Das Erscheinen des Messias wurde den Menschenkindern durch die prophetischen Worte der Engel verkündet: „Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen.” Es war die frohe Botschaft von dem Kommen des langersehnten „Friedefürsten”, durch den die Menschen wieder in Besitz des Himmel- reiches kommen sollten. Als aber dreißig Jahre später Jesus mit seinem Erlösungswerk begann, indem er von dem Nahen des Himmelreichs predigte und das Volk von Krankheiten und Gebrechen heilte, vermochten verhältnismäßig wenige die von ihm verkündete Lehre zu erfassen, daß das Reich, dessen Erben sie waren, ein himmlisches Reich, ein Reich „inwendig in [ihnen]” sei, und daß die Feinde, die überwunden werden müßten, ehe sich Herrschaft kundtun könnte, die bösen Gedanken seien, die immer und immer wieder ihren Anspruch auf Raum und Macht geltend zu machen suchten.
Dieser Konflikt hat durch alle Zeiten hindurch stattgefunden, und obwohl es bei jedesmaliger Wiederkehr des Gedenktages der Geburt des Christuskindes eine Zeitlang scheint, als sei eine neue Ära des Friedens und der Zufriedenheit angebrochen, weil unsre Herzen für die Segnungen, die wir erhalten haben, so mit Liebe und Dankbarkeit erfüllt sind, daß sie überfließen, und wir unsre Freude und unser Glücksgefühl mit allen um uns teilen möchten, so versäumen wir doch, im Lauf des Jahres das Feuer der Liebe zu hüten. Zuletzt ist nur kalte graue Asche auf dem Altar übrig, auf dem stets das Feuer der Selbstaufopferung, der Versöhnlichkeit und milden Barmherzigkeit brennen sollte; auf dem das zarte Mitgefühl erglühen sollte, welches die Sünde rügt, den Sünder erhebt und das Übel nur aufdeckt, um es auszuweisen, damit die Gefangenen von ihren Fesseln befreit werden.
Wir verstehen den wahren Geist der Lehren unsrer Führerin nicht, wenn wir nicht erkennen, daß diese wunderbare heilende Wahrheit für alle Zeiten bestimmt ist; daß der Geist der Liebe und Versöhnlichkeit, der uns zur Weinachtszeit beseelt, zu andern Jahreszeiten ebenso hell leuchten würde, wenn wir, aus dem unendlichen Vorrat der göttlichen Liebe schöpfend, diesen Geist wach und rege erhielten. In „Miscellaneous Writings“ schreibt Mrs. Eddy, daß der Stern, der über Bethlehem schien und die Wahrheitssucher nach der Stelle führte, „da das Kindlein war”, an Glanz nichts eingebüßt hat; daß er „das Licht aller Zeiten ist”, das Licht der Liebe, welche heutigestags die unbefleckte Religion auf den Namen göttliche Wissenschaft tauft, ihr einen neuen Namen gibt, und den weißen Stein als Zeichen der Reinheit und Beständigkeit verleiht” (S. 320). Er, der vor neunzehnhundert Jahren von sich sagte, er sei „der Weg und die Wahrheit und das Leben”, ist immer noch unser Wegweiser, und sein „neu Gebot”, „daß ihr euch untereinander liebet, wie ich euch geliebet habe”, diese sanfte Ermahnung an diejenigen, die sich um ihn scharten, ist für uns heute nicht weniger bindend.
Warum lassen wir also das Wachtfeuer trübe werden? Warum wachen wir nicht an unserm Posten, sondern lassen den Feind, der stets nach einer Lücke in der Verteidigungslinie oder nach einer Spalte in unsrer Rüstung späht, sich in die Festung unsres Bewußtseins stehlen? Wir wissen, daß das Übel in Wirklichkeit ohnmächtig ist; daß es nur soviel scheinbare Macht hat, als wir ihm einräumen; daß wir die Verantwortung tragen für die scheinbare Herrschaft des sich als Sünde, Krankheit und Tod äußernden Übels, weil wir ihm Einlaß gewähren. Und doch lassen wir bisweilen die „kleinen Füchse” des Neides, der Mißgunst und der Tadelsucht — die Früchte des Strebens nach dem Blendwerk des Ansehens und der Macht — an der zarten Ranke, die uns mit unvergleichlicher Anmut und Schönheit umgeben würde, solange nagen, bis die Blüten und die Knospen unter dem verderblichen Einfluß welken und die Aussicht auf eine Ernte dahin ist.
Dieser vermeintliche Zerstörer des Friedens und des Glückes kann nur auf eine Art vertrieben werden. Wie durch den stetigen Zufluß klaren Wassers der schlammigste Pfuhl gereinigt wird, so kann das menschliche Bewußtsein, das von falschen Vorstellungen erfüllt ist — von Göttern, hinter deren Lockruf sich nur unheilvolle Absichten verbergen —, nur dadurch gereinigt und völlig gesund werden, daß wir, wie Mrs. Eddy sagt, Wahrheit auf den Flutwellen der Liebe einströmen lassen (siehe „Science and Health“, S. 201). In der gewissenhaften Anwendung dieser Lehre liegt der Sieg über das Übel, ja das endgültige Überwinden desselben. Wenn unsre eigne Mentalität die reinigende Wirkung der Wahrheit verspürt hat und von der Liebe überfließt, die „nichts zum Argen” deutet [Züricher Bibel], die „langmütig und freundlich” ist, dann können wir dem Übel, gleichviel in welcher Form es uns entgegentreten mag, unerschrocken begegnen, in der Erkenntnis, daß es da keinen Einlaß finden kann, wo Wahrheit und Liebe herrschen.
Jesus sagte zu seinen Jüngern: „Ihr seid das Licht der Welt”, und gebot ihnen, ihr Licht so leuchten zu lassen, daß die Menschen ihre guten Werke sehen könnten; d. h. sie sollten die Wahrheit, die er sie durch Wort und Tat gelehrt hatte, werktätig beweisen und Gott die Ehre geben. Wenn wir unsre Lampen instand setzen und brennend erhalten wollen, für das Kommen des Bräutigams bereit, so müssen wir täglich an die unerschöpfliche Quelle gehen, zum „Vater des Lichts”. Jeder kommende Tag wird uns dann mehr zum Lieben, zum Vergeben bereit finden. Wir verlieren nach und nach die Neigung, andern Übles zuzuschreiben, und erkennen immer mehr die Wahrheit. Wir suchen im Verkehr mit unsern Mitmenschen nur Liebe auszustrahlen, damit die demantenen Wände des Stolzes und der Leidenschaft, alles was mit dem Guten unvereinbar ist, aufgelöst werde. Da wir selber gar so oft irren und daher täglich um Vergebung unsrer eignen Übertretungen bitten müssen, so sollten wir nie die Bedingung aus dem Auge verlieren, die der Vergebung vorausgeht: „Wie wir unsern Schuldigern vergeben”.