Jahrhunderte lang hat sich der festeingewurzelte Trieb geltend gemacht, die Menschen in zwei große Klassen einzuteilen — Gute und Schlechte. Von vielen Religionslehren der Vergangenheit wurden sie teilweise für erlöst, teilweise für verdammt erklärt, — nicht nach persönlichem Verdienst, sondern vielmehr nach einem bestimmten vorher festgesetztem Plan. Moderne religiöse Denkweise, weitherziger geworden, gibt dem Einzelnen die Gelegenheit, sich seine Seligkeit durch die Wahl rechten Lebenswandels zu schaffen, macht aber auch noch die Scheidung zwischen guten und schlechten Leuten. Das höher hinauf strebende Denken jedoch protestiert gegen diese engherzige Scheidung, aus dem einfachen Grunde, weil die guten Leute sich oft der widersprechendsten Handlungen schuldig machen, während die sogenannten schlechten durch edle Triebe zu großen und guten Taten bewegt werden. In der Theorie könnte man vielleicht eine Scheidungslinie ziehen, aber in der Praxis ließe sich dieselbe nicht auf die Menschen anwenden.
So ist das höher sich aufschwingende Denken, der instinktiven Liebe zum Guten folgend, schnell dieser engherzigen Auslegung des Problems des Menschen entwachsen, hat die Pflege des Guten und die Vernichtung des Bösen in jedem Einzelnen angestrebt, und das Ergebnis der Weisheit eines liebenden Vaters anvertraut. Die Erziehung der Menschheit hat sich nach dieser Richtung hin weitere Bahn gebrochen, bis das Erscheinen der Wissenschaft des Christentums in dem Buch der Mrs. Eddy „Science and Health with Key to the Scriptures,“ der Welt eine Auslegung menschlicher Existenz gegeben hat, welche die Frage von Gut und Böse von dem Gebiet der einzelnen Person auf das Gebiet des Geistes verlegt hat.
Es liegt auf der Hand, daß die Gleichnisse unseres Meisters vom Weizen und Unkraut, von den Schafen und den Böcken, heute nur dann von wirklichem sittlichem Wert sind, wenn der Schüler sie auf sein eigenes gutes, beziehungsweise böses Denken anwendet, anstatt auf das Schicksal guter und schlechter Menschen. Das verwickelte Problem, wer erlöst und wer verdammt werden soll, löst sich in die Frage auf, was erlöst und was verdammt werden soll, und wenn die Welt die Ewigkeit und Unzerstörbarkeit des Guten, und die vergängliche und flüchtige Natur des Bösen erkennt, so wird es als das Recht jedes Menschen erkannt werden, sich eine dauernd rechte Denkweise und damit dauernde Seligkeit zu erringen. Es liegt auf der Hand, daß das Denken Umstände und Vorgänge beherrscht, denn aus rechtem Denken ergibt sich eine rechte Lebensweise, und eine rechte Lebensweise gewinnt die Seligkeit, da sie nicht verdammt werden kann.
Die unpersönliche Natur des Bösen und die wissenschaftlich richtige Methode dasselbe zu zerstören, wurden einst von einem Christian Scientisten im Gespräch mit einem anderen in treffender Weise erleuchtet; der letztere erklärte, er wolle nichts von Christian Science wissen, wenn es zur Bedingung mache, daß man seine Feinde lieben müsse; er verteidigte den Anspruch: „Auge um Auge, Zahn um Zahn” und erklärte, daß nur durch Rache am Übeltäter das Böse zu zerstören sei.
Es wurde die Frage an ihn gerichtet: „Wenn ein Mensch Sie mit einem Steine wirft und Sie verletzt, würden Sie dann, um eine Wiederholung zu verhindern, den Stein angreifen?” „Nein, gewiß nicht. Ich würde den Mann, der ihn warf, angreifen.” Darauf erfolgte die Frage: „Wenn Gedanken von Bosheit oder Haß oder Eifersucht einen Menschen ergreifen und ihn gegen Sie schleudern, würden Sie dann den Menschen angreifen? Ist er nicht der ‚Stein‘ in der Hand des böswilligen Triebes, welcher ihn überwältigt hat, und ist es nicht richtiger, sich mit den Gedanken, welche ihn gegen Sie schleuderten, abzugeben?”
Aus dieser Illustration geht deutlich hervor, daß Gedanken in jedem Falle die treibenden Motive für Handlungen sind, und daß der Mensch, durch den eine Handlung begangen wird, nur das Werkzeug eines bösen Triebes ist. Der, welcher nicht die Kraft hat, dem zu widerstehen, was seinen Bruder schädigt, ist in höherem Maße ein Opfer des Bösen als der geschädigte, denn er ist mehr unmittelbar unter der Herrschaft des Bösen und bedarf daher dringender der Hilfe.
Was ist nun das Heilmittel für den Menschen, der von dem bösen Triebe geschleudert wird, wie auch für den Verletzten? In unserem Beispiel könnten die Steine, welche am nächsten zur Hand liegen, wohl entfernt werden, aber wenn der Trieb des Schleudernden nicht angehalten wird, so wird er bald andere Steine finden, die seinem Zweck entsprechen. Wenn jedoch der böse Trieb zerstört wird, so können noch so viele Steine zur Hand sein, er wird niemanden damit beschädigen wollen. Dieses Bild läßt sich unmittelbar auf das Gebiet des Geistes anwenden, denn in der Lösung aller Schwierigkeiten haben wir es nicht mit Menschen, sondern mit geistigen Eigenschaften zu tun, nicht mit Personen, sondern mit den Trieben, die sie zum Handeln bewegen.
Der Christian Scientist erlangt die Befreiung von der Tätigkeit des Bösen dadurch, daß er demselben die Zustimmung und Unterstützung seines eigenen Denkens verweigert. Nicht nur vermeidet er es so viel ihm möglich selber dem Bösen irgendwie nachzugeben, er geht noch weiter und weigert sich zu glauben, daß irgend ein anderes Kind Gottes der Möglichkeit ausgesetzt ist, zum Werkzeug des Bösen zu werden. Er trennt den Menschen vom Bösen und greift das Böse als den einen gemeinsamen Feind an, welcher durch jeden Menschen Ausdruck zu finden sucht. Wenn die Sünde nicht mehr auf einen Menschen einwirken und durch ihn wirken kann, so kann sie auch nicht länger andere durch ihn schädigen.
Wenn der Schüler der Christian Science ruhig und geduldig mit seinen eigenen Gedanken arbeitet, und mit derselben beharrlichen Treue, mit welcher er das Böse aus seinem eigenen Gemüte fernhält, sich weigert dem Bösen, welches durch einen andern kommt, irgend welche Macht zuzuerkennen, so trennt er sich dadurch vom Bösen und vernichtet die Einwirkung desselben auf sein eigenes Leben und indirekt auch auf das Leben solcher, die ihn zu schädigen suchen. Demjenigen, der diesen Grad von Erkenntnis besitzt, gereicht jeder Versuch ihn zu schädigen, zum Segen, denn er wird dadurch getrieben in dieser unpersönlichen Anschauung Zuflucht zu finden, und dadurch wird er geläutert. Die Versuchung Groll zu empfinden wird dadurch entwaffnet, denn neben seiner eigenen Befreiung gewinnt er dadurch auch ein tiefgehendes Interesse an der des anderen. Er findet, daß er nicht mit seinen Mitmenschen zu kämpfen hat, sondern mit dem Bösen, welches alle Menschen zu umgarnen sucht, und in dem Maße in welchem er Erfolg erringt, durch Überwindung des Bösen mit dem Guten, kann er mit Paulus sagen: „Wir wissen aber, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen ... Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?”
