Es hat zu allen Zeiten Menschen gegeben, die mit Pilatus ausgerufen haben: „Was ist Wahrheit?” und die sich dann, wie er, abgewandt haben, weil sie die Antwort auf ihre Frage nicht annehmen konnten oder nicht annehmen wollten. Das Verlangen der Sterblichen nach Erkenntnis der Wahrheit ist nicht immer so groß wie sie denken. Um die Wahrheit ehrlich und ernstlich zu suchen, ist ein größerer moralischer Mut nötig, als die meisten Leute ihn besitzen. Eine der Schwachheiten des sterblichen Menschen besteht darin, daß er sein Unrecht nicht gerne eingesteht. Hierdurch wird sein Fortschritt sehr gehindert. Wohl gibt es da und dort Leute, die die Wahrheit um der Wahrheit Willen begehren, und die zu irgendeinem Opfer bereit sind, sie zu erlangen; jedoch die meisten können sich nicht dazu verstehen, das Gute an einer Lehre anzuerkennen, solange dieselbe nicht mit ihren vorgefaßten Ansichten übereinstimmt.
Wahrheit ist einzig und unveränderlich. Jede Idee oder Darlegung der Wahrheit muß notwendigerweise zu jeder andern Idee oder Darlegung derselben in harmonischem Verhältnis stehen. Höher als alle Glaubenslehren, Vorstellungen, Annahmen, Meinungen und Überzeugungen steht die Wahrheit selbst, ungestört und unbeeinflußt vom sterblichen Denken. Mag ein Mensch etwas auch noch so bestimmt für wahr halten: wenn es nicht wahr ist, so kann sein Glaube an dessen Wahrheit es nicht wahr machen. Wahrheit ist absolut und endgültig. Menschliche Annahmen können sie weder hervorbringen noch zerstören. Wahrheit muß verstanden sein, ehe sie ihre Segnungen mitteilen kann. Die Sterblichen denken zuweilen, eine Vorstellung genüge, wenn nur derjenige, der sie sich gebildet hat, ehrlich ist. Dem ist aber nicht so. Die Erfahrung lehrt vielmehr, daß nur das Verständnis von der Wahrheit die verheißene Freiheit bringt.
Wohl ein jeder ist überzeugt, daß die Wahrheit schließlich siegen und daß ihr Triumph der ganzen Menschheit unendliche Segnungen bringen wird. Die Disharmonien und Mißerfolge des Lebens sind Folgen des Irrtums, und diese bitteren Erfahrungen bereiten die Menschen vor auf die Erkenntnis und den Empfang der Wahrheit. Wenn der menschliche Fortschritt langsam, ja zuweilen beinahe unmerklich ist, so liegt der Grund hauptsächlich darin, daß die Sterblichen die Irrtümer in ihrem Tun und Handeln nicht einsehen und zugeben wollen. Dieses Widerstreben ist eigentlich höchst sonderbar, da doch zugestandenermaßen aller Irrtum erkannt und aufgegeben werden muß, wenn die völlige Wirklichkeit erreicht werden soll. Die Erkenntnis der Wahrheit ist für die Menschheit von der größten Wichtigkeit; deshalb sollten alle Menschen dieses Werk gemeinsam betreiben, mögen sie es auch in verschiedener Weise tun.
Weder Meinungsverschiedenheit noch einheitlich falsche Annahmen können zur Harmonie verhelfen. Jedoch haben wohl keine zwei Personen genau den gleichen Begriff von einer Sache. Wegen der gegenwärtigen begrenzten Erkenntnis des menschlichen Geistes sieht jeder Sterbliche die Dinge von einem etwas andern Standpunkte aus. Es gibt zahllose Annahmen in Bezug auf die Wahrheit; aber es kann bloß ein wahres Verständnis von derselben geben. Nur im Verständnis der Wahrheit kann man wahre Harmonie und dauernde Einheit finden. Die Sterblichen haben Einigkeit im Denken und Handeln dadurch herbeizuführen gesucht, daß sie Annahmen aufstellten, denen eine gewisse Anzahl Personen beistimmen konnten. Ein derartiges Verfahren genügt jedoch nicht auf die Länge. Das Mittel liegt nicht in der Einheitlichkeit der Annahmen oder Meinungen, sondern in der Erkenntnis der Wahrheit. Diese Erkenntnis kommt allmählich, und Fortschritt ist das Gesetz Gottes; jedoch steht die Entfaltung wahrer Ideen stets in vollkommener, in völliger Harmonie zu denjenigen, die bereits enthüllt sind. Die höhere Mathematik steht keineswegs im Konflikt mit den einfachsten Grundsätzen derselben. Wenn man also die erste Idee der absoluten Wahrheit erkannt hat, so bedeutet das einen Gewinn, der bleibend ist und durch nichts andres ersetzt werden kann. Alles, was uns die Zukunft bringen wird, wird als mit dieser ersten einfachen Darlegung der Wahrheit übereinstimmend erkannt werden.
Der Kluge lernt durch Beobachtung und Erfahrung. Er ist stets bereit, das Gute, was andre tun, anzuerkennen. Anstatt zu denken, er habe bereits die volle Wahrheit erfaßt, sieht er ein, daß er eben erst anfängt sie zu verstehen. Er ist so sehr damit beschäftigt, sein eignes Denken zu berichtigen, daß er keine Zeit hat und keine Regung verspürt, sich über die Unvollkommenheiten andrer aufzuhalten. Ein wahrer christlicher Charakter übt einen großen Einfluß aus. Bruderliebe und wahre Wohltätigkeit beschwichtigen den Streit der Sekten und offenbaren die erlösende Macht der Wahrheit. Diese christlichen Tugenden führen zu dem wahren Begriff von dem einen Gott, der Wahrheit ist.
Da nun alle, die ernstlich vorwärtsstreben, täglich zu höheren Begriffen von der Wirklichkeit emporgehoben werden, sollte nicht ein jeder ehrliche Sucher in den Worten Abrahams sagen: „Laß doch nicht Zank sein zwischen mir und dir ...; denn wir sind Gebrüder”? Auf diese Weise könnte ein jeder seinen eignen Weg gehen und von seinem eignen Standpunkte der Erfahrung und Beobachtung aus arbeiten, denn zuletzt wird sich ja doch die ganze Menschheit in dem wahren Verständnis von Gott, dem Menschen und dem Weltall vereinigen.
Die Christian Science ist die Wissenschaft des wirklichen Seins. Der Schüler dieser Wissenschaft erkennt gar bald, daß sein eigner Begriff von der Wirklichkeit noch lange nicht absolut ist und daß er deshalb gegen alle nachsichtig sein sollte, die ehrliche Absichten haben und zum Wohle der Menschheit beizutragen suchen. Obgleich er die großen Wohltaten anerkennt, die ihm durch die Christian Science zuteil worden sind, und dieselben bei jeder passenden Gelegenheit bezeugt, so achtet er doch die Ansichten andrer und gesteht ihnen dasselbe Recht zu, welches er beansprucht, nämlich das Recht, Gott in Übereinstimmung mit seinem eignen Verständnis von Ihm zu verehren — das Recht, in Zeiten der Not sich ganz auf Ihn zu verlassen.