Was den Mensch zum Ausdruck bringt, entspricht stets seiner Mentalität. Die Genauigkeit und Größe des individuellen Erfassens des Idealen — des Wesens dessen, was man sich als ein Vorbild und einen Quell der Inspiration denkt —, bestimmt die Beschaffenheit und den Wert des zum Ausdruck Gebrachten. Der Baumeister kann also nur das zum Ausdruck bringen, was ihm an architektonischen Gebilden vorschwebt. Er kann über dieselben ebensowenig hinausgehen, wie der Mathematiker bei seinen Berechnungen über seinen Begriff von Zahlen hinausgehen kann.
Dies alles trägt zur Erklärung der Tatsache bei, daß unser Begriff vom Leben und von dessen Bedeutung in engster Beziehung steht zu unserm Dasein, zur Freiheit, Zufriedenheit, Nützlichkeit und zum Fortschritt. Die meisten Menschen denken sich das Leben als belebte Materie, und meinen, es zerfalle in ebensoviel? unabhängige Wesenheiten, als es Geschöpfe oder organische Gebilde gibt. Es liegt in der Natur der Sache, daß diese Anschauung das Denken und den Denker in Materialität versenkt, wodurch sein Leben materiellen Bedingungen unterworfen wird. Es kann also niemand sein Leben mit der Materie in Verbindung bringen, ohne die Gültigkeit des sogenannten materiellen Gesetzes anzuerkennen, demzufolge das Leben dem Verfall und Tode unterworfen ist. Das Leben wird daher als eine vorübergehende Erscheinung, als eine schwache Flamme angesehen. Man betrachtet es als etwas, was Anfang und Ende hat, nach einer kurzen Spanne Zeit bemessen wird und auf immer dahin ist. Wenn diese Anschauung mit der Tatsache übereinstimmen würde, so wäre unsre Fähigkeit zu denken und zu hoffen, sowie unser Streben nach unerreichbaren Dingen höchst beklagenswert. Wir sehen die Ironie der Materie darin, daß ihr höchster Begriff über sie hinausgewachsen ist.
Ferner denken viele Menschen, das Leben sei vom Tode abhängig. Sie führen die angebliche Tatsache an, daß die Lebewesen von den höchsten bis zu den niedrigsten Formen einander zur Nahrung dienen, und daß der Fortschritt einer jeden Lebensform den Tod einer andern Lebensform bedingt. Sie behaupten daher, der Tod, selbst ihr eigner, sei eine normale Erscheinung. Im Fall des Materialisten ist dies durchaus folgerichtig; auffällig ist jedoch eine solche Anschauung bei einem ausgesprochenen Christen, weil sie dem Verständnis und der Demonstration der Worte des Meisters: „So jemand mein Wort wird halten, der wird den Tod nicht sehen ewiglich”, direkt entgegensteht und die ehrlichsten Bemühungen, welche auf die Erfüllung dieser Verheißung hinzielen, notwendigerweise wirkungslos macht.
Diesem Standpunkt der Welt gegenüber, den so viele Christen einnehmen, hat die Christian Science die Worte auf ihr Banner gesetzt: „Es gibt kein von Gott getrenntes Leben.” Der Ewige, Unendliche, teilt jeder Seiner Ideen und Kundgebungen Leben mit. Alles Leben kommt daher von Ihm und ist harmonisch. Nichts, was dem Verfall und dem Tod unterworfen ist, verdient den Namen Leben, und was in Gottes Augen des Lebens würdig erscheint, kann nie sterben. Die Worte der Heiligen Schrift: „Denn du wirst ... nicht zugeben, daß dein Heiliger verwese”, haben im Lichte der Christian Science Bezug auf jede göttliche Idee. Der „lautere Strom lebendigen Wassers”, den Johannes „von dem Stuhl Gottes und des Lammes” ausgehen sah, stellt nicht nur den Born der heilenden Liebe dar, sondern auch das Sein in seiner Gesamtheit, als einen beständigen Ausfluß der Tätigkeit des Geistes. Die Lehre Mrs. Eddys, daß alles „unendlicher Geist (Mind) und seine unendliche Offenbarung” ist („Science and Health“, S. 468), scheidet Leben und Substanz vollständig von der Materialität, und wir stehen somit vor einer umwälzenden und erlösenden Anschauung vom Sein.
Für den Menschen, dem die Tatsache eindringlich zum Bewußtsein kommt, daß alles Leben, einschließlich des eignen, untrennbar mit Gott verbunden ist und Seinem Wesen entspricht, ist das Alte wahrlich „vergangen, siehe es ist alles neu worden.” Es stellt sich augenblicklich ein erhöhtes Gefühl von Würde, Kraft, Sicherheit und Frieden ein. Das Verständnis von des Menschen göttlicher Beziehung zu Gott verscheucht die verwirrenden Schatten und irreführenden Bilder des falschen Sinnes, und die Erkenntnis der Möglichkeit, wirklich Nützliches zu schaffen, stärkt das Herz des Gläubigen und verleiht seinen Händen neue Kraft. Man versteht dann, wovon der hebräische Dichter beseelt war, als er sang: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil; vor wem sollte ich mich fürchten! Der Herr ist meines Lebens Kraft, vor wem sollte mir grauen!”
Wenn wir das göttliche Leben als die aktive Intelligenz erkennen, so erkennen wir dadurch unser wahres Selbst, unser Leben als identisch mit einem geistigen Bewußtsein, und verstehen die folgenden wundervollen Worte eines edlen Mannes: „Es gibt ein unendliches Leben, dieses Leben ist ewiges Leben, dieses Leben ist mein Leben.”