Es gibt wohl keinen Glauben, der so tief im Bewußtsein der Menschen wurzelt, wie der Glaube, daß der Tod unabwendbar sei. Wenn man eine Anzahl Leute fragen würde, ob es möglich sei, unter Umständen dem Tod zu entgehen, so bekäme man wohl von den meisten ein entschiedenes Nein zur Antwort. Auf die weitere Frage, warum dies ihre Meinung sei, würden wohl die meisten erwidern, es sei dies das Schicksal der Menschheit in vergangenen Zeiten gewesen. Der Tod sei offenbar das Erbteil der Reichen wie der Armen, der Hohen wie der Niedrigen, der Gerechten wie der Ungerechten — kurzum, aller lebenden Wesen.
Wie uns nach einigem Nachdenken klar wird, beruht der Glaube an die Unabwendbarkeit des Todes auf der Tatsache, daß er bis jetzt die Regel gewesen ist. Wenn ein Ereignis sehr oft stattfindet und nichts imstande zu sein scheint, es zu verhindern, so ist die menschliche Vernunft geneigt, es als unabänderlich und der ganzen Menschheit geltend zu betrachten. Die fortwährende Wiederkehr von Erscheinungen bildet die Grundlage zu gar verschiedenen Theorien. Der bloße Umstand, daß sich ein Ereignis unzähligemal wiederholt hat, gibt uns keine Basis zu Schlußfolgerungen. Andrerseits ist es vorgekommen, daß ein einziges Ereignis die Basis zu absolut richtigen Folgerungen lieferte. Diese Verschiedenheit in dem Wesen der Ereignisse oder Erscheinungen wird von den Logikern anerkannt. Der berühmte Engländer John Stuart Mill schreibt hierüber sehr ausführlich in seinem „System der Logik”. Über die Torheit, auf Grund von zahllosen Vorkommnissen Schlüsse zu ziehen, äußert er sich wie folgt: „Sämtliche Beobachtungen seit Anfang der Welt, welche die Ansicht bestätigen, daß alle Krähen schwarz seien, würden das Zeugnis eines einzigen glaubwürdigen Menschen, welcher behauptet, eine weiße Krähe gefangen und untersucht zu haben, nicht umstoßen können.”
Zahlreiche Beispiele dieser Art könnten angeführt werden. So glaubte man z. B. jahrhundertelang, die Erde sei flach, und westlich von Europa gäbe es kein Festland mehr. Und warum diese Annahme? Weil eben niemand das Gegenteil bewiesen hatte, wie es Kolumbus später tat, als er mutig nach Westen segelte, Amerika entdeckte und somit den Gesichtskreis der Menschen ungemein erweiterte. Die eine Seefahrt des Kolumbus widerlegte die bisherigen Anschauungen über die Gestalt der Erde vollständig, so daß alle Erdkarten der Welt abgeändert werden mußten. Als Kopernikus bewies, daß sich die Himmelskörper um die Sonne und nicht um die Erde drehen, führte er eine völlige Umwandlung der Ansichten in Bezug auf das Sonnensystem herbei, und brachte Ordnung in das Chaos, obgleich das gesamte sogenannte Beweismaterial, über das die Astronomen damals verfügten, die alten Anschauungen zu bestätigen schien. Ebenso ist uns vollkommen klar, daß die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist. Die Richtigkeit dieses Satzes ist nach dem ersten Beweis ebenso sicher festgestellt, wie nach dem tausendsten; er drückt eine Wahrheit aus, die überall und unter allen Umständen anwendbar ist.
Im Fall des fast universellen Glaubens an den Tod, der sich auf die scheinbar fortwährende Wiederkehr des Todes stützt, ist es klar, daß, wenn die Möglichkeit, den Tod zu überwinden, in einem Fall bewiesen ist, die Notwendigkeit des Todes dadurch widerlegt wird. Daß der Tod nicht unabwendbar ist, ersehen wir aus der Bibel. Wir erinnern an die Hinwegnahme Enochs, die Auffahrt Elias, die Auferweckung des Sohnes der Sunamitin, und die Befreiung der hebräischen Gefangenen aus dem feurigen Ofen. Im Neuen Testament haben wir die mächtigen Werke des Meisters. Er rief Lazarus aus dem Grabe hervor, erweckte die Tochter des Jairus, den Sohn der Witwe zu Nain und überwand schließlich selbst den Tod, indem er zuerst im Fleische erschien und sich zuletzt triumphierend über die körperlichen Sinne erhob und den materiellen Blicken entschwand. In seiner Botschaft an Johannes den Täufer erwähnte er als Beweis seiner göttlichen Sendung die Tatsache, daß er Tote erweckt habe. Seine Jünger folgten seinem Beispiel, indem sie die Kranken heilten, und es wird uns berichtet, daß Paulus den Eutychus vom Tode erweckte. Der Evangelist Johannes hatte einen so klaren geistigen Blick, daß er, wie wir in der Offenbarung lesen, einen neuen Himmel und eine neue Erde sah, wo es keinen Tod mehr gibt. Ferner erzählt der Historiker Gibbon, das Auferwecken der Toten hätte bei den Christen während der ersten drei Jahrhunderte nach der Himmelfahrt nicht zu den Seltenheiten gehört. Die Lehre der Christian Science wirft ein helles Licht auf diesen Gegenstand; sie zeigt, daß die Propheten und Nachfolger Jesu bei der Überwindung des Todes und andrer Übel in Übereinstimmung mit einem unveränderlichen Gesetz, dem Gesetz des göttlichen Prinzips wirkten. Sie erklärt, daß Gott Leben ist und daß der Mensch als geistiges Ebenbild und Gleichnis Gottes unsterblich sein muß. „Alles ist unendlicher Geist und dessen unendliche Kundgebung, denn Gott ist Alles-in-allem” („Science and Health“, S. 468). Dementsprechend beruht der Tod nicht auf einer richtigen Auffassung vom Sein. Er wird verschwinden, wenn das Wesen Gottes und des Menschen klar verstanden wird, wie der Glaube verschwand, daß die Erde flach sei, nachdem Kolumbus Amerika entdeckt hatte.
Jesus ist der eine glaubwürdige Zeuge von der Unwirklichkeit des Todes. Seine Demonstrationen zerrissen den Vorhang der Materie und bewiesen, daß der Glaube an den Tod eine Täuschung ist. Wenn in der ganzen Welt außer Jesu niemand im geringsten Grade die Wirklichkeit des Todes widerlegt hätte, so würden doch seine Demonstrationen, welche das universelle Gesetz des Geistes bewiesen, allein schon genügen. Sie würden schwerer wiegen als die zahlreichen Scheinbeweise zu Gunsten des Todes, wie sie die Menschheit vor Augen hat. Er sah die Torheit des allgemeinen Glaubens an den Tod und erkannte, daß das richtige Verständnis von Gott dem Menschen Unsterblichkeit verleiht. Deshalb erklärte er, diejenigen, die an ihn glauben (ihn verstehen), würden den Tod nicht sehen ewiglich. Ferner sagte er, die Erkenntnis Gottes und die Erkenntnis Jesu Christi, des Boten Gottes, sei ewiges Leben. Mrs. Eddy erklärt bei der Erörterung dieses Gegenstandes auf Seite 245 von „Science and Health“: „Unmöglichkeiten kommen nie vor.” Jesus hat bewiesen, daß der Tod überwunden werden kann.
In Bezug auf die beiden Arten von Voraussetzungen — diejenige, welche nicht als Basis zu richtigen Folgerungen dienen kann, obgleich sie durch unzählige Wiederholungen scheinbar bestätigt wird, und diejenige, bei der schon ein einziger Fall genügt, um ihre Nichtigkeit festzustellen — ergibt eine eingehende Prüfung, daß der zuerst genannten Voraussetzung kein unwandelbares, universelles Gesetz zugrunde liegt. Sie beruht vollständig auf dem Zeugnis der materiellen Sinne, während die andre Voraussetzung eine weitaus allgemeinere Anwendung hat, die Irrtümer des materiellen Sinnes berichtigt, und den Rang eines universellen Gesetzes einnimmt. Zur ersten Art gehört der Glaube an den Tod, zur zweiten gehört die logische Folgerung, welche die Unwirklichkeit des Todes darlegt. Wenn die Menschen das wahre Gesetz erkannt haben, wird es ihnen möglich sein, dasselbe zwecks Besserung ihrer eignen Verhältnisse und zur Veredlung der Menschheit anzuwenden. Was wären die Folgen, wenn sich die Menschen die von Kolumbus und Kopernikus erworbenen Kenntnisse nicht zunutze machen wollten? Sie würden in die Unwissenheit des Mittelalters zurücksinken. Die Menschen müssen das Gesetz Gottes, welches den Demonstrationen Jesu, der Propheten und der Apostel zugrunde lag, pracktisch anwenden, wofern sie die gleichen Resultate erzielen wollen.
Dank der absoluten Logik von „Science and Health“ wird die Unwirklichkeit des Todes allen klar, die nach der Erkenntnis der Wahrheit dürsten. Die Allheit Gottes und die unsterbliche Wirklichkeit des geistigen Universums bildet die feste Grundlage, auf welcher die Christian Scientisten stehen. Auf der selben Grundlage standen Jesus und die Apostel, als sie Sünde, Krankheit und Tod überwanden. Da Sünde und Tod unwirklich und unlogisch sind, und deshalb keinen Platz im Universum des Geistes haben, so ist es die heilige Pflicht aller Scientisten, rastlos an der Vernichtung derselben zu arbeiten. Der so hartnäckig sich behauptende Glaube an den Tod berechtigt keineswegs zu dem Schluß, daß das Denken sich nicht gegen den Tod auflehnen soll. Jesus überwand den Tod, und die wissenschaftliche Methode, gemäß deren er diesen wunderbaren Sieg errang, wird in den Schriften unsrer geliebten Führerin klar dargelegt.
Wir, die wir den Namen Christian Scientisten tragen, sollten unendlich dankbar sein, daß uns gezeigt worden ist, wie wir den letzten Feind überwinden können. Da Sünde, Krankheit und Tod in der materiellen Auffassung vom Leben ihren Ursprung haben, wissen wir, daß jede auch noch so geringe Demonstration, welche irgendeinen zu dieser Dreiheit gehörenden Irrtum zerstört, sein Teil dazu beiträgt, die Vernichtung alles Irrtums herbeizuführen, wodurch die Herrschaft des Geistes, des Lebens, der universellen Harmonie dem menschlichen Bewußtsein offenbart wird. So oft der treue Christian Scientist Sünde, Krankheit, Armut, Sinnlichkeit oder Haß vernichtet, wird in dem selben Maße der Glaube an den Tod geschwächt. Durch unerschütterliches Beharren in dem Bewußtsein der Unsterblichkeit des Lebens, selbst wenn uns der Tod mit seinen Ansprüchen entgegentritt, durch die Erkenntnis von Gottes Allmacht und des Menschen unsterblicher Widerspiegelung, sowie durch die unerschütterliche Behauptung, daß es außer Gott keine andre Macht gibt, erringen wir selbst dann einen großen Sieg, wenn wir angesichts der seit undenklichen Zeiten entstandenen Berge des Irrtums die Erfahrung, welche Tod genannt wird, auch nur verzögern.
Kein Christian Scientist sollte auch nur einen Augenblick der Einflüsterung Gehör schenken, daß der Tod ein Freund sei. Er ist kein Freund, sondern ein Feind, wie die Schrift erklärt — ein Feind, den man nicht fürchten, sondern vernichten soll, und zwar durch eine stets wachsende Erkenntnis des Lebens. Mit Recht erklärt Paulus: „So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist. Denn das Gesetz des Geistes, der da lebendig machet in Christo Jesu, hat [uns] frei gemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes.”
