Das größte Geschichtenbuch der Welt enthält wenige Erzählungen, die rührender und lehrreicher sind als diejenige von der Witwe zu Zarpath, deren Prüfung und Gehorsam der Christenheit dadurch bekannt wurde, daß ein Prophet sie um einen Bissen Brot bat.
Eine Hungersnot hatte die Armen und Schwachen in die äußerste Not gebracht, und der Tod war ihnen daher ein willkommener Gast. Auf dieses Ereignis bereitete sich die Witwe eben in aller Ruhe vor, als der Mann Gottes erschien und ihr sagte, ihre eignen Bedürfnisse würden befriedigt werden, falls sie ihm einen Bissen von dem noch übrigen Brot geben wolle. Sie vertraute seinen Worten und befolgte sie mit der größten Bereitwilligkeit, trotz des Jammerns ihres hungrigen Kindes, und bewies dadurch einen Glauben, der gewiß die Schwelle des geistigen Verständnisses erreicht hatte. Ohne Zweifel hatte sie gedacht, wie die meisten von uns unser ganzes Leben lang gedacht hatten, daß man zwar durch schwere Arbeit gute Dinge erlangen könne, daß dieselben aber viele Sorgen bereiten und leicht wieder verloren gehen können. Es ist so weit gekommen, daß viele Menschen der Ansicht sind, es sei schwieriger, erwünschte Güter zu behalten als sie zu gewinnen. Sie leben in steter Angst vor Verlust, wodurch der Genuß ihres Besitzes beständig gestört und die Regung zur Freigebigkeit in gewissem Maße unterdrückt wird, bis gar mancher, der „viele Güter” hat, mit schwerem Herzen in die Worte des Predigers ausbricht: „Es war alles eitel und Haschen nach Wind.”
Die Art und Weise, wie Elias die bedürftige Frau anredet, läßt erkennen, daß er einen Begriff vom Besitzen hatte, der in scharfem Gegensatz stand zu dem auch heute noch vorherrschenden diesbezüglichen menschlichen Denken. Er hatte eine der fundamentalen und alles umgestaltenden Lehren der Christian Science kennen gelernt, nämlich, daß aller wahre Reichtum im Bewußtsein zu finden ist und deshalb nie verloren gehen kann; daß er uns nicht genommen werden kann und wir ihn nie weggeben können. Obgleich wir mit andern Menschen teilen, so mangelt doch unserm Ölkrug nicht und unser Vorrat wird nicht kleiner. Brot und Öl dienen auch heute noch als Sinnbild der Versorgung unsrer allgemeinen Bedürfnisse; durch ein neues Verständnis geistiger Wirklichkeit haben wir jedoch jenen wahren Begriff vom Geben sowohl als vom Besitzen erlangt, den der Prophet hatte und vermöge dessen seine Handreichungen so echt und so zweckdienlich waren.
Jeder wahre Besitz ist ein ewiger Besitz. Er ist eine Übertragung von Gott auf den Menschen. Wenn er ein Teil unsres Bewußtseins geworden ist, kann er uns nie entwendet werden. Auf diese tröstende und inspirierende Wahrheit nahm der große Apostel Bezug als er triumphierend ausrief: „Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist unserm Herrn.” Wer die Bedeutung dieser Worte versteht, hat angefangen, sein Problem der Versorgung zu lösen. Er findet Freiheit, verspürt liebevolle Regungen, lernt wirkliche Bedürfnisse erkennen und kann deshalb so geben, daß andre gebessert werden und das eigne Herz mit unaufhörlicher Freude erfüllt wird. Es beginnt ihm klar zu werden, daß wenn er wahrhaftig und erfolgreich geben will, er das himmlische Manna haben und austeilen muß. Er muß ein Christus-Mensch sein; er muß sich so geben, wie sich der Meister gab.
Die Christenheit hat bisher angenommen, Jesus habe seinen materiellen Leib und sein materielles Blut zur Erlösung der Welt dargegeben; Christian Science hingegen enthüllt uns die großen Gaben, die durch Jesu Leib und Blut versinnbildlicht wurden, nämlich das Bewußtsein geistiger Wirklichkeiten — die Wahrheit und Liebe, welche sein eigen waren. Dieser höhere Begriff vom Haben und Geben befreit uns nicht nur von der Furcht vor Mangel und von dem Geiz und der Lieblosigkeit des materiellen Sinns, sondern sie lehrt uns auch, wie wir jeden Beitrag zur Erleichterung körperlicher Leiden zum Mitteilungs-werkzeug und Ausdruck jenes edleren Gebens machen können, welches das wahre Christus-Amt bildet und dasselbe durch Beispiele erläutert.