Die Worte des Lobes, mit denen Jesus des Scherfleins der Witwe gedachte, wird denen stets zum Trost gereichen, die scheinbar nur geringfügige Gaben darbringen können. Mancher glaubt wohl auch, einen herben Tadel gegen die Reichen aus der Erzählung herauslesen zu dürfen. So, wie die Begebenheit jedoch von Markus und Lukas wiedergegeben wird, enthält sie keine Verurteilung der Reichen, die „von ihrem Überfluß” [Züricher Bibel] einlegten, obschon es ganz deutlich heißt, „diese arme Witwe” habe „mehr in den Gotteskasten gelegt”. Die Erzählung ruft uns die folgenden Worte unsrer Führerin lebhaft ins Gedächtnis zurück: „Geben im Dienste unsres Schöpfers macht uns nicht arm, ebensowenig bereichert uns zurückhalten” („Science and Health“, S. 79).
Aus den vielen Fällen, in denen Jesus die Gedanken der ihn Umgebenden mit überraschender Deutlichkeit las — wobei er den empfänglichen Sinn segnete und ermutigte, die mentale Übertretung des Gesetzes aber schonungslos bloßstellte, selbst wenn kein äußerlich sichtbares Vergehen vorlag —, geht klar hervor, daß er äußere Handlungen nur als Begleiterscheinungen der mentalen Vorgänge und Zustände ansah und daher auf letztere das größte Gewicht legte. Mit der ihm eignen Beobachtungsgabe „schaute” Jesus, „wie das Volk viel Geld einlegte in den Gotteskasten”. Er wußte, daß dem Handeln der Leute das Denken vorherging, daß sie sich bewußt oder unbewußt auf irgendeine Versorgungsquelle verließen, und daß der innere Wert der Gabe durch das Maß der Erkenntnis der wahren Quelle alles Guten bestimmt wird.
Von den Reichen wird gesagt, daß sie viel gaben „von ihrem Überfluß”. Der Ausdruck „Überfluß” führt die Gedanken nicht empor zur Fülle göttlicher Güte, sondern deutet vielmehr auf die Annahmen von materiellem Reichtum hin, in deren Gefolge sich gewöhnlich die weitere Annahme befindet, daß es weder recht, vernünftig, noch angenehm sei, sich von materiellen Schätzen zu trennen. Man denke an den reichen Jüngling, der Jesus um Aufklärung über das ewige Leben bat, aber Anstoß nahm an der Aufforderung: „Verkaufe alles, was du hast”. Er hatte noch nicht erkannt, daß die ganze Vorstellung von Materialität durch das Verständnis von reiner Geistigkeit und durch Liebe zu derselben ersetzt werden muß.
Von der Witwe sagte Christus Jesus, sie hätte „von ihrer Armut alles, was sie hatte, ihre ganze Nahrung, eingelegt.” Die Christian Science rechnet Armut zu den unharmonischen Zuständen, die man überwinden muß. Die Armut der Frau wird hier offenbar nicht zum Gegenstand des Lobes gemacht, auch nicht ihr Scherflein, wohl aber der Umstand, daß sie alles „zu dem Opfer Gottes” einlegte, was sie hatte.
Zweifellos war dieser Frau das Wesen wahrer Substanz nicht ganz verborgen geblieben. Das Vertrauen auf den Reichtum Gottes, im Vergleich zu dem materielle Schätze als Armut bezeichnet werden müssen, kann der Frau nicht fremd gewesen sein. Allem Anscheine nach gehörte sie zu jener Klasse von Menschen, deren Paulus später in einem Briefe an Timotheus Erwähnung tut, nämlich „eine rechte Witwe, die einsam ist, die ihre Hoffnung auf Gott stellet, und bleibet am Gebet und Flehen Tag und Nacht. ... und die ein Zeugnis habe guter Werke”.
Indem sie von ganzem Herzen der geistigen Forderung nachkam, ungeachtet des Sinnenzeugnisses, brachte sie Gott eine größere Gabe dar (d. h. es tat sich bei ihr ein besserer mentaler Zustand kund), als bei denjenigen, die mit „ihrem Überfluß” der Annahme Ausdruck gaben: „Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts”, und nicht wußten, daß sie „elend und jämmerlich, arm, blind und bloß” waren. Die Christian Science hebt den Unterschied hervor zwischen dem Gedankenzustand, in welchem Gott, Geist, als die alles erfüllende Substanz erkannt und anerkannt wird — eine Substanz, die durch den Willen der Sterblichen weder verringert noch vermehrt werden kann —, und der mesmerisierenden Annahme, daß Materie Substanz sei, und daß man sie anhäufen müsse, um gegen Mangel geschützt zu sein.
Jeder Schüler der Christian Science macht die Entdeckung, daß sein wahres Selbst keineswegs dem Wesen entspricht, für das er sich gehalten hat. Dieses Wesen stellt sich ihm als ein Kampfplatz dar, auf dem die sogenannten menschlichen Kräfte und die göttlichen Wahrheiten zu kämpfen scheinen, wie schon aus den Allegorien, Prophezeiungen und Gleichnissen in der Heiligen Schrift ersichtlich ist. Er findet in seiner Mentalität ein törichtes Vertrauen auf Materie, ein fruchtloses Streben, Gott in materieller Weise geistig zu verehren. Er sieht ein, daß eine solche Mentalität weder bei Gott, noch letzten Endes bei den Menschen Gefallen findet. Er gewahrt jedoch noch eine andre Art der Mentalität, welche von der „Witwe” versinnbildlicht wird — eine Mentalität, die er mit frohem Herzen betrachten darf, nämlich den zerknirschten Sinn, der das Vertrauen auf das Materielle abgelegt hat und sich mit inniger Andacht der Betrachtung geistiger Wirklichkeiten widmet. Nun erlangt er auch den nötigen Mut, den Kampfplatz zu betreten, wo der mentale Konflikt stattfindet zwischen der Augenscheinlichkeit der geistigen Sinne und dem Zeugnis der materiellen Sinne (siehe „Science and Health“, S. 288), und er wird gestärkt durch die Verheißung: „Der Herr wird das Haus der Hoffärtigen zerbrechen, und die Grenze der Witwe bestätigen.”