Niemand stoppte, um dem Mann zu helfen. Der Student wollte helfen, aber er war auf dem Weg zur letzten Prüfung seines letzten Jahres im Priesterseminar – eine Prüfung, die er bestehen musste, um eine dringend benötigte Stelle antreten zu können. Der Professor hatte gewarnt, dass Zuspätkommer nicht eingelassen werden würden. Wenn der Priesteranwärter anhielt, um dem Mann zu helfen, der auf dem Bürgersteig nach Luft rang, dann würde er mit ziemlicher Sicherheit zu spät kommen. Bestimmt würde eine andere Person helfen.
Doch niemand tat es. Der Priesteranwärter konnte den Mann nicht einfach da lassen, also ging er zu ihm.
Der Mann rang nicht wirklich nach Atem. Er war Teil der Prüfung. Der Professor hatte sämtliche Teilnehmer seines Kurses mit demselben Dilemma konfrontiert. Alle, die ihren Weg unterbrachen, erhielten automatisch die Bestnote. Alle anderen mussten die Prüfung ablegen.
Der Geistliche, der mir die Geschichte erzählte, erklärte, dass der Professor sehen wollte, ob die angehenden Priester nicht nur die Theorie, sondern die Grundlage des Christentums verstanden – eine Liebe zu Gott und unseren Mitmenschen, die so rein und selbstlos war, dass sie Gottes Liebe zu uns wiedergibt. Die alten Griechen hatten ein viel benutztes Wort für diese Art von Liebe: agapē. In der Bibel wird agapē fast ausschließlich als Liebe wiedergegeben und zeigt die vollständig selbstlose, umfassendere Liebe, die mehr als nur eine persönliche Zuneigung ist, wie man sie zu Menschen in seinem Freundes- oder Familienkreis hat.
Ein Beispiel ist 1. Korinther 13:3: „Und wenn ich meinen ganzen Besitz den Armen gäbe und ließe meinen Leib verbrennen, und hätte keine Liebe, dann wäre es mir nichts nütze.“ Wirklich? Ohne agapē kommen uns gute Werke überhaupt nicht zugute? Was macht es, ob wir agapē haben oder nicht? Eine gute Tat ist doch trotzdem eine gute Tat, oder?
Für Christliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist der Unterschied wichtig. Die Liebe, die etwas Positives in der Welt bewirkt, basiert auf Gott als göttlicher Liebe. Sie ist die Macht, die heilt. Mary Baker Eddy, die Entdeckerin der Christlichen Wissenschaft, erklärt: „Dem Heiler, dem das Mitgefühl für seine Mitmenschen fehlt, mangelt es an Menschenliebe und wir haben die apostolische Befugnis zu fragen: ‚Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie kann er Gott lieben, den er nicht sieht?‘ Wenn der Heiler diese geistige Liebe nicht hat, fehlt ihm der Glaube an das göttliche Gemüt und er besitzt nicht die Erkenntnis der unendlichen Liebe, die allein die heilende Macht verleiht“ (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift, S. 366).
Menschliche Zuneigung ist wichtig, denn sie führt uns zu der Selbstlosigkeit, die wir zum geistigen Wachstum brauchen. Doch menschliche Zuneigung allein reicht eindeutig nicht.
Geistige Liebe hingegen ist mit der „Erkenntnis der unendlichen Liebe“ verbunden. Wir erkennen etwas, wenn wir es als das wahrnehmen, was es ist. Wenn wir den unendlichen Gott, Liebe, wirklich erkennen, verstehen wir Ihn als den einzigen Schöpfer, die einzige Macht, die einzige Intelligenz, die allen Raum erfüllt. Als Gottes Schöpfung, der Mensch, sind wir alle das geistige Bild und Gleichnis der Liebe. Wenn wir Liebe als vollständig gut erkennen, müssen wir automatisch den Menschen als vollständig gut erkennen, denn der Mensch spiegelt Liebe wider.
Auf diese Weise ist geistige Liebe nicht nur ein Gefühl von Liebe für Gott und den Menschen, sondern die Erkenntnis der unendlichen Reichweite und Macht der göttlichen Liebe und die damit verbundene Unendlichkeit und Herrschaft des Menschen. Wenn die vollkommene Liebe und ihre vollkommene und geistige Widerspiegelung allen Raum erfüllt, kann es keinen Platz für etwas geben, das nicht als Liebe zu erkennen ist.
Das ist der Grund, warum die Erkenntnis der Allgegenwart und Allmacht der Liebe Heilungen nach sich zieht. In unserer Erfahrung sehen wir vieles, was nicht wie Liebe aussieht – Sünde, Krankheit, Tod, Konflikte, all die Formen dessen, was wir das Böse nennen. Die bewusste Erkenntnis der ewigen Gegenwart und Macht der Liebe schließt das Böse aus unserer Erfahrung aus, denn es war schon immer aus dem Reich der Liebe ausgeschlossen. Krankheit, Finanz- und Beziehungsprobleme verschwinden in dem Maße, wie wir Liebe mit Verständnis als das erkennen, was sie ist.
Das ist auch der Grund, warum Paulus sagt, dass ohne Liebe selbst unsere besten Taten nicht ausreichen. Ohne Liebe verlieren wir die wahre Sicht von Gott, unseren Mitmenschen und uns selbst aus den Augen. Wenn dass passiert, können subtile Suggestionen bewirken, dass wir gemäß Sichtweisen handeln, die eine oder viele Mächte als Konkurrenten von Liebe betrachten.
Doch durch den Christus, die geistige Idee der göttlichen Liebe, erkennen wir diese Suggestionen als rechtmäßig falsch. Wenn wir die göttliche Liebe in unser Bewusstsein einlassen, hält der Christus das Ideal von Leben, Wahrheit und Liebe strahlend und unverkennbar in unserem Denken. Dieses Ideal ist ein Prüfstein, der zeigt, ob wir von dem Standpunkt geistiger Liebe oder von rein menschlicher Zuneigung aus handeln. Geistige Liebe erkennt keine Grenzen der Reichweite oder Macht der Liebe an; sie weiß, dass uns kein Schaden dadurch entstehen kann, dass wir in Übereinstimmung mit der Forderung der Liebe handeln, unseren Nächsten zu lieben.
Der junge Priesteranwärter hatte dringende und legitime persönliche Gründe, die ihn verleiten wollten, nicht stehenzubleiben. Doch er verstand die Macht einer höheren Liebe. Dieses Verständnis half ihm, der Versuchung zu widerstehen und die richtige Entscheidung zu treffen.
Auch wir können uns geistige Liebe zum Ziel setzen, dieses höhere Verständnis von Liebe, das Christus Jesus verkörperte. Wir können uns von Christus, der geistigen Idee der göttlichen Liebe, durch die Christliche Wissenschaft lehren lassen, das zu erkennen, was zur göttlichen Liebe gehört. Wir können darauf vertrauen, dem Pfad zu folgen, den Liebe uns vorgegeben hat, wenn wir selbstlos lieben und von dieser Grundlage aus handeln – wenn wir von der Macht und dem Vorgehen der göttlichen Liebe zu fürsorglichem Verhalten motiviert werden. Und wir können erwarten, dass dies ganz natürlich zu Heilung führt.
Lisa Rennie Sytsma
Stellvertretende Chefredakteurin
