen Diskussionen im Hause Baker geführt.
Marys Mutter hat vor der Geburt Marys gehört, dass Gott zu ihr gesprochen hat. Mary selbst hatte als Kind Gott zu ihr sprechen gehört — und das ist nicht typisch für ein streng calvinistisches Zuhause.
Von all den Kindern in der Familie Baker schien Mary das einzige zu sein, das sich zu geistigen Dingen hingezogen fühlte. Für sie war Beten so natürlich wie Atmen. Sie liebte es, in der Bibel zu lesen, und bemühte sich offensichtlich, nach den Lehren der Bibel zu leben, und so ist es nicht verwunderlich, dass sie sehr bald frontal gegen den Glauben ihres Vaters und ihrer örtlichen Kirche anstürmte.
Vor einiger Zeit wies Gillian Gill, eine Biografin Mary Baker Eddys, in einem Gespräch auf den „Nadelkissenvorfall“ als den entscheidenden Moment in der Kindheit Mary Baker Eddys hin. Als Mary Baker Eddy ihren Vater wegen der Länge seiner Predigt mit einer Nadel anpiekste, deutete dies auf ihre zukünftige Größe hin. Lyman Powell berichtet, wie Mary Baker Eddy darüber sprach, dass sie „ein lange Tuchnadel aus dem Nadelkissen nahm, das auf dem Tisch lag, auf dem Fußboden bis hinter den Stuhl kroch, neben dem ihr Vater kniete und heftig ermahnte, dann die Nadel an einer Stelle einsetzte, die zu einem sofortigen Ergebnis führte, und die darauf folgende Verwirrung nutzte, um zu entwischen.“ (Mary Baker Eddy: A Life Size Portrait, S. 304) Dr. Gill sprach darüber, dass dies nicht nur den Spannungen bei Glaubensfragen im Hause Baker entsprach, sondern auch ihren zukünftigen Stichen gegen die traditionelle Kirchentheologie in ihrem weiteren Leben.
Diese Wogen der Veränderung, die Mary Baker Eddy und ihre Familie in Neuengland berührten, können als Antrieb für Eddys hinterfragendes Denken gesehen werden. Es gibt Beispiele von noch früheren religiösen Gedankenströmungen, die zu dieser Zeit in und um Neuengland aufkamen. Es gab die Shaker, die Quäker und die Galubensrichtungen der Indianer, das Aufsteigen des Spiritualismus, die Milleriten, die Adventisten und noch viele andere mehr, über die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Amerika gesprochen wurde. Es war also gar nicht so anders als heute, oder? — Eine Zeit der Veränderung, in der die seit vielen Jahren etablierte Kirche eine von vielen wurde, statt die einzige zu bleiben.
Zu Eddys Bildung wurde schon viel gesagt. Wegen ihrer schlechten Gesundheit konnte sie nicht so oft in die Schule gehen, wie sie gerne gewollt hätte. Auch mussten Mädchen damals zu bestimmten Jahreszeiten oft noch zu Hause bleiben, um im Haushalt zu helfen. Aber wir wissen, dass sie viel gelesen hat und von ihrem Bruder in Fächern unterrichtet worden ist, von denen sie wahrscheinlich normalerweise nichts gehört hätte. Es scheint, als sei es ihr nicht schwergefallen, sich das Gelesene zu merken, und sie selbst schreibt, dass ihr Gedächtnis sehr gut war. Auch wenn sie nicht wie manche ihrer Zeitgenossinnen wie Elizabeth Cady Stanton oder Lucy Stone einen höheren Bildungsweg einschlagen konnte, hat sie doch eine Akademie besucht und dort später selbst unterrichtet. Auf der Suche nach besserer Gesundheit und einem aktiveren Leben widmete sie sich weiterhin hingebungsvoll dem Studium der Heiligen Schrift, aber tauchte auch in medizinische Themen ihrer Zeit ein, wie Homöopathie, Hydrotherapie, Heilung durch Mesmerismus und viele andere Alternativen. Sie suchte, experimentierte, bewies, wiederholte, entdeckte — auch als sie sich in weniger schwierigen Lebenslagen befand, hörte sie nie auf, sich weiterzubilden.
Mit so einer Liebe zum Lernen, die voll und ganz in den historischen Zusammenhang der Zeit hineinpasste, in der sie lebte, ist es nicht sonderlich überraschend, dass die Bibel in den dunklen Zeiten, denen sie begegnete, stets griffbereit lag. Sie suchte darin Inspiration und Trost. Wann immer sie konnte, beteiligte sie sich an einer Kirchengemeinde, denn im Gegensatz zu ihren Brüdern und Schwestern war es ihr wichtig, Mitglied dieser Gemeinde zu sein. Ihr Leben ging weiter durch viele Höhen und Tiefen, bis es in der Entdeckung der Christlichen Wissenschaft gipfelte. Obwohl sie zunächst nicht verstand, wie sie wieder gesund geworden war, wusste sie doch, dass es völlig in den Lehren der Bibel begründet war. Ihr Verlangen, dieses Heilsystem allen zugänglich zu machen, stand für sie an erster Stelle.
Nachdem sie sich als Heilerin und Lehrerin etabliert hatte, trafen Eddy und ihre Schüler sich zum Gottesdienst — auf der Grundlage der neutestamentlichen christlichen Gemeinden, über die wir in den Evangelien und bei Paulus lesen. Dies rief ein Familiengefühl hervor, eine Gemeinde, die sich aufgrund eines einzigen Ziels zusammenschloss und die Ressourcen bündelte. Das Ziel war es, die Werke Jesu Christi zu vollbringen — die Hauptmission war es nicht, die Kranken zu heilen, sondern wie sie feststellt, die „höhere Mission der Christus-Kraft zu bestätigen, die Sünden der Welt wegzunehmen“ (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 150). Diese Kirche traf sich zunächst in einem gemieteten Raum, dann bei den Leuten zu Hause und als die Teilnehmerzahlen anstiegen wieder in gemieteten Räumen. Als die Kirche 1879 gegründet wurde, beschrieb sie deren Aufgabe damit, „eine Kirche zu gründen, die den Zweck haben sollte, die Worte und Werke unseres Meisters in Erinnerung zu bringen und dadurch das ursprüngliche Christentum und sein verlorengegangenes Element des Heilens wiedereinzuführen.“ (Kirchenhandbuch, S. 17)
Die Kirche insgesamt bewies durch Heilung der Kranken die Kraft des Christus. Paulus geht sogar so weit, die Kirche in seinem ersten Brief an die Korinther den „Leib Christi“ zu nennen. (1. Korinther 12)
Dieser Beitrag wurde erstmals im Christian Science Journal veröffentlicht.
Als ich gebeten wurde, auf dem Lebendige Kirche Summit in Südkalifornien über Mary Baker Eddys „Idee von Kirche“ zu sprechen, wendete ich mich umgehend an meine Kollegen Judy Hunneke und Mike Davis, weil beide so vertraut mit den historischen Fakten sind. Unsere Gespräche und unsere Forschungen in den Worten Mrs. Eddys in ihren Briefen, Predigten, Artikeln, in den Protokollen der Organisationen, die sie gegründet hat, sowie die Forschung in den Erinnerungen ihrer Schüler und anderen Berichten führten zur folgenden Ansprache. Ich bin keine Historikerin von Beruf, aber über die Jahre, die ich in der Mary Baker Eddy Library gearbeitet habe, lernte ich den frühen Kampf in ihrem Leben und ihre mutigen Entscheidungen sehr zu schätzen, die sie traf, um die Christliche Wissenschaft zu praktizieren, zu kommunizieren und zu lehren. Sie hätte auch nur für sich selber geistige Heilung erleben und ihr Leben weiterführen können. Sie aber wurde dazu getrieben herauszufinden, was mit ihr geschehen war, und ihre Erfahrung mit anderen zu teilen. Sie verstand die Bedeutung dieser Historie und schrieb: „Die Menschen scheinen die Christliche Wissenschaft genau in dem Verhältnis zu verstehen, in der sie mich kennen und umgekehrt. Manchmal erstaunt mich die Unveränderlichkeit dieser Regel.“ (Foo537, Mary Baker Eddy an Julia Field-King, 26. November 1897, The Mary Baker Eddy Collection, The Mary Baker Eddy Library)
Auch Sie können dieses Material erforschen. Loggen sie sich auf www.mbelibrary.org ein oder rufen Sie den Research Room unter der Nummer 001-617-450-7218 an und lernen Sie Mary Baker Eddy durch Erkundigungen, Nachforschung, Bibliotheksprogramme und Ausstellungen kennen.
