„Wie viele von Ihnen lieben jemanden?“, fragte die Sprecherin eines Vortrags, den ich besuchte. Sie erklärte, dass das jeder sein konnte: Bruder oder Schwester, Kollegen oder Freunde, Ehepartner oder ein Kind.
Praktisch alle Anwesenden des gut besetzten Saals hoben die Hand.
Dann fragte sie: „Und wie viele von Ihnen lieben sich selbst so, wie diese Person?“
Deutlich weniger Menschen meldeten sich – kaum mehr als ein Dutzend.
Ich empfand Mitgefühl mit den anderen, denn ich kannte die innere Stimme, die immer Fehler findet, sehr gut.
Doch an dem Abend gehörte ich zu denen, die sich meldeten. Einige Zeit zuvor hatte ich die Christliche Wissenschaft kennengelernt, und sie hatte mir geholfen, meine ständige Selbstkritik einzustellen. Als ich die Bibel und die begleitenden Schriften von Mary Baker Eddy studierte, erkannte ich, dass wir viel mehr sind als die oft verwirrte, materielle Figur, als die wir uns zunehmend betrachten. Ich lernte, dass wir im Kern Gottes Söhne und Töchter sind, und Er hat jeden Menschen immer lieb.
Das heißt nicht, dass wir tun können, was wir wollen. Ein besseres Verständnis unseres göttlichen Wesens fördert Denk- und Handlungsweisen zutage, die unserer natürlichen Qualität als Gottes Kinder entgegensteht, und inspiriert uns, Änderungen vorzunehmen. Doch das wird durch Gottes beständige Fürsorge hervorgerufen. Als ich merkte, wie befreiend diese berichtigende Liebe Gottes ist, begriff ich, wie sehr sie sich von scharfer Selbstkritik unterscheidet. Die Bibel legt uns nahe, „so gesinnt [zu] sein, wie Jesus Christus auch war“ (Philipper 2:5), und ich erkannte, dass ein ständiges Bekritteln einer Gesinnung entstammte, die nicht in Christus Jesus war – einem Gemüt, das nichts mit dem göttlichen Gemüt, Gott, zu tun hatte, das Jesus so gehorsam zum Ausdruck brachte. Ich verstand, dass ich das gottgegebene Recht habe, die Litanei von Selbstbeschuldigungen abzustellen und stattdessen demütig im Gebet auf Gedanken zu lauschen, die Frieden und Freude verbreiteten und verlässlich vom göttlichen Gemüt stammten. Durch diese Gedanken von Gott lernte ich, mich auf derselben Grundlage zu lieben, auf der ich auch andere zu lieben lernte – durch ein Erheben des Denkens über eine materielle Analyse des Selbstwerts zu einem geistigen Verständnis davon, wie wertvoll wir alle als Gottes Schöpfung sind.
Es gibt Stellen in der Bibel, die diesen natürlichen, geistigen Wert sehr poetisch ausdrücken. Der Psalmist sagt zu Gott: „Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, das erkennt meine Seele sehr wohl“ (Psalm 139:14).
Jeder Mensch ist das wunderbare Werk unseres makellosen Schöpfers und stammt direkt von Gottes Naturell ab. Das göttliche Gemüt sieht nie materielle Persönlichkeiten unterschiedlicher Wertigkeit, sondern liebt uns als seine geistigen Ideen. Und diese Liebe von Gott zu allen Seinen Kindern wird korrekt widergespiegelt, wenn alle Seine Kinder einander lieben – und dazu gehört, sich selbst so zu lieben wie Gott es tut.
In der Praxis ist es nicht immer einfach, ein menschliches Konzept von uns selbst zugunsten dieses wahren Bewusstseins unseres unantastbaren Wertes aufzugeben. Mary Baker Eddys Buch Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift drückt es so aus: „Der materielle Standpunkt gibt nur langsam das zu, was die geistige Tatsache in sich schließt“ (S. 20). Doch diese Art von Widerstand ist nie unsere Wirklichkeit. Er ist ein irriges, materielles Verständnis unserer selbst, das wir zunehmend als unwahr erkennen können, wenn wir besser verstehen, dass wir nichts anderes als das wundervolle Werk Gottes sind.
Das Studium und die Praxis der Christlichen Wissenschaft bieten viele Hilfestellungen dafür, darunter die wöchentlichen Bibellektionen aus dem Vierteljahresheft der Christlichen Wissenschaft, die Zwiesprache mit unserem Pastor – der Bibel und Wissenschaft und Gesundheit – und tägliches Gebet für uns selbst.
Was Letzteres angeht, so fand ich eine Beschreibung von Mrs. Eddys Tag besonders hilfreich. Calvin Hill, einer der ersten Mitarbeiter in der Bewegung der Christlichen Wissenschaft, gab ihre Worte so wieder: „Morgens beim Aufwachen erkläre ich als erstes, dass ich kein anderes Gemüt als das göttliche Gemüt haben werde, und ich werde mir dessen voll bewusst und halte den ganzen Tag daran fest, dann kann das Böse mich nicht berühren“ (Wir kannten Mary Baker Eddy, S. 109).
Für mich ist das ein machtvolles Beispiel dafür, wie wir beten können, um gegen schlechte Einflüsse immun zu sein – immer wenn wir beten und egal, um welchen Aspekt von Gott es dabei geht. Dabei ist es sehr wichtig, dass wir mental oder verbal auf dem bestehen, was geistig wahr ist. Doch Gebet geht weit darüber hinaus. Wir müssen in die Wirklichkeit dessen eindringen, was wir erklärt haben, bis unser Denken sich ändert und wir uns Gottes Wirklichkeit und unseres unzerstörbaren, heiligen Wertes sicher sind. Das räumt die Tendenz aus, uns und andere materiell statt geistig zu messen, und befähigt uns, den ganzen Tag über an diesem Verständnis festzuhalten.
Manchmal möchte eine Stimme der Ichbezogenheit uns einflüstern, wir verdienten es nicht, uns die nötige Zeit zum Beten zu nehmen, um solch eine christliche Klarheit im Denken zu erlangen. Doch das ist eine Verleumdung, gegen die wir uns auflehnen können, denn wir haben immer ein Recht auf den Platz, der erforderlich ist, um Gottes Gnade zu bestätigen und zu spüren. Dieses Vorgehen ist selbstlos. Wenn wir unseren gottgegebenen Wert erklären, in uns aufnehmen und nicht mehr loslassen, dann bereiten wir uns darauf vor, andere aktiv wahrzunehmen und zu lieben.
In Wahrheit können wir uns auch gegen die Behauptung auflehnen, dass es Stimmen gibt, die nicht Gott gehören. Für Christus Jesus, der Gottes Liebe am besten manifestierte und artikulierte, waren alle inneren Stimmen, die Gott, das Gute, nicht als ihre Quelle bezeugten, „ein Lügner und der Vater derselben“ (Johannes 8:44) – unwirklich und der Kommunikation unfähig. Für ihn war alles das eine Gemüt, das seine Widerspiegelungen mit Liebe umgab. Auf dieser Grundlage zeigte Jesus uns, dass wir allem, was uns stresst, sagen können: „Schweig und verstumme!“ (Markus 4:39). Er stillte mit diesen Worten buchstäblich einen Sturm auf See – und heilte körperliche und mentale Gebrechen, überwand großen Mangel und bewirkte Umwandlungen des Charakters.
Eine solche Wiederherstellung der menschlichen Freiheit ist das natürliche Ergebnis davon, sich Gott zuzuwenden, um unseren wahren Wert zu erkennen und festzustellen, dass wir immer voll und ganz liebgehabt werden.
Tony Lobl
Stellvertretender Chefredakteur