Nicht durch den Unglauben, der die dargebotene Wahrheit zurückweist, wird der geistige Fortschritt am meisten gehindert, sondern durch die der Wahrheit entgegengesetzten Vorstellungen, welche das menschliche Bewußtsein erfüllen. In einem auf diese Weise voreingenommenen Bewußtsein hat die Wahrheit keinen Raum. „Warum kennet ihr denn meine Sprache nicht?” fragte Jesus, und gab dann selbst die Antwort darauf: „Denn ihr könnt ja mein Wort nicht hören.” Er redete zu denjenigen, die behaupteten Abrahams Kinder zu sein und die sehr stolz auf diesen Vorfahren waren, ohne jedoch den Geist zu erkennen, der in Abraham war. Ihre Liebe fürs Äußere und ihr Stolz ließ sie nicht die Lehre annehmen, die mit der Erleuchtung und dem Glauben Abrahams in Übereinstimmung stand. Später tat Jesus die sehr bestimmte Äußerung: „Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme.” Der Gegensatz davon würde lauten: Wer aus dem Irrtum ist, der hört nicht, weil er auf etwas andres als auf die Wahrheit hört. Johannes sagte in Bezug auf diejenigen, die mit dem „Geist des Irrtums” Gemeinschaft hatten: „Sie sind von der Welt; darum reden sie von der Welt, und die Welt höret sie.”
Unglaube ist also der mentale Zustand, der für irrige Ansichten so sehr empfänglich ist, daß das Wort der Wahrheit wie eine fremde Sprache klingt und ihr Bote keine freundliche Aufnahme finden kann. Der Zweifler mag sich zuerst der Wahrheit widersetzen, kommt aber in vielen Fällen durch redliches und ernstes Forschen zu neuen Überzeugungen. Der Ungläubige hingegen ist taub und unempfänglich. Daher muß bei ihm vor allem ein Erwachen und sich Aufraffen stattfinden. Seine Gedanken müssen gereinigt werden, wobei die in seinem Bewußtsein beherbergten falschen Annahmen die Flucht ergreifen. Paulus schreibt wie folgt von der echten Art der Betrübnis, welche Buße bewirkt: „Daß ihr göttlich seid betrübt worden, welchen Fleiß hat es in euch bewirket!”
Dem Ablegen des Unglaubens folgt eine solche Klärung des Denkens, daß falsche Annahmen als grundlos erkannt werden. Nachdem sie verschwunden sind, kommt das zum Bewußtsein, was eine feste Grundlage und eine dauernde Ursache hat. Der falsche Begriff vom Menschen, demgemäß derselbe eine Zusammensetzung von Empfindungen, Irrtümern, Krankheiten, Sünden und unbefriedigten Wünschen ist, weicht dem Verständnis von der Wahrheit des Seins. In dem Verhältnis wie die schöpferische Macht, welche wir Gott nennen und von welcher das Sein abhängig ist, klarer zum Bewußtsein kommt, lernen wir durch den Glauben das wahre Wesen des Menschen verstehen. Wir sind imstande, die ursächliche Verbindung zwischen dem Vater und dem Sohne zu erkennen. Es wird uns klar, daß letzterer das Sein und Wesen des Vaters zum Ausdruck bringt.
Wenn wir diese Frage vom praktischen Standpunkte aus betrachten, so sehen wir, daß ein jedes Beweismittel zu Gunsten der Macht des Übels, sei es nun irgendeine der hunderterlei Krankheiten, welche die Menschen für gefährlich halten, oder irgendeine der zahllosen Sünden, von welchen sie sich Genuß versprechen — daß ein jedes derartige Beweismittel in Wirklichkeit die Liebe und Allmacht Gottes leugnet. Der Glaube an irgendeine Krankheit bedeutet Unglauben gegenüber der unendlichen Gutheit. Wenn der Glaube vorhanden wäre, so würde Heilung stattfinden. Ebenso bedeutet jede Sünde Unglauben gegenüber der unendlichen Gutheit. Der Glaube würde Gerechtigkeit bewirken. Wenn die Menschen das Übel fürchten und dadurch krank werden, oder wenn sie das Übel lieben und dadurch sündhaft werden: was ist dies anders als Unglaube gegenüber der wahren Macht, die sich bei den Menschen als Glück und Gesundheit kundtut? Wie kann man nun dem Unglauben steuern; mit andern Worten: Wie kann man den Menschen aus dem Unglauben heraushelfen, damit ihnen die Erlösung zuteil werde, welche durch den Glauben kommt?
Der Unglaube kommt in gar verschiedenerlei Annahmen zum Ausdruck. Das Wort „Annahme” oder „Vorstellung” bedeutet hier die Überzeugung, daß etwas wirklich ist, was Gott nicht verursacht hat, sowie eine dieser Überzeugung entsprechende Erfahrung oder einen derselben entsprechenden Zustand. Der amerikanische Dichter James Whitcomb Niley erzählt eine ergreifende Geschichte von einem Manne, der die Vorstellung hatte, daß er nicht sprechen könne. Er stellte der Liebe und Überredungskraft seiner Familie die feste Überzeugung entgegen, daß es keinen Zweck habe, einen Versuch zu machen, seine Stimme zu brauchen. Endlich wurde sein Herz so von der Zärtlichkeit seiner Tochter bewegt, daß er die Schranken seiner Furcht und falschen Vorstellung durchbrach und ihr antwortete.
Im Fall des epileptischen Knaben, den sein Vater zu Jesu brachte, als dieser vom Verklärungsberge herabgekommen war, stand bei dem Vater das Maß des Glaubens an das Leiden seines Sohnes in genauem Verhältnis zu seinem Unglauben der heilenden Macht gegenüber. Sein Zweifel wurde dadurch bestärkt, daß die Jünger seinem Sohne nicht helfen konnten. Tatsächlich aber hatte sein starker Glaube an die Wirklichkeit und Unheilbarkeit der Krankheit seines Sohnes die Jünger dazu gebracht, so zu denken, wie er dachte; deshalb waren auch sie zur Zeit in einem Zustand des Unglaubens. Um dem Bedürfnis aller Beteiligten sowie dem Bedürfnis der ganzen Welt entgegenzukommen, zerlegte Jesus den Irrtum und gab dem Vater einen scharfen Verweis, als dieser seine Erzählung der Krankheitssymptome mit folgenden Worten beendete: „Kannst du aber was, so erbarme dich unser, und hilf uns.” Die Antwort Jesu zeigte dem Vater den Fall in einem andern Lichte: „Wenn du könntest glauben; alle Dinge sind möglich dem, der da glaubet.” Der Mann wollte die Heiler für den Mißerfolg verantwortlich machen; jetzt wurde ihm gezeigt, daß der Glaube zu der Macht führt, welche heilt, und sein Herz schmolz vor Liebe und Hoffnung, so daß er ausrief: „Ich glaube, lieber Herr; hilf meinem Unglauben.” Darauf erfolgte die Heilung des Knaben, und zwar war es eine dauernde Heilung, denn einer der Jünger berichtet: „Und der Knabe ward von derselben Stunde an gesund” [Züricher Bibel].
Die Jünger waren noch im Unklaren in Bezug auf den Mißerfolg. Sie hatten kein klares Verständnis von der Verfahrungsweise ihres Meisters und fragten ihn deshalb, warum sie den Teufel [das Übel) nicht hatten austreiben können. Jesus zeigte ihnen, daß ihr Fall der gleiche war, wie der des Vaters, welcher die Krankheit seines Sohnes für wirklich gehalten, dieselbe auch für sie wirklich gemacht und sie in denselben Zustand des Unglaubens gebracht hatte. „Warum konnten wir ihn nicht austreiben?” fragten sie. „Um eures Unglaubens willen”, antwortete Jesus mit der Entschiedenheit, zu welcher ihn die vollendete Demonstration berechtigte, und fügte hinzu: „So ihr Glauben habt als ein Senfkorn, so möget ihr sagen zu diesem Berge: Heb dich von hinnen dort hin! so wird er sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein.”
Seine weiteren Worte waren: „Aber diese Art fähret nicht aus denn durch Beten und Fasten.” Der gewöhnlichen Auffassung zufolge war das Fasten bloß ein sich Enthalten von Nahrungsmitteln überhaupt, oder von gewissen vorgeschriebenen Nahrungsmitteln. Offenbar kann weder Fasten noch Schwelgen, im materiellen Sinne verstanden, vom Unglauben befreien. Wenn wir jedoch bedenken, wie gierig der materielle Sinn die verschiedenartigen irrigen Vorstellungen in sich aufnimmt, welche das irrige menschliche Denken hervorgebracht hat, so wird er klar, daß ein Fasten nach solcher Übersättigung nur von Segen sein kann. Wie der Vogel, der den Kropf voll hat, faul und schwerfällig ist, so sind auch die Menschen, die von irrigen Vorstellungen erfüllt sind, matt und träge, und ihr Auge ist zu trübe, um die göttlichen Wirklichkeiten zu erkennen. Wer in der Weise fastet, daß er von solcher Sinnenbefriedigung abläßt, durch wahres Gebet in den Umgang mit Gott tritt und über die wahre Ursache von Glück und Wohlergehen des Menschen nachdenkt; wer den Urheber des Lebens, den Vater eines jeden heimkehrenden verlorenen Sohnes erkannt hat, der wird sicherlich im Glauben an das Gute wachsen. Auf diesen Vorgang weist Jesajas mit den folgenden Worten: „Der Gottlose lasse von seinem Wege, und der Übeltäter seine Gedanken, und bekehre sich zum Herrn”. Wenn wir die Worte Jesu erwägen, die er in Bezug auf das Seligwerden äußerte: „Bei Gott sind alle Dinge möglich”, so muß es uns klar werden, daß, wenn wir durch Fasten und Beten die falschen Annahmen aufgegeben und das neue Verständnis von der göttlichen Gutheit erlangt haben, wir für das Werk des Teufelaustreibens so ausgerüstet sein werden, wie die Jünger ausgerüstet zu sein wünschten.
Wenn wir falsche Vorstellungen austreiben, so kämpfen wir gegen den Unglauben. Das Bewußtsein darf jedoch nicht leer bleiben, denn sonst kehren die falschen Vorstellungen zurück und quälen uns dann mehr als je zuvor. Das tröstende Mittel, die Wirksamkeit des Geistes der Wahrheit, muß angewandt werden. Furcht hat Pein; die Sünde gleichfalls, obgleich sie oft mit trügerischem Genuß beginnt. Der Mensch, welcher des Trostes bedarf, muß sich von dem Tröster in die Wahrheit leiten lassen — in die Wahrheit bezüglich seines körperlichen Wohlergehens, seiner Brauchbarkeit, seines Glücks und seiner Bestimmung. Tut er dies, so hat er den rechten Glauben an Gott, und das Gute, welches er von Gott erwartet, wird ihm zuteil werden.
Als Beispiel sei auf den Fall des blinden Bettlers Bartimäus hingewiesen, der bei Jericho am Wege saß. Als Jesus mit seinen Jüngern die Stadt verließ, folgte ihm eine Menge Menschen, und als der Blinde die Schritte und das Geräusch hörte, fragte er, was vorgehe. Man antwortete ihm, Jesus von Nazareth gehe vorüber. Er hatte genug von dem Propheten aus Nazareth gehört, um zu glauben, daß derselbe „des großen Davids größerer Sohn” sei; deshalb „fing er an zu schreien und sagen: Jesu, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!” Die Leute, die vorausgingen, sagten ihm, er solle stille sein; ja, er erregte allgemeines Aufsehen, denn es heißt: „Viele dräueten ihn, er sollte stille schweigen.” Jedoch ließ er sich nicht entmutigen, denn es war dies der wichtigste Augenblick seines Lebens. Er schrie nur noch lauter, bis ihn der Meister hörte und zu sich rufen ließ.
Die Umherstehenden ermutigten ihn jetzt mit den folgenden Worten: „Sei getrost, stehe auf, er rufet dir.” Bartimäus stand nun auf und kam zu Jesu. Die folgende genaue Schilderung läßt erkennen, daß der Verfasser Augenzeuge war: „Und er warf sein Kleid von sich, stund auf und kam zu Jesu.” Indem er dies tat, bewies er nicht nur seine Aufmerksamkeit und sein Bereitsein, sondern er ließ auch alles dahinten, was er besaß. Für einen Bettler war der dicke Mantel fast eine Notwendigkeit, denn er bot Schutz vor der Nachtkälte. Er dachte nur an eins, nämlich, daß er sehend werden möge, und Jesus veranlaßte ihn, diesem Wunsch Ausdruck zu geben. Bartimäus glaubte, daß diese große Segnung ihm durch Jesum verwirklicht werden könne, und deshalb sagte der Meister: „Gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen.” Und völlig naturgemäß endet die Erzählung der Begebenheit mit den Worten: „Und alsbald ward er sehend, und folgete ihm nach auf dem Wege.”
Es ist klar, daß dieser Blinde nicht ungläubig war. Was er mit vollem Vertrauen erwartete, ward ihm zuteil, weil er der Demonstration des Meisters kein Hindernis entgegenstellte. Ganz anders war es, als sich Jesus in seinem eignen Lande befand; „er konnte allda nicht eine einige Tat tun; außer wenig Siechen legte er die Hände auf und heilte sie.” Selbst dem Meister erschien es unerklärlich, daß der Sinn seiner Nachbarn so sehr mit falschen Vorstellungen erfüllt war und sie deshalb für den Segen der Heilung keinen Raum hatten. Wir lesen nämlich, daß er sich über ihren Unglauben verwunderte.
Es fällt uns hier eine Begebenheit ein, welche einerseits die Tätigkeit des wahren Glaubens und andrerseits die Tätigkeit des falschen Glaubens oder des Unglaubens veranschaulicht. Ein kleiner Knabe verletzte sich beim Spielen den Fuß an einem rostigen Nagel. Auf dem Heimwege gab's Blut und Tränen, und verschiedene, die ihn begleiteten, sprachen von der angeblichen Gefährlichkeit einer solchen Wunde. Sie malten ihm ein solch schreckliches Bild von den möglichen Folgen vor, daß der Knabe bei der Heimkehr vor Furcht außer sich war. Selbst die zarte Aufmerksamkeit der Mutter konnte ihn nicht beschwichtigen. Die Eltern berieten sich, was wohl in der Sache zu tun sei. Keine auswärtige Hilfe war zu erreichen. Schließlich bat der Knabe seinen Vater, er möchte für ihn im Sinne der Christian Science arbeiten, und mit zaghaftem Herzen willigte dieser ein. Das Vertrauen war jedoch bald wieder hergestellt, und der kleine Bursche verfiel in einen sanften Schlaf. Der Vater arbeitete längere Zeit, um seinen eignen Glauben zu befestigen, daß Gott die einzige Macht ist und daß Er im Menschen Gesundheit und Harmonie ausdrückt. Am Morgen konnte man nichts mehr von der Entzündung sehen, und der Knabe war so vergnügt und munter und frei von Furcht, als ob er keine Verletzung erlitten hätte. Er wollte sich nicht einmal zu der allergewöhnlichsten Vorsicht verstehen; das Unglück des vorigen Tages war ihm scheinbar ganz aus dem Gedächtnis geschwunden. Erst später hörte der Vater von den Behauptungen des Unglaubens oder den Unglücksprophezeiungen, mit welchen besorgte Freunde das Bewußtsein des Knaben erfüllt hatten. Sie hatten keinen Trost zu bieten, weil sie Gott nicht als den Erlöser von jeder Art des Übels kannten und deshalb kein Vertrauen zu Ihm hatten.
Um die vielerlei falschen Annahmen auszurotten, welche den Unglauben ausdrücken, ist die Geduld eines Gärtners nötig. Diese Annahmen haben keinen himmlischen Ursprung und entwachsen keinem guten Samen. Daß sie überall zu wuchern scheinen, ist dem jahrtausendelangen Denken der Sterblichen zuzuschreiben. Die Kenntnis der Wandelbarkeit alles Irdischen sollte uns zum Tröste dienen. Unser Meister erklärte: „Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht pflanzte, die werden ausgereutet.”
Copyright, 1910, by Mary Baker Eddy.
Verlagsrecht 1910 von Mary Baker Eddy.