Die Vorliebe des Apostels Paulus für das Paradoxe muß einem jeden aufmerksamen Leser seiner Schriften auffallen, denn er ergeht sich oft in den scheinbar größten Widersprüchen. Wenn er z. B. sagt: „Ich sterbe täglich,” „Ich lebe aber; doch nun nicht ich,” usw., so ist es klar, daß er sich nicht scheut, dem Anscheine nach eine sprachliche Inkonsequenz zu verüben, um dadurch Überraschung und Nachdenken hervorzurufen und die Menschen aus ihrer dumpfen Unwissenheit und ihrer Zufriedenheit mit altherkömmlichen Vorstellungen aufzurütteln.
Diese Gewohnheit des großen Apostels kommt ferner im zweiten Korintherbrief zum Ausdruck, wo es heißt: „Denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.” Auf den ersten Blick erscheint dies als eine sehr törichte Aussage und man fragt sich unwillkürlich: „Was meint er wohl damit?” Er hatte wahrscheinlich teilweise die Absicht, die Aufmerksamkeit des ernsten Forschers zu fesseln und ihm dann eine klare Einsicht in die tiefere Bedeutung seiner Worte zu geben. Man braucht nur ein wenig nachzudenken, um klar einzusehen, daß ein und dasselbe Ich nicht zu gleicher Zeit schwach und stark sein kann. Paulus drückte sich menschlich aus. Sein schwaches Ich war nicht identisch mit seinem starken Ich. Er erkannte die materielle Persönlichkeit an als eine menschliche Annahme und zog dann eine scharfe Linie zwischen dieser Persönlichkeit und der wahren geistigen Persönlichkeit. Es war dies nicht nur ein vernünftiges, sondern auch ein wissenschaftliches Verfahren.
Die Christian Science legt großes Gewicht auf die Erkenntnis dieses Unterschiedes. Sie bezeichnet dieselbe als ein Haupterfordernis für denjenigen, der das wahre Ich kennen lernen und geistige Fortschritte machen will. Die Wichtigkeit dieses Punktes wird uns klar wenn wir einsehen, welche Verwirrung, welche Mißerfolge in all den Jahrhunderten der Christenheit dadurch entstanden sind, daß man den Menschen als eine Zusammensetzung von Schwachheit und Stärke, von Gutem und Bösem angesehen hat. Dieser falschen Annahme wegen arbeiten heutzutage Tausende von Christen an der hoffnungslosen Aufgabe, einen vermeintlich gut-bösen Menschen zu bekehren. Im Lichte der Christian Science wird es uns klar, daß dieses behauptete und behauptende Ich, daß das Ich, welches strauchelt und sündigt und infolgedessen krank wird und stirbt, nicht nur seinem ganzen Wesen nach schwach ist, sondern daß es auch überhaupt nicht stark gemacht werden kann. Es hat keinen Keim des Guten in sich, ist „fleischlich,” wie Paulus es ferner nennt, und ist deshalb unverbesserlich. Es kann nie und nimmer „selig” gemacht werden. Auf diese Weise lösen sich die Widersprüche des Apostels auf und die Bedeutung seiner Worte wird klar. Er sagt ferner: „Denn ich thue nicht, das ich will, sondern das ich hasse, das thue ich ... So thue nun ich dasselbe nicht, sondern die Sünde, die in mir wohnet.” Mrs. Eddy drückt denselben Gedanken mit folgenden Worten aus: „Die sterbliche Existenz ist ein Zustand der Selbsttäuschung und nicht die Wahrheit des Seins.” „Wir müssen diese Lüge ... zum Schweigen bringen, und zwar mit der Wahrheit des geistigen Sinnes.” „Das Verständnis der geistigen Individualität des Menschen macht denselben mehr wesentlich, mehr wirksam in der Wahrheit und befähigt ihn, Sünde, Krankheit und Tod zu überwinden” („Science and Health,“ SS. 403, 318, 317).
Die Geschichte der Menschheit sowie die eigene Erfahrung bezeugen die Schwachheit der Sinnespersönlichkeit. Selbst die Männer, welche Völker regierten und Weltreiche gründeten, wurden ein Opfer der Genußsucht und des Stolzes. Die „Mächtigen” standen in dieser Hinsicht auf derselben Stufe wie die Geringen. Es ist von jeher das Streben der Menschheit gewesen, den allgemein vorherrschenden sterblichen Verhältnissen zu entrinnen. Die Erklärung, daß dem Menschen, den Gott erschaffen hat, Schwachheit anhaften kann, hat dazu beigetragen, dieselbe zu befestigen und zu steigern, weil sie dadurch im Bewußtsein ein Teil der göttlichen Anordnung wurde. Je allgemeiner diese Ansicht herrscht, desto schwieriger erscheint das Überwinden der Schwachheit. Wenn wir hingegen im Einklang mit den Lehren der Christian Science einsehen, daß das „schwache” Ich nicht das wahre, nicht das echte Ich ist, daß es weder Prinzip, Aufenthaltsort noch Macht hat, dann erwachen die paulinischen Impulse, welche uns zur Behauptung geistiger Wahrheiten antreiben; dann wird die geistige Kampfesfähigkeit angeregt und der endgültige Sieg wird zur Gewißheit. Auf diese Weise zeigt sich die Stärke unseres geistigen Bewußtseins gleichzeitig mit unserer Erkenntnis der Schwachheit und Nichtigkeit des falschen Ich, des Ich der materiellen Sinne, und der scheinbare Widerspruch in den Worten des Apostels: „Wenn ich schwach bin, so bin ich stark,” löst sich auf und deren Bedeutung bestätigt sich in der menschlichen Erfahrung.
