In der Epistel Pauli an die Römer lesen wir: „Darum, o Mensch, kannst du dich nicht entschuldigen, wer du auch bist, der da richtet; denn worinnen du einen andern richtest, verdammst du dich selbst; sintemal du eben dasselbige tust, das du richtest.” Einer der listigsten Irrtümer, in welchem die Sterblichen oft befangen sind, ist die Neigung, den Mitmenschen zu richten und zu verdammen. Wir sehen einen Fehler oder ein Schwäche bei einem andern so deutlich, daß, wenn wir nicht sehr auf der Hut sind, wir gar zu leicht in die Sünde der Tadelsucht verfallen, auf welche Paulus hinweist und die er mit so scharfen Worten rügt. Wenn wir andre richten, so zeugt das von Selbst- gerechtigkeit in uns selber. Wir gleichen dann dem Pharisäer, indem wir Gott danken, daß wir nicht sind „wie die andern Leute”. Paulus sagt uns, daß diejenigen, welche andre richten, eben dasselbige tun. Dies scheint auf den ersten Blick „eine harte Rede” zu sein, und wir sind geneigt, sie als eine bloße Redefigur zu betrachten, und ihr deshalb nur wenig Beachtung zu schenken; mit Hilfe des Scheinwerfers der Christian Science vermögen wir den Sinn der Worte des Apostels zu erkennen.
Die Christian Science lehrt uns, daß alles Übel ein Irrglaube, ein falscher Zustand des Bewußtseins ist. Mrs. Eddy schreibt in „Science and Health“ (S. 71): „Das Übel hat keine Wirklichkeit. Es ist weder eine Person, ein Ort noch eine Sache, sondern eine bloße Annahme, ein Wahnbild des materiellen Sinnes.” Wendet sich ein Hilfesuchender an uns um Beistand, in physischer oder moralischer Hinsicht, so müssen wir die Allheit Gottes, des Guten, sowie die Nichtigkeit der scheinbaren Krankheit und Sünde klar erkennen. Unsre Ausgabe besteht darin, die Allmacht und Allgegenwart der Wahrheit für uns selbst und für den Hilfesuchenden mit aller Bestimmtheit zu behaupten, auf daß der Irrtum durch die Wahrheit zerstört werde, wie das Licht die Dunkelheit verscheucht. Im Umgang mit unserm Mitmenschen lassen wir uns leider nur zu oft durch den Irrtum verleiten, in ganz andrer Weise zu handeln. Die kleinen Schwächen und Fehler unsres Nächsten scheinen uns oft sehr wirklich zu sein. Wir erwähnen sie gar zu leicht andern Leuten gegenüber, ärgern uns über dieselben und vergessen dabei, daß wir sie mit denselben Augen ansehen, wie unser Bruder, der die Disharmonie zum Ausdruck bringt. Die Disharmonie erscheint uns ebenso wirklich wie ihm, und wir haben uns also gegenseitig nichts vorzuwerfen.
Im Evangelium Matthäus lesen wir: „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gerichte ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.” Jede Sünde, welche wir bei unsern Nächsten als eine Wirklichkeit ansehen, wird früher oder später unser Bewußtsein zur Ausführung ihrer üblen Absichten benutzen. Der Pfad der Christian Science ist gerade, und wir dürfen auch nicht um eine Haaresbreite von demselben abweichen, weil wir sonst den zurückgelegten Weg zurückgehen müssen, und zwar oft mit dem Gefühl der Neue und des Kummers. Der ernste Schüler ist stets auf der Warte. Er läßt sein Bewußtsein unter keinen Umständen unbewacht; er ist stets vor dem heimlichen, schleichenden Irrtum auf der Hut.
Vor schweren Sünden hütet sich jeder rechtschaffene Mensch; die heimlichen, versteckten Sünden aber entwickeln sich unvermerkt, wenn wir gleichgültig werden. Sie dringen in unser Bewußtsein ein, ehe wir sie noch richtig erkannt haben. In den Fehler des Richtens und Verdammens verfällt man nur zu leicht. Die meisten Mißhelligkeiten im häuslichen Leben wie auch in kirchlichen Angelegenheiten haben ihren Ursprung in der Tadelsucht. Das kleine Unkraut, welches man heranwachsen läßt, führt Trennung und Uneinigkeit in der Familie und in der Kirche herbei. Wenn jedes individuelle Bewußtsein vor dieser Versuchung auf der Hut wäre und sie zerstören würde, sobald sie sich zeigt, so würde das sehr zum Aufbau der Sache Christi beitragen.
Jedes Kirchenmitglied kann den Lesern und Beamten der Kirchen dadurch helfen, daß es sich des Tadelns enthält. Auch die Beamten selbst müssen sehr wachsam sein, daß sie nicht in diesen Fehler verfallen. Wenn Meinungsverschiedenheiten entstehen, so sollte sich ein jeder ernstlich bemühen, das rechte Streben seines Mitarbeiters anzuerkennen und einzusehen, daß, wenn auch ein und dasselbe Problem wegen der Verschiedenheit unsrer Erziehung und unsrer Umgebung sich uns verschieden darstellt, doch ein jeder im Einklang mit seinem höchsten Rechtsgefühl handelt und unsre Sache, an der uns so viel gelegen ist, in jeder Weise zu fördern sucht. Anstatt engherzig, starrköpfig und eigenwillig zu sein, wollen wir lieber danach trachten, die Sache vom Standpunkte unsres Bruders aus zu sehen, möge er auch von dem unsrigen noch so verschieden sein. Dann werden wir die bestehenden Schwierigkeiten viel schneller und leichter überwinden und dadurch eine wertvolle Lehre in Bezug auf Geduld, Liebe und Barmherzigkeit erhalten. Ein jeder von uns ist ein nötiger Faktor in der Harmonie des Ganzen. Wie eine einzige falsche Zahl Verwirrung in das umfangreichste mathematische Problem bringt, so kann ein einziges Bewußtsein, welches sich als Werkzeug des Irrtums benutzen läßt, die Demonstration vollkommener Harmonie und Einigkeit verhindern.
Durch Tadeln und Aburteilen werden wir nie zur Befreiung unsres Bruders beitragen, sondern ihm dabei nur hinderlich sein. Wenn uns die Fehler und Schwächen unsres Mitmenschen besonders auffallen, so tun wir wohl daran, diese falschen Annahmen in unserm Bewußtsein zu vernichten, anstatt mit andern über 9. Jahrg. Nr. 7—(2) dieselben zu reden. Dadurch tragen wir einer des andern Last und erfüllen „das Gesetz Christi”. Die Lehren, welche den Christian Scientisten in ihrem Textbuch „Science and Health“ gegeben wurden, bringen nicht nur das höchste Ideal zum Ausdruck, sondern erklären auch die Heilige Schrift in einer neuen, höchst praktischen Weise. Möge unser Leben unsre Dankbarkeit gegen Gott für diese weitere Offenbarung seiner Wahrheit bezeugen. Wir müssen unser geistiges Heim so sorgsam bewachen, daß wir tagtäglich in Übereinstimmung mit den schönen Worten im Korintherbrief handeln: „Die Liebe ... deutet nichts zum Argen” (Züricher Bibel).
Tadelsucht verursacht Zeitverlust. Wir haben auch nicht einen Augenblick zur Besprechung des Irrtums übrig. Durch Klatsch und eitles Gerede wird unser Denken nur verwirrt und unsre Erkenntnis der Wahrheit verdunkelt. Wenn wir die Zeit, die wir beim Betrachten der Fehler und Schwächen unsres Nächsten verlieren, dazu verwenden wollten, seine Tugenden anzuerkennen, so würde es weniger Mißverständnisse und Zwistigkeiten geben.
Unharmonischen Zuständen gegenüber vergessen wir zuweilen die Ermahnung des Meisters: „Sündiget aber dein Bruder an dir, so gehe hin, und strafe ihn zwischen dir und ihm allein.” Wenn wir nur offen gegeneinander wären und denjenigen sofort aufsuchen würden, der uns, unsrer Ansicht nach, ein Unrecht zugefügt hat, so würden wir das Unrichtige in unserm beiderseitigen Denken viel schneller erkennen und bloßstellen, als durch Erörterung der Angelegenheit mit Außenstehenden. Dadurch, daß wir über den Irrtum reden, vergrößern wir ihn und befestigen ihn nur noch mehr in unserm Bewußtsein. Nie sollten wir uns durch Sentimentalität oder rein menschliche Zuneigung mesmerisieren lassen, so daß wir gegen das Übel nachsichtig werden. Es ist unsre Pflicht und unser Vorrecht, uns zu weigern, den Irrtum mit der Persönlichkeit unsres Mitmenschen in Verbindung zu bringen, und wir müssen dem Übel die Macht absprechen, ihn als Werkzeug zu gebrauchen.
Wenn die Versuchung an uns herantritt, uns über unsern Nächsten aufzuhalten und ihn zu richten, wollen wir sofort feststellen, was in unserm Denken nicht in Ordnung ist. Wir werden dann wohl in Demut erkennen, daß es uns nicht zusteht, andre zu richten. Wenn wir alle ernstlich bestrebt sind, unsern Mitmenschen gegenüber mehr Freundlichkeit und Liebe zu beweisen, so werden wir einen Irrtum vernichten, der schon viel Unheil angerichtet hat. Tadelsucht ist der Ausdruck menschlicher Ansichten. Wir wollen uns also der Leitung des göttlichen Geistes (Mind) überlassen — der Liebe, die „nichts zum Argen” deutet.
Liebe bleibet die goldene Leiter,
Darauf das Herz zum Himmel steigt.
 
    
