Von allen Kirchen hat allein die Christian Science Kirche die persönliche Predigt abgeschafft. Anstatt auf die Persönlichkeit eines Anhängers dieser Lehre oder eines Repräsentanten der Bewegung sich zu stützen, fußt diese Kirchengemeinschaft, wie kaum eine andre, auf der Grundlage ihrer Lehre und wird durch dieselbe zusammengehalten. Keine Verfügung Mrs. Eddys, der Entdeckerin und Begründerin der Christian Science, liefert einen überzeugenderen Beweis für die ihr zuteil gewordene Erleuchtung und göttliche Führung, als die Einsetzung eines unpersönlichen Pastors für sämtliche Kirchen der Christian Science.
Jeden Sonntag hören die Besucher unsrer Kirche die Ankündigung, daß „die Bibel und das Lehrbuch der Christian Science unsre einzigen Prediger” sind („Erklärende Bemerkung” vor dem Lesen der Lektionspredigt). Diese Worte wirken wohltuend auf die müden Ohren und hungrigen Herzen, während das harrende Bewußtsein allmählich erkennt, daß hier zum mindesten keine Entfaltung der Redekunst stattfinden wird. Man denkt unwillkürlich an Paulus, dessen Predigten „nicht in vernünftigen Reden menschlicher Weisheit, sondern in Beweisung des Geistes und der Kraft” waren. Viele Menschen sind der Predigten überdrüssig, die sie über sich ergehen lassen mußten, und freudig begrüßen sie die inspirierte, „von der Wahrheit ungetrennte Predigt, die durch keine menschlichen Hypothesen verfälscht und beschränkt wird und göttlich autorisiert ist” („Erklärende Bemerkung”).
Trotz dieser von unsrer Führerin getroffenen weisen Einrichtung und trotz des Gefühls der Befriedigung, das dieser unpersönliche Pastor dem Christian Scientisten gibt, kann doch der ausübende Vertreter, Lehrer oder Anhänger der Christian Science in vielen Fällen der in der menschlichen Natur scheinbar tief eingewurzelten Neigung, andern zu predigen, zuweilen nicht widerstehen. Besonders bei solchen Mittwochabend-Versammlungen, in denen Zeugnisse nur spärlich abgegeben werden, hält es der eine oder der andre beim Eintreten einer Pause für seine Pflicht, der „Arche des Herrn” weiterzuhelfen. Ein solcher selbsteingesetzter Prediger denkt, der träge Fortgang der Versammlung sei auf Irrtum zurückzuführen. Gewöhnlich beginnt er mit einem Hinweis auf das allgemeine Schweigen, wodurch es nur noch fühlbarer wird, und dann sagt er der Gemeinde, was und wie die Christian Scientisten sein sollten, anstatt ihnen zu erzählen, was die Christian Science vollbringt. Den Besucher erinnert es an das Predigen in den älteren Kirchen, wenn er hört, wie Mitglieder der Christian Science Kirche ermahnt werden, freundlich, dankbar, gehorsam usw. zu sein, und es stellt sich bei ihm ein Gefühl der Enttäuschung ein. Er will vor allem wissen, ob die Kranken durch die Christian Science geheilt werden und ob die Lehre des Meisters mit den „mitfolgenden Zeichen” tatsächlich wiederentdeckt worden ist. Sein hungriges Herz ruft nach Trost, sei derselbe auch noch so gering, und von Leiden geplagt sucht er nach Linderung seiner Schmerzen. Er hat gehört, daß die Christian Science eine heilende Religion ist, und ist zu dieser Versammlung gekommen, um von ihren Anhängern Näheres zu erfahren. Wird er nicht mit Recht glauben, wir gäben ihm einen Stein statt Brot, wenn wir eine kleine Predigt halten, anstatt ein Zeugnis abzugeben?
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