Heutigestags stutzt oft das sterbliche Denken, wenn es erkennt, wie unwissend es ist und wie gleichgültig es sich dieser Unwissenheit gegenüber benimmt. Viele erstaunliche Dinge geschehen täglich vor unsern Augen — Dinge, die vom Standpunkte der materiellen Sinne aus ebenso unerklärlich sind, wie die sogenannten Wunder früherer Zeiten. Diese alltäglichen Wunder geschehen so häufig und man hat sich so sehr an sie gewöhnt, daß man sie nicht in Frage stellt, obgleich man keine Erklärung für sie hat. Wer versteht z. B., wie und warum der in die Erde versenkte Same, der scheinbar so leblos ist wie ein Sandkorn, in kurzer Zeit anfängt Leben zu zeigen und sich zu bewegen? Wie kommt es, daß er dort unten in der Dunkelheit seine Hülle sprengt und seine Schosse durch die Erde und über die Oberfläche hinaussendet, den Gesetzen der Schwerkraft zuwider? Wer kann erklären, warum die Blätter grün sind; warum die eine Pflanze blaue, und die andre dicht daneben rote Blüten trägt, obgleich beide dem gleichen Boden entsprossen und von der gleichen Atmosphäre umgeben sind?
Wir leben in einem Zeitalter, das sich durch äußerst rege Tätigkeit auszeichnet. „Forschung” und „Fortschritt” sind die Losungsworte, welche man die ganze Marschlinie entlang hören kann. Viele wunderbare Entdeckungen und nützliche Erfindungen sind gemacht worden; weit bemerkenswerter ist jedoch die allgemeine Überzeugung, daß wir vor unbegrenzten Möglichkeiten stehen, die der Enthüllung harren. Bei der ewigen Entfaltung der Wahrheit lautet das erste göttliche Machtwort: „Es werde Licht”. Nach Licht sehnt sich und nach Licht strebt das fortschrittliche Denken. Da wir nun das Licht zur Erkenntnis der Wahrheit so sehr nötig haben, so ist es äußerst wichtig, daß wir etwas Bestimmtes und Zuverlässiges über dessen Natur und Tätigkeit kennen lernen. Ein jeder wird zugeben, daß alle Kenntnis, die diesen Namen verdient, auf der Wahrheit beruhen muß. Menschliche Annahmen können weder wissenschaftliche Kenntnis feststellen, noch dieselbe widerlegen. Einer jeden wahrhaft wissenschaftlichen Darlegung liegt ein bestimmtes, unveränderliches Prinzip zugrunde, welchem man es überlassen muß, von sich selbst Zeugnis abzulegen.
Da nun alle Wahrheit göttlich und nicht menschlich ist, so wird das Prinzip und Seine Tätigkeit mehr durch Offenbarung als auf dem Wege des Verstandes erkannt. Sobald wirkliche Offenbarung für das erkannt und anerkannt wird, was sie in Wirklichkeit ist, sieht man ein, daß sie mit allem richtigen Folgern genau übereinstimmt und uns dauernde Kenntnis bringt. Auf keine andre Weise kann besser gezeigt werden, wie töricht es ist, von einer nichtgeistigen Basis aus die Wahrheit zu suchen, als durch einen Hinweis auf die verschiedenen Versuche, das Licht zu definieren und zu erklären. Vor etwa zweihundert Jahren machte der große Philosoph Newton die Theorie geltend, daß das Licht aus unzähligen materiellen Teilchen bestünde, die von leuchtenden Körpern abgeworfen würden und den Weltenraum mit unberechenbarer Schnelligkeit durchflögen. Diese Erklärung wurde eine Zeitlang allgemein für richtig gehalten, bis nach und nach eine andre Theorie zur Geltung kam, nach welcher das Licht dadurch entsteht, daß in dem unsichtbaren Äther, der den Lehren der Physik zufolge den Weltenraum erfüllt, wellenförmige Schwingungen stattfinden. Diese Vermutung gilt heute noch sehr allgemein, obgleich in der neueren Zeit viele behaupten, Licht sei nichts weiter als das Resultat elektrischer Schwingungen.
So hat also eine jede dieser Erklärungen vom Lichte einer andern weichen müssen. Sie unterschieden sich dadurch von einander, daß eine jede weniger materiell war als die vorhergehende. Gewiß wird auch für die letztgenannte Erklärung die Stunde schlagen, und sie wird durch eine andre ersetzt werden. Mit der Zeit wird es sich zeigen, daß Elektrizität nicht der endgültige Vertreter oder Träger von Hitze, Licht und Kraft ist — daß sie dem vorgeschrittenen Denken ebenfalls zu materiell erscheinen wird. Deshalb wird man auch diese Theorie beiseite legen, wie irgendein andres Spielzeug, das nicht mehr befriedigt. Die Menschheit wird fortfahren einer jeden Theorie zu entwachsen, die auf einer materiellen Basis beruht, und diese Veränderungen werden in immer vollkommeneren äußeren Mitteln zum Ausdruck kommen. Zur Erläuterung sei auf das moderne Reisen, auf die neue Art der Übersendung von Botschaften und auf die verfeinerten Heilmethoden hingewiesen. Auf all den verschiedenen Stufen des menschlichen Bewußtseins macht sich der wachsende Begriff vom Guten frei vom Irrtum, indem er die Fesseln der Materie abstreift.
Was ist aus den früheren Theorien und den ihnen entwachsenen Ausübungen geworden? Sind sie irgendwo zu finden und dienen sie den Zwecken des Guten? Nein; sie gleichen vielmehr dem falschen Problem, welches das Kind von der Tafel ausgewischt hat, damit dasselbe einem besseren Versuch zur Lösung Raum gebe. Was hat man nun bis jetzt erreicht? Es sind wenigstens die ersten Schritte getan worden, um zu beweisen, daß diejenige Theorie in Bezug auf das Sein, die dauernd ist und günstige Resultate erzielt, ausschließlich auf Geist beruhen muß. So führt also der Irrtum durch wiederholte Enttäuschungen und Mißerfolge seine eigne Zerstörung herbei. Offenbar ist aber dieses Verfahren zur Lösung des Daseinsproblems sehr langwierig und — der sterblichen Vorstellung zufolge — mit vielen Leiden und häufiger Verzögerung verbunden. Warum also auf diesem weiten, beschwerlichen Wege bleiben? Warum nicht direkt an die Quelle aller wahren Erkenntnis gehen und dadurch Frieden erlangen?
Was würden wir von einem Menschen denken, der das Licht erforschen will und zu diesem Zweck auf seine Stube geht, die Türen und Fenster verschließt, die Vorhänge herunterläßt und sich bis über den Kopf in Decken einhüllt? Da doch alle Zeichen der Zeit darauf hinweisen, daß die Wahrheit geistig ist, warum sucht man sie nicht im Reich des Geistes, sondern in der Materie, die ja kein Prinzip und deshalb keine Macht hat und in Wirklichkeit keinen Raum einnimmt? Warum betrügt und hindert man sich denn auf diese Weise? Laßt uns die Fenster und Türen des Bewußtseins weit öffnen, damit das strahlende Licht der Wahrheit hereindringen und bei uns verweilen möge. Die in der Bibel öfter vorkommenden Worte, „ein großes Licht”, haben eine tiefe Bedeutung. Es ist dieser Ausdruck offenbar die wissenschaftliche Darlegung einer Tatsache, denn Wahrheit ist nicht eines der Lichter in der Welt, sondern das wirkliche und einzige Licht. Es ist so hoch über dem sterblichen Denken erhaben, daß im Vergleich zu demselben unser gegenwärtiger Begriff von materiellem Licht bare Dunkelheit ist. „Das war das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.” Mit diesen Worten bezeichnet die Heilige Schrift die strahlende Gegenwart von Leben, Wahrheit und Liebe.
Man hat behauptet, alle künstlichen Lichter, die wir haben, seien nur Erscheinungsformen des Sonnenlichtes, das aufgespeichert sei, um nach Bedarf in Anwendung gebracht zu werden. Wenn man jedoch der Sache auf den Grund geht, so verschwindet die Materie und man findet, daß selbst das Sonnenlicht zu künstlich ist; daß es eine Nachahmung des einen Lichtes der göttlichen Intelligenz, der Wahrheit darstellt. Deshalb sagt der Prophet Jesaja: „Die Sonne soll nicht mehr des Tages dir scheinen, und der Glanz des Mondes soll dir nicht leuchten, sondern der Herr wird dein ewiges Licht, und dein Gott wird dein Preis sein.” Ferner sagt Johannes in seiner Beschreibung von der Heiligen Stadt: „Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, daß sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm.” Das Lamm ist die geistige Idee der Liebe. Die wahre Idee von der Unendlichkeit und Allmacht der Liebe erleuchtet also die ganze Stadt und verscheucht die dunkeln Schatten der Unwissenheit, des Aberglaubens, der Furcht, der Sünde, der Krankheit und des Todes. Hier haben wir eine Erklärung vom Lichte, die niemals berichtigt zu werden braucht und der man nie entwachsen wird. Gerade weil dieses Licht unendlich ist, bleibt es stets unverändert und ungetrübt, und diese Unendlichkeit kennzeichnet es als das absolute Gute oder Gott — als das lebendige, unwandelbare, unsterbliche Prinzip des Seins. Es offenbart Gott als den höchstwaltenden Geist, als das Leben, dessen Namen oder Wesen Liebe ist. In diesem wahren Begriff vom Sein wird unvergängliches Wesen ans Licht gebracht, und der Tod ist verschlungen in den Sieg.
Die große Wahrheit, daß Geist die einzige Substanz des Menschen ist, vernichtet alles Unlautere im Denken, Reden und Handeln. Die Erkenntnis, daß die göttliche Liebe des Menschen alleinige Intelligenz ist, beseitigt Neid, Haß, Stolz und alle boshaften Gedanken, denn insoweit die Wahrheit verstanden wird, kann und muß sie demonstriert werden. „Wer da saget, er sei im Licht, und hasset seinen Bruder, der ist noch in der Finsternis.” „So wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit.” In Finsternis wandeln heißt also, auf falschen, materiellen Bahnen fortschreiten wollen. Wer da behauptet, er habe die höhere Offenbarung der Wahrheit erlangt, hält aber dennoch an den alten, irrigen Vorstellungen und Gebräuchen fest und verteidigt sie, der nimmt eine falsche Stellung ein, steht sich selbst im Lichte und hindert seinen Fortschritt. Wenn wir den materiellen Dingen Vertrauen schenken, der Gesellschaft die von ihr verlangten Zugeständnisse machen und uns an den einer falschen Anschauung von Gott entwachsenen Glaubenslehren anklammern, so sind uns keine schnellen Fortschritte im geistigen Verständnis möglich. Je mehr wir die falsche Vorstellung von Wohlgefühl und Schmerz im materiellen Empfinden von uns weisen, desto mehr wird sich unsre geistige Atmosphäre klären, so daß wir nicht nur Gottes unendliche Anforderungen an den Menschen, sondern auch die dem Geiste innewohnende Fähigkeit, den göttlichen Anforderungen gerecht zu werden, verstehen können.
Wer nicht gleich das volle Licht sieht, sollte seinem höchsten Begriff von demselben folgen, bis dieser ihn höher führt. Jesus sagte einst von Johannes dem Täufer, welcher der Vertreter der sittlichen Reinheit war: „Er war ein brennend und scheinend Licht; ihr aber wolltet eine kleine Weile fröhlich sein von seinem Lichte.” Wer seinen höchsten Begriff vom Rechten im Sittengesetz verkörpert sieht, der möge demselben folgen, bis er einen höheren Standpunkt erreicht hat. Der Jesus-Gedanke im menschlichen Bewußtsein, der sozusagen an der Grenze zwischen dem Wirklichen und Unwirklichen steht, weiß, daß die eitlen Schatten persönlichen Besitztums und Ansehens oder persönlicher Macht nichts an sich haben, was die Menschen erheben oder sie gut und glücklich machen kann; er erkennt, daß des Menschen Herrschaft allein in Geist, Gott ist. Dann erleuchtet und zeigt die Christus-Idee durch Demut, Gehorsam, Lauterkeit und Liebe den Weg, der höher und höher führt — bis zu dem göttlichen Erbe des absoluten Guten.
Durch die Lehre der Christian Science, die unserm Zeitalter durch unsre verehrte Führerin, Mrs. Eddy, geoffenbart worden ist, hören wir aufs neue „das prophetische Wort, und ihr tut wohl, daß ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheinet in einem dunkeln Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in euren Herzen.” Der „Tag”, welcher dem Bewußtsein eines jeden aufgehen wird, ist in unserm Textbuche „Science and Health“ (S. 584) als „der Strahlenschein des Lebens” und als „Licht” definiert. Es ist ein Licht, das nie angezündet wurde und nie dunkel wird, sondern dessen Klarheit in dem Maße erkannt wird, wie die Nebel des Irrtums verschwinden.