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Die Beurteilung der kleinen Dinge.

Aus der Oktober 1909-Ausgabe des Herolds der Christlichen Wissenschaft


Das menschliche Denken möchte oft sein Ideal mit einem Sprung erreichen, ohne die zahllosen Schritte, welche zu demselben führen, in Erwägung zu ziehen. Die Sterblichen begeistern sich mit Gedanken an glänzende Taten, welche in großen Umrissen am Horizonte erscheinen, und werden oft erst durch bittere Enttäuschung daran erinnert, daß Bergeszüge viel weiter entfernt sind, als dem Reisenden vorkommt, und daß eine lange, beschwerliche Reise und viel schwieriges Bergsteigen bevorsteht, ehe der Gipfel erreicht wird.

Viele von uns entsinnen sich ähnlicher Erfahrungen in ihrem Studium der Christian Science. Die Befreiung von ernstlichen Störungen — das erste Resultat unsres Vertrauens auf die Wahrheit — reinigte die geistige Atmosphäre, so daß die völlige Freiheit vom Irrtum beinahe in unserm Bereich zu sein schien; wir hatten aber die Entfernung der geistigen Höhen unterschätzt. Wir machten uns damals keinen Begriff davon, wie viele Schritte wir aufwärts tun müssen, bis der Weg zwischen uns und dem Bewußtsein der geistigen Vollkommenheit des Menschen zurückgelegt ist; auch erkannten wir nicht die scheinbare Stärke der Bande, die uns an die Erde binden und deren zahllose Fasern uns mit den Annahmen der sinnlichen, menschlichen Natur verknüpfen. Diese Fasern müssen alle getrennt werden, ehe sich die Gedanken völlig über Fleisch und Sünde erheben können. Unsre ersten Erfahrungen brachten uns die innere Freiheit, vermöge deren wir mit Verständnis an unsern Problemen arbeiten konnten; die sanguinische Hoffnung, daß unsre Behauptung der Wahrheit sofort jeden Irrtum vernichten werde, mäßigte sich jedoch sehr bald, denn die Erfahrung lehrte uns, daß die Erlösung von allem Übel schwere, mühselige Arbeit bedingt und daß uns das göttliche Prinzip nicht nach unsern Wünschen, sondern nach unserm Verdienste belohnt.

Wir beweisen unsern wahren Wert oft am besten dadurch, daß wir bereitwillig und ernstlich an der Lösung unsrer kleinen Probleme arbeiten und in der Verborgenheit unsrer Gedanken unsre Beschäftigung suchen — nicht menschlicher Belohnung wegen, sondern um mehr Gottesähnlichkeit zu erlangen. Der Mensch kann nicht auf einmal zur absoluten Vollkommenheit heranwachsen. Ein solches Wachstum bedingt das Assimilieren der göttlichen Natur und zeigt sich nicht sowohl in der Ausführung einiger weniger Großtaten als in unserm Benehmen im täglichen Leben und unter dem beständigen Musketenfeuer des Feindes. Solange es uns Mühe kostet, gleichmütig zu bleiben, wenn wir gekränkt werden, inmitten häuslicher und geschäftlicher Sorgen und Schwierigkeiten unsre Seelenruhe zu bewahren, trotz Mißdeutung und Verachtung liebevoll, unter verdrießlichen und störenden Umständen wohlwollend und angesichts der Zornes und der Rachsucht zärtlich zu sein: so lange haben wir uns nicht zur natürlichen und selbsttätigen Frömmigkeit und Liebe, wie der wahre Christian Scientist sie reflektiert, emporgearbeitet. Unser eignes Ich hat sich noch nicht der göttlichen Leitung übergeben, solange es uns leichter wird, Böses mit Bösem anstatt mit Gutem zu vergelten, und solange wir den Einflüsterungen der Selbstsucht und andrer Irrtümer gehorchen, anstatt sie zum Schweigen zu bringen. In solchem Falle können wir unsre höheren Pflichten nicht erfüllen und müssen zuerst lernen, alle unsre Gedanken Gott zu weihen.

Wir können unmöglich die steilen Anhöhen erklimmen, so lange wir mit dem Leben im Tale zufrieden sind. Ehe uns die Lösung der schwierigeren Probleme unsrer Seligkeit möglich ist, müssen wir zahllose kleine Irrtümer beseitigen. Eine Fläche voller Flecken und Einbiegungen reflektiert nur wenig Licht. Sie muß erst gründlich geplättet und poliert werden, ehe sich ein Gegenstand vollkommen in demselben spiegeln kann. Unser Bewußtsein hatte wenig geistigen Glanz, als es unter den Einfluß der Christian Science kam, denn Sünde, Leiden und Sorgen hatten es sehr uneben gemacht. Viele dieser Zustände sind zwar beseitigt worden, so daß etwas von geistiger Widerspiegelung zu sehen ist; wir sind jedoch erst am Anfang der Arbeit. Um den idealen Zustand des Daseins zu erreichen, muß das Glätten und Polieren fortgesetzt werden, bis jede Unvollkommenheit verschwunden ist und bis nur Liebe unser Bewußtsein erfüllt und von demselben ausstrahlt.

Das geistige Verständnis, welches Berge ins Meer versetzt, ist nicht in einigen großen Sprüngen erreicht, sondern man erlangt dasselbe durch die treue Verrichtung der täglichen Arbeit und durch das ernste Bestreben, unter allen Umständen und in allen Verhältnissen, mögen sie noch so unbedeutend erscheinen, nach dem Guten zu trachten. Wenn wir die kleineren Anforderungen der Wahrheit übersehen und vernachlässigen, so sind wir nicht für die größeren bereit. Die kleinen Irrtümer, welche wir unbehindert durchgehen lassen, unsre Zugeständnisse zu Gunsten des Stolzes, des Zornes usw., unser Versäumnis der Nächstenliebe, sowie unser Gehorsam gegen das eigne Ich sind „die kleinen Füchse, welche die [unsre] Reben verwüsten.” Oft bemerken wir den Schaden erst dann, wenn wir in unsern Weinberg gehen, um die Früchte zu sammeln. Es ist vor allem nötig, daß wir die christlichen Tugenden üben, denn dadurch lernen wir über all die Einzelheiten des täglichen Lebens richtig denken. Auf diese Weise bewahren wir unsre Gedanken vor der Verheerung jener schädlichen kleinen Irrtümer, welche uns gar zu oft um unser Glück bringen.

Es gibt nichts traurigeres in der menschlichen Erfahrung als der Kummer und das Elend, welches man durch Freundlichkeit und Wohlwollen so leicht hätte verhüten können. Nicht die großen Sorgen drücken am meisten, sondern die Anhäufungen kleiner Kümmernisse, geringfügiger Meinungsverschiedenheiten, beständiger Nörgeleien und namenloser Mühseligkeiten und Ärgernisse. Ein kränkendes Wort, unüberlegt ausgesprochen, hat gar manches irdische Dasein bis zu seinem Ende verdunkelt, ja hat seinen Schatten oft noch weiter in die Zukunft geworfen, während doch ein freundlicher Blick und ein liebevolles Wort — die ja so wenig kosten — das innere Glück in ungetrübtem Zustande gelassen hätten. Nur ein Engel kann beurteilen, wie groß der Gewinn für die Erde wäre, wenn alle Menschen ihre Liebe mehr auf der Oberfläche tragen und dieselbe zum Maßstabe ihres Denkens und ihrer Reden machen würden.

Es mag uns sehr unbedeutend vorkommen, wenn wir einen Stein der Kritik oder des Vorwurfs in den spiegelglatten Teich des Bewußtseins unsres Nachbars werfen und dann unsrer Wege gehen; aber die daraus entstehende Störung mag Wellen verursachen, die das Ufer ringsum beunruhigen. Wir haben nicht daran gedacht, wie leicht es gewesen wäre, den Stein nicht zu werfen, das unfreundliche Wort nicht auszusprechen, das vermeintliche Unrecht nicht nachzutragen, und statt dessen Liebe zu beweisen. Im menschlichen Verkehr, wo Leute mit den verschiedenartigsten Ansichten und Temperamenten beständig miteinander in Berührung kommen, würde ein wenig mehr Öl der Nächstenliebe und gegenseitigen Nachsicht viele Reibungen und die dadurch entstehenden wunden Herzen verhindern. Unser geistiges Wohlergehen und unser inneres Wachstum erfordert unbedingt, daß wir selbst in kleinen Dingen einander nichts Böses zudenken.

Jesus hatte gewiß recht als er sagte: „Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu.” Unsre Christus-Ähnlichkeit zeigt sich nicht so wohl in der Verrichtung großer Dinge, als in der Treue gegen das Christus-Ideal, wie es im täglichen Leben zum Ausdruck kommen muß. Wenn wir mit der göttlichen Liebe in Verbindung stehen, so erheben wir uns täglich über die kleinlichen Eifersüchteleien und Plackereien des zeitlichen Daseins. Nur auf solche Weise können wir den alten Menschen ablegen und den neuen Menschen anziehen. In dem Maße, wie die Tugenden des Geistes in uns ungehindert zur Wirkung kommen, verschwinden die entgegengesetzten sterblichen Eigenschaften, denn es wird ihnen die Nahrung entzogen.

Die wahre Natur des Menschen ist zu allen Zeiten liebevoll, edelmütig und treu, und diese Eigenschaften kommen zum Ausdruck, sobald der Eigenwille und die Selbstgefälligkeit beseitigt sind. Ohne die Erkenntnis der Unwirklichkeit des Übels, wie Christian Science sie lehrt, sind die Sterblichen dazu geneigt, sich dem Übel zu unterwerfen, denn sie halten sich demselben gegenüber für machtlos. In der Kraft Christi können wir jedoch das Übel nicht nur in Schranken halten, sondern dasselbe sogar vernichten. Wir sollen allerdings falsche Neigungen unterdrücken; aber die wahre Bekehrung hat nur dann stattgefunden, wenn sich die Gedanken instinktiv dem Guten zuwenden, und wenn sie die Liebe so natürlich reflektieren, wie eine Blume ihren Wohlgeruch aushaucht. Dadurch, daß wir dem Übel aus dem Wege gehen, mögen wir zwar den Höhepunkt des moralischen Gesetzes erreichen; aber nur auf der Basis des einen Geistes und durch die Wirkung des Gesetzes Christi können wir dem Übel gänzlich entsagen und dasselbe völlig vernichten.

Durch das tägliche Überwinden der kleinen Übel gewinnen wir die Kraft, welche es uns ermöglicht, auch den größeren siegreich entgegenzutreten; wenn wir aber diese Arbeit vernachlässigen, so machen wir uns des geistigen Wachstums verlustig, welches zu unserm Erfolge so sehr nötig ist. Nicht durch eine plötzliche Entwicklung erreicht der Sprößling die Größe des Baumes, welcher den Stürmen zu widerstehen vermag, sondern durch ein tägliches, stetiges, ruhiges, fast unbemerkbares Wachstum.

Die Schüler der Christian Science müssen auf ähnliche Weise heranwachsen, nämlich durch tägliches Assimilieren und Nutzbarmachen der Liebe, Frömmigkeit und Unschuld, wenn auch der Fortschritt nur sehr, sehr langsam zu sein scheint. Durch ein solches Wachstum werden wir immer mehr fähig, den höheren Anforderungen in Bezug auf den Charakter und die Werke Christi gerecht zu werden.


Begeistere das menschliche Geschlecht erst für seine Pflicht, dann für sein Recht.

Copyright, 1909, by Mary Baker Eddy.
Verlagsrecht 1909, von Mary Baker Eddy.

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