Es ist schon oft bemerkt worden, und zwar mit Recht, daß die Christian Science sich dadurch auszeichnet, daß sie sich dem empfänglichen menschlichen Bewußtsein schnell und sicher entfaltet. Dem ehrlichen Sucher nach Wahrheit erscheint sie wie eine in der Entwicklung begriffene Rosenknospe, an der zunächst nur schwache äußere Anzeichen ihres wunderbaren Aufblühens wahrzunehmen sind. Wird sie aber gehegt und gepflegt, mit den belebenden Wassern innigen Verlangens täglich getränkt und von allen Schmarotzern — den hinterlistigen Annahmen der Materialität — freigehalten, so schwillt sie stündlich an, bis ein Riß den aufbrechenden Kelch verkündet und wir seine lieblichen Verheißungen in Erfüllung gehen sehen. Die ganze Herrlichkeit wird aber erst noch offenbar; die Kelchblätter sterblicher Begriffe fallen nacheinander ab, und schließlich erscheint die wohlgeformte Rose der Wahrheit in ihrer ganzen vollendeten Schönheit.
So scheinen auch die Gaben der Christian Science zunächst zu knospen, hierauf zu blühen und dann dem ehrlichen und gewissenhaften Sucher sich zu entfalten, ihm „einen neuen Himmel und eine neue Erde” offenbarend, in denen „das erste” oder die frühere Denkart völlig vergeht, um der geistigen Anschauung zu weichen, die „alles neu” macht. Nichts spricht deutlicher für eine Änderung in der Denkweise, als unsre neuen Anschauungen und unsre nunmehrige Auffassung von den verschiedenen Phasen des sterblichen Denkens. Waren wir früher gewohnt, manche mentale Eigenschaften mit Gewändern zu umhüllen, die wir aus unsern höchsten Begriffen von Liebe, Licht und Barmherzigkeit gewoben hatten, so reißen wir ihnen nun die Verkleidung unbarmherzig herunter und sehen sie in ihrer unverhüllten Häßlichkeit.
Man nehme z. B. die Charaktereigenschaft, die als Empfindlichkeit bezeichnet wird. Als wir unsrer früheren Denkweise zufolge uns oder andre als emfindliche Naturen betrachteten, hielten wir bewußt oder unbewußt Empfindlichkeit für ein Zeichen einer seiner organisierten, zarteren, von der der gewöhnlichen Sterblichen verschiedenen Gemütsart — für eine Eigenschaft, auf die immerwährend die zarteste Rücksicht genommen werden müsse, weil sonst der Betreffende durch ein Wort oder eine Handlung sich verletzt fühlen könnte. Wegen des Mesmerismus, den diese Vorstellung nicht nur über die Opfer der Empfindlichkeit, sondern auch über ihre Nebenmenschen ausübte, übersah man ganz und gar, daß solche Menschen nicht nur sich selbst unglücklich machen, da sie sich von allen natürlichen Freuden, die ihnen das Zusammenleben mit ihren Mitmenschen bietet, ausschließen, sondern daß sie auch allen Mitmenschen eine Last sein müssen.
Tatsächlich kann man kaum eine Charaktereigenschaft haben, die das Verhältnis zum Nächsten schwieriger gestaltet, als Empfindlichkeit. Der Mitmensch wird in ein Netz von Befürchtungen verstrickt, weil ja ein Wort, ein Blick, eine Bewegung, dessen Wirkung vorher nicht genau abgewogen wurde, in unvorhergesehener Weise verletzten, beleidigen oder irgendwie Anstoß erregen konnte. Und mag man dieser Eigentümlichkeit noch so sehr Rechnung tragen und mag man noch so vorsichtig sein (wodurch allein schon der gegenseitige Umgang aller Natürlichkeit beraubt und jenes feste Anknüpfen von Liebes- und Freundschaftsbanden, die keine Spannung zu fürchten brauchen, zur Unmöglichkeit wird), so darf man immer noch nicht sicher sein, daß man dem andern am Ende doch noch zu nahe getreten ist.
Wie ganz anders nimmt sich aber die Sache im Lichte der Christian Science aus. Wir sind über die Enthüllung betroffen und weichen unwillkürlich zurück. Die sorgfältigen Verkleidungen sind sämtlich von dem gepriesenen Götzenbild gefallen, und dessen wahres Wesen ist uns nun enthüllt. Wir erkennen es als den Inbegriff der Eigenliebe in ihrer listigsten und trügerischsten Gestalt, nämlich in der Gestalt des unpersönlichen Übels, gehüllt in die Gewänder einer zartbesaiteten Natur. Das Wort „Ich” ist an dem ganzen Körper des entblößten Götzenbildes sichtbar, und wir hören eine kristallklare Stimme, die Stimme der Wahrheit, die da ruft: „Sehet die Lüge.” Bis jetzt hatten wir uns „Sünder” und „selbstsüchtige Geschöpfe” genannt, doch mehr der äußeren Form wegen, denn aus ehrlicher Überzeugung oder Erkenntnis der eigentlichen Tatsache. Wir hatten uns dem unausgesprochenen aber nichtsdestoweniger bestimmten Gefühl hingegeben, wir seien doch im Grunde gar keine so schlechte Menschen, wir täten doch unser Möglichstes für unsern Mitmenschen, indem wir ihm unsre Zeit widmeten, ihn an unsern materiellen Gütern teilnehmen ließen und bestrebt seien, die Ermahnung des Apostels zu befolgen: „Lasset uns untereinander lieb haben”. Wir verschlossen uns aber vollständig der Tatsache, daß wir hartnäckig an unsrer Vorstellung von einem persönlichen Ich festhielten, und daß diese Vorstellung unser ganzes Denken und Handeln beeinflußte.
Was ist denn Empfindlichkeit andres als die Quintessenz des Selbstbewußtseins, das uns veranlaßt, alle Worte und Handlungen andrer direkt auf uns zu beziehen oder sie nach ihrer Beziehung zu unsern persönlichen Gefühlen zu beurteilen? Wir bedenken gar nicht, daß diese Leute möglicherweise von ganz andern Beweggründen geleitet werden, als wir denken, und daß wir dieselben vielleicht ganz falsch beurteilen, weil wir so sehr durch einen unbewußten Kultus der eignen Person in Anspruch genommen sind, daß wir uns in steter Furcht befinden, es könnte jemand die Absicht haben uns zu verletzen, zu übersehen, zu vernachlässigen oder direkt zu schädigen. In diesem Zustand beständiger Furcht sehen wir gar nicht, welche Plage es für uns selber wäre, wenn wir jedes Wort auf die Wagschale legen, jede Handlung überdenken müßten, damit nur ja niemand sich etwa verletzt fühlt.
So zeigt uns die Christian Science klar, wie im Lichte der Wahrheit und Liebe Empfindlichkeit nur die Neigung bekundet, alle Dinge einzig und allein von dem Standpunkt des eignen Ich aus zu beurteilen und bewußt oder unbewußt alle Dinge und Ereignisse auf eben dieses Ich zu beziehen. Wenn uns aber die Christian Science das unwirkliche Wesen unsres vielgeliebten Götzenbildes vorhält und uns zeigt, wie wir dasselbe umstürzen können, so zeigt sie uns auch, wie wir es durch die glorreichen Ideale der Wahrheit ersetzen und somit des wahren Glücks teilhaftig werden können; denn mit göttlich-starkem Arm vernichtet die Christian Science die falsche Annahme, auf der das eigne Ich fußt, und wir erwachen zu der Erkenntnis, daß nichts Wirklichkeit besitzt, was den einen und einzigen Geist (Mind) nicht wiederspiegelt. Wir finden, daß der Glaube an ein persönliches Ich einer unwirklichen Quelle entspringt, nämlich der ursprünglichen Lüge und Illusion, aus welcher die Annahme von einer von Gott getrennten Existenz hervorging. Diese falsche Annahme hat jeden Menschen sich selbst gegenüber zu einer kleinen Gottheit emporgehoben. Die Christian Science verscheucht diesen Nebel des Irrtums und offenbart die Wahrheit über den einen und einzigen Geist (Mind), Gott, sowie über den Menschen in seiner Eigenschaft als Wiederspiegelung.
Wer oder was könnte der Wiederspiegelung, dem Ebenbilde und Gleichnis des einen Vater-Mutter Gottes etwas anhaben? Kann ein Landstreicher durch Schmähungen einen König an seiner Würde schädigen? Was ficht den ehrenhaften Menschen das Schimpfen des Ehrlosen an? Wer verdient Mitleid: der Schmäher oder der Geschmähte? Welcher von beiden erleidet eine Einbuße? Doch wohl der blinde Schmäher, der die Eigenschaften des göttlichen Geistes (Mind) nicht wiederspiegelt und somit sein Geburtsrecht als ein Gotteskind mit Füßen tritt. Wem galt das mitleidsvolle Erbarmen Jesu Christi, als er am Kreuze hing? Galt es ihm selber, oder seinen Verfolgern? Konnten ihm ihre Schmähungen irgend etwas nehmen? Sie verschlossen sich nur selbst die Pforten des Himmelreichs; darum rang sich aus seiner Brust der mitleidsvolle Ruf: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.”
Für die sogenannte Empfindlichkeit gibt es nur ein wirksames Mittel, nämlich die Erkenntnis, daß „alles ... unendlicher Geist (Mind) und dessen unendliche Offenbarung” ist, „denn Gott ist Alles-in-allem” („Science and Health“, S. 468); daß es daher kein verletzbares Ich gibt, und daß das wahre Ich weder zu verletzen noch zu verwunden sucht, weil ja Gott und Seine Idee Alles ist.
Die Menschheit zusammen ist erst der wahre Mensch.—