Die Mäßigkeitsbestrebungen werden überall mit regem Interesse erörtert. Hinsichtlich der Mittel zur Förderung der Mäßigkeit gehen jedoch die Meinungen weit auseinander. Selbst unter den Anhängern der Christian Science weiß mancher nicht so recht, wie er sich zu dieser Bewegung stellen soll.
Die Christian Science lehrt eine unveränderliche, richtige Regel zur harmonischen Gestaltung aller Umstände und Verhältnisse im menschlichen Leben. Aus Seite 288 von „Miscellaneous Writings“ schreibt Mrs. Eddy: „Weisheit im menschlichen Handeln besteht darin, daß man mit dem beginnt, was unter den gegebenen Umständen dem Rechten am nächsten kommt, und von da aus dem Absoluten entgegenschreitet. ... Sowohl den allgemeinen wie auch den eignen Vorteil und Nachteil abzuschätzen, ist in jeder Lage und auf jeder Stufe des Daseins recht. ... Vom menschlichen Standpunkte des Rechten aus gesprochen, müssen die Sterblichen zunächst zwischen den verschiedenen Übeln wählen, und zwar von zwei Übeln das geringere. Die Anwendung wissenschaftlicher Regeln im menschlichen Leben scheint gegenwärtig auf dieser Grundlage zu beruhen.” Wie können wir nun wissen, was unter den gegebenen Umständen dem Rechten am nächsten kommt? Indem wir unser eignes Bewußtsein durchforschen und sicher feststellen, ob unsre Beweggründe auch lauter und selbstlos sind, und indem wir uns dann mit der Sachlage und mit den durch Besserungsversuche bereits erreichten Ergebnissen vertraut machen.
Wie schon erwähnt, herrscht gegenwärtig eine große Meinungsverschiedenheit über die Mittel zur Bekämpfung der Unmäßigkeit. Die Christian Science lehrt, daß das Übel erst gedacht werden muß, ehe es in die Tat umgesetzt werden kann; daß das Übel erst dann wirklich zerstört ist, wenn man es auf mentalem Wege überwunden und aus dem sterblichen Bewußtsein ausgetrieben hat. Manche Leute leiden dadurch, daß sie eine schlechte Angewohnheit eines Freundes oder Angehörigen in Gedanken festhalten, ebensosehr, wie das getäuschte Opfer selbst. Die Verfasserin verhalf einst einem Manne auf wissenschaftlichem Wege zur Überwindung der Trunksucht, die sich zum Säuferwahnsinn gesteigert hatte. Nach erstmaligem Beistand im Sinne der Christian Science hatte der Patient auch nicht das geringste Verlangen mehr nach geistigen Getränken. Seine Frau jedoch hatte unter der scheinbaren Wirklichkeit des Übels so sehr gelitten, daß ein Jahr verging, ehe bei ihr die Furcht vor der etwaigen Wiederkehr des üblen Verlangens schwand.
Die Welt im allgemeinen scheint noch nicht bereit zu sein, das göttliche Gesetz anzuerkennen, das den Menschen regiert und vermöge dessen Sünde, Krankheit und Tod überwunden werden. Sie geht jedoch in ihrem Streben, die Menschheit zu veredeln, in einer Weise vor, die ihrem höchsten Begriff vom Rechten entspricht. Dieser Sinn fürs Rechte ist der sichere Weg des Fortschritts, auf dem das Licht „immer Heller leuchtet bis auf den vollen Tag.” Paulus sagte: „Da ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, tat ich ab, was kindisch war.” Als Edison anfing, seine Entdeckungen auf dem Gebiete der Elektrizität und die daraus entstehenden Vorteile Praktisch zu verwerten, verstand er jedenfalls „wie ein Kind”; mit zunehmendem Wissen und Können legte er jedoch viele nicht praktisch bewiesene Theorien beiseite. „Zum ersten das Gras, darnach die Ähren, darnach den vollen Weizen in den Ähren.”
Die Christian Science kommt nicht als eine Religion des „Du sollst nicht”; sie kommt als eine Religion der Liebe, die jede Pflicht angenehm macht. Der Glaube an die Genüsse des sterblichen Sinnes ist jedoch so verlockend, die dadurch entstehende Verführung so listig, daß wir oft geneigt sind, wenn wir die Pflicht „ferne von dannen” sehen, zu sagen: „Wenn ich gelegene Zeit habe, will ich dich her lassen rufen.” Solange wir hinsichtlich der Lösung des großen Lebens- problems noch in den Kinderschuhen stecken, werden wir als Christian Scientisten oft die Notwendigkeit erkennen müssen, uns dem Gesetze des „Du sollst nicht” zum eignen Schutze wie zur Beschützung unsres Nächsten zu unterwerfen. In der Mehrzahl von Fällen menschlicher Verkommenheit — die unmittelbare Folge der Unterwerfung unter die Sinnlichkeit und Unmäßigkeit — ist der Geist wahrlich willig, aber das Fleisch schwach. Wer von einer materialistischen Gesinnung sittliche Kraft erwartet, wird sicher Enttäuschungen erleben. Die Ansicht, daß Gesetze in Bezug auf die Mäßigkeitsfrage keinen Zweck haben, weil sie übertreten werden, und daß es daher überhaupt unnötig ist, solche Gesetze zu machen, ist nicht stichhaltig. Wir müssen Gesetze zur Verhütung von Mord, Diebstahl und vielen andern Formen des Übels haben, wenn auch Verbrechen dadurch nicht immer verhindert werden.
Der Christian Scientist, der das Prinzip stets an erste Stelle setzt, wartet gern auf die Erfüllung seiner Hoffnung. Er tut die ersten Schritte, weil er weiß, daß dies recht ist; auch weiß er, daß er sie tun muß, wenn er höher steigen will. „Die zur Vollkommenheit führenden menschlichen Schritte sind unerläßlich” („Science and Health“, S. 25). Man bedenke, wie lange unsre Führerin auf die Erfüllung ihrer Hoffnung gewartet hat. Die menschliche Sprache hat das durch ihr unermüdliches Streben und geduldiges Warten hinterlassene Erbe noch nicht in Worten zu fassen vermocht, auch hat das menschliche Denken dasselbe noch nicht begriffen.
Die Annahme, daß der Mensch bei der Befriedigung seiner Leidenschaften Genuß empfinde, ist eine Art des Irrtums, während die Annahme, daß Stehlen dem Menschen Befriedigung bringe, eine andre Art ist. Beide haben den selben Ursprung. Sie entspringen dem Irrglauben, daß die Befriedigung der materiellen Sinne Genuß bringe. In diesem Irrtum sind auch die meisten derer befangen, die sich die Besserung der Menschheit zur Aufgabe machen. Besteht in unserm Lande oder Gemeinwesen ein großes Übel, so ist es die Pflicht des Christian Scientisten, zunächst die Wahrheit in Bezug auf den Zustand zu erkennen und dann seinen Einfluß auf jene Seite zu verlegen, die am ehesten zur Herbeiführung des Himmelreichs (der Harmonie) im menschlichen Bewußtsein geeignet ist.
Wir streben nach einem Ideal und sollten es mit Geduld und Ausdauer zu erreichen suchen. Führen denn die ersten Schritte einer großen Reform- bewegung sogleich zum ersehnten Ziel oder bringen sie uns dem Ideal sogleich näher? Jesus sagte: „Ihr seid das Salz der Erde.” Mrs. Eddy schreibt: „Die Mäßigkeitsbestrebungen erhalten durch die Christian Science Bewegung einen starken Antrieb: Mäßigkeit und Wahrheit sind Verbündete, und ihre Sache gedeiht in dem Maße, wie der Geist der Liebe den Kampf beseelt. Die Meinungen der Menschen hinsichtlich der Mittel zur Förderung der Mäßigkeit, d. h. der Enthaltsamkeit vom Genuß geistiger Getränke, mögen auseinandergehen. Etwas, was den Menschen berauscht, macht ihn zum Narren und führt zu körperlicher und geistiger Entartung. Starke Getränke sind ohne Zweifel ein Übel, und ein Übel kann man nicht mäßig brauchen; der geringste Gebrauch ist ein Mißbrauch; daher ist die einzige Mäßigkeit völlige Enthaltsamkeit („Miscellaneous Writings“, S. 288).
Die Selbstsucht bringt als Grund vor, daß das persönliche Interesse einem oft verbietet so zu handeln, wie das Gewissen es einem vorschreibt. Haben nicht persönliche Interessen in jeder großen Reformbewegung zurücktreten müssen? Persönliche Interessen bedrohen die Welt; nur wenn wir persönliches Interesse beiseite setzen und Liebe zur Menschheit beweisen, sind wir für den Segen bereit, auf den Jesus jenen Schriftgelehrten hinwies, der „so vernünftiglich” die Bedeutung der beiden vornehmsten Gebote erklärte, nämlich, daß „Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüte, von ganzer Seele und von allen Kräften, und lieben seinen Nächsten als sich selbst”, mehr wert sei, „denn Brandopfer und alle Opfer.” Darauf sprach Jesus zu ihn: „Du bist nicht ferne von dem Reich Gottes”. Wie viele ausübende Vertreter und wie viele Leser, die für die hohe „Berufung” reif sind, würden wir wohl haben, wenn jeder warten wollte, bis keine persönlichen Interessen mehr im Wege stehen? Die Beweggründe aller wahren Scientisten, die sich dem Heilungswerk widmen, sind gewiß selbstlos. Durch die Christian Science erkennen wir, daß unsre Hauptaufgabe in der Veredelung der Menschheit liegt.
 
    
